eJournals Vox Romanica 52/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1993
521 Kristol De Stefani

HEINZ-PETER ENDRESS, Don Quijotes /deale im Umbruch der Werte vom Mittelalter bis zum Barock, Tübingen (Niemeyer) 1991, 126 p. (mimesis 11)

121
1993
H. Klüppelholz
vox5210397
Besprechungen - Comptes rendus 397 liegen allerdings nur auf englisch bzw. spanisch vor.Auf deutsch lagen bisher die ausführliche Geschichte der spanischen Literatur von HANS FLASCHE und die Darstellungen des spanischen Romans und des spanischen Theaters von VOLKER RoLOFF und HARALD WENTZLAFF-EGGEBERT, sowie des Theaters bis zum Ausgang des 19.Jahrhunderts von KLAUS PöRTL vor. Insofern füllt Christoph Strosetzki mit seinem kurzen Abriß über die Entwicklung der spanischen Literatur also durchaus eine Lücke im deutschen Sprachraum. A. Schor * HEINZ-PETER ENDRESS, Don Quijotes / deale im Umbruch der Werte vom Mittelalter bis zum Barock, Tübingen (Niemeyer) 1991, 126 p. (mimesis 11) Von der Erkenntnis ausgehend, daß in der Forschung zwar stets von den Idealen der literarischen Figur des Don Quijote die Rede ist, diese indes bisher in ihrem Zusammenhang und Zusammenspiel noch unerforscht geblieben sind, setzt sich Endress nun diese längst fällige Untersuchung zum Ziel.Der Ritter mit der traurigen Gestalt kündigt in einer bisher kaum beachteten großen Rede zum Goldenen Zeitalter erstmals den für ihn gültigen Wandel des Ritterideals an und führt dabei den Umbruch der Werte vom Mittelalter bis zum Barock vor. Daß der Autor nicht davor zurückschreckt, in einem Anfangswie auch einem Schlußkapitel bereits bekannte Größen der Cervantes-Forschung zu benennen, um die Einbindung seiner Neusichten in deren Komplexität und Dynamik verständlich zu machen, ist ihm zugute zu rechnen, richtet er sich doch ausdrücklich zudem an ein literarisch interessiertes Publikum (4). In einem mit dem bescheidenen Titel «Grundlagen» versehenen Kapitel führt der Verfasser mit hoher Treffsicherheit für das Wesentliche die Parodie der Lektüreerfahrung von Ritterbüchern (6), die Dichotomie von Idealismus und Narretei beim Helden (7), den Hintergrund des sozialen wie auch wirtschaftlichen Abstiegs Spaniens bis hin zum Beginn des 17.Jahrhunderts (8-9) 1, Dulcinea als eine nach neuplatonischer Liebestheorie geschaffene Figur Don Quijotes (12), die von eben diesem gesuchte aventura als Ausweis für dessen Umwertung von Alltäglichem in Außergewöhnliches (18) auf. All diese Begleitumstände bedingen die Wandlung eines Protagonisten, in der der Umschwung von individueller Verrücktheit in soziale Hellsichtigkeit zum Ausdruck kommt. So liegt der sonderbare Reiz dieses Klassikers der Weltliteratur darin beschlossen, gleichzeitige Entstehung wie auch Vertiefung dieser Figur im Roman erlesbar vorzuführen (22) 2 . Die literargeschichtliche Scheidung in Realität und Fiktion macht Cervantes Meisterwerk als erstes deutlich, nämlich dadurch, «daß in ihr Fiktion zum Horizont von Welt und wiederum Welt zum Horizont von Fiktion werden kann» 3• «Das Ideal des Goldenen Zeitalters» erfährt in einem gesonderten Kapitel Beachtung und wird als seit Hesiod bestehender Topos zur ältesten Vorstellung vergangener Vollkommenheit entwickelt (26). Auch wenn Don Quijote sich hier als Mitglied einer fahren- 1 Der interessierte Leser hätte an dieser Stelle wahrscheinlich tiefere Einblicke in den Niedergang der Habsburgischen Universalmonarchie bevorzugt, als es die bloße Auflistung gesellschaftsbezogener Schwierigkeiten gestattet. 2 Cf. R.KLOEPFER, «Selbstverwirklichung durch Erzählen bei Cervantes», in: SUSANNE KNALLER/ EDITH MARA (ed.), Das Epos in der Romania. Festschrift für Dieter Kremers zum 65. Geburtstag, Tübingen 1986: 145-64, bes. p.162. 3 H.R. JAuss, «Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität», in: D.HENRICHIW. lsER (ed.), Funktionen des Fiktiven, München 1983: 423-31, bes. p. 430. 398 Besprechungen - Comptes rendus den Ritterschaft versteht, die durch das Mittelalter geprägt ist, distanziert er sich jedoch in seinen Idealen von ihr, zumal er einer für die Renaissance «restaurativen Utopie» (36) das Wort redet. Daß diese ritterliche Vorstellung zu Beginn des 17. Jahrhunderts ein Anachronismus sein muß, ist nicht zu bezweifeln; denn das Barock-Publikum konnte dem Ganzen höchstens noch eine parodistische Note, wenn nicht gar eine gewisse Exotik abgewinnen 4 . Neu an diesem cervantinischen Konzept allerdings ist Don Quijotes Ideal einer «ritterlichen Utopie» (37). In einer zentralen, detaillierten Analyse zu den «Einzelidealen» (40-82), die sich von den seit der Antike üblichen Motiven abheben (40s.), werden Naturzustand, Gleichheit, Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit als für Cervantes' Helden erstrebenswerte Lebensziele genauestens untersucht. Hier tut sich des Protagonisten so weithin bewunderter «Realismus» (41) auf, der lediglich bei Ritterangelegenheiten kläglich versagt. Überzeugend vermag Endress im Detail nachzuweisen, daß des Ritters soziale wie auch moralische Ideale durchweg vom Renaissance-Denken geprägt sind, selbst wenn sie eine «Ironisierung vom Standpunkt des Barock» aufweisen. Letzterem Aspekt ist ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem die Brechung zwischen literarischem Anspruch und sozialer Wirklichkeit offenbar gemacht wird. Der Autor kann auf Grund der gewonnenen Erkenntnisse an dieser Stelle Irrtümer und Fehlsichten in der gängigen Lehrmeinung ausmachen und beheben (87-94). Dort, wo der spanische Autor die Absolutheit der Ideale bei seinem Protagonisten ironisch bricht, ist es ihm um den Analogieschluß zu tun, mit dessen Hilfe der Leser die Vergangenheit des Goldenen Zeitalters mit der Gegenwart des Eisernen Zeitalters zu vergleichen aufgerufen ist (95). «Das neue Ritterideal», das Don Quijote vertritt, gibt Aufschluß auf eine besondere Rezeption des Mittelalters durch die Renaissance. Diese Leistung, in die die Diskussion der Ideale einmündet, in seiner Untersuchung aufgezeigt zu haben, ist unbestritten Endress' Verdienst. Er veranschaulicht am Beispiel jene Säkularisierung, der sich das christliche Rittertum bei Cervantes unterzieht (100). Don Quijote löst das ritterliche Tugendideal aus seiner mittelalterlichen Individualisierung heraus, um es seiner Zeit gemäß zu generalisieren und zu radikalisieren (103). Wenn der Verfasser der vorliegenden Untersuchung ein abschließendes Kapitel mit dem Titel «Die fortdauernde Gültigkeit der Ideale» anschließt, tut er dies in dem Bewußtsein, daß es Cervantes mit dieser Rezeptionsleistung gelingt, jenen sonderbaren Reiz von Literatur zu schöpfen, der das Ideal als Ausdruck von Narretei zu brandmarken und zugleich als Prinzip von Hellsichtigkeit zu erheben versteht. Zwischen jenen beiden Ansprüchen entwickelt sich ein stetes Zwiegespräch, das in seinen niemals endenden Schwingungen die Ästhetik des wahren Kunstwerks ausmacht 5 • Vor dem Hintergrund der hier lediglich umrissenen vielfältigen Forschungsergebnisse muß die Untersuchung von Heinz-Peter Endress als eine vor allem gut lesbare, klar und deutlich strukturierte, in ihren Argumenten logisch aufgebaute Analyse bewertet werden. Daß dabei auch kulturelle Rezeption sowie literarische Ästhetik in den Blick kommen, kann dem Ganzen nur zum Vorteil gereichen. H. Klüppelholz * 4 Hierzu besonders die Beiträge von BAADER und BERGER in: R. R. GRIMM (ed.), Mittelalter- Rezeption. Zur Rezeptionsgeschichte der romanischen Literaturen des Mittelalters in der Neuzeit, Heidelberg 1991. 5 Cf. K. STIERLE, «Die Absolutheit des Ästhetischen und seine Geschichtlichkeit», in: W. ÜELMÜLLER (ed.), Kolloquium Kunst und Philosophie, Bd. 3: Das Kunstwerk, Paderborn 1983: 231-82, zu dieser durch das Werk selbst ausgelösten Weiterführung seiner Thematik.