Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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1996
551
Kristol De StefaniItalienische Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft
121
1996
vox5510016
Italienische Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft* 1. Die Frage, mit der ich mich heute befassen werde, betrifft die Definition des Status und der gegenwärtigen Ziele der Dialektologie, insbesondere der italienischen Dialektologie. In welchem Verhältnis steht sie zur allgemeinen Sprachwissenschaft und was kann sie zur allgemeinen Sprachwissenschaft beitragen? Dieses Verhältnis erscheint zunächst eindeutig, wenn wir uns an eine ganz traditionelle Definition halten, so wie wir sie etwa in einem Wörterbuch finden würden: Dialektologie ist ein Unterbegriff. Sie ist laut Duden eine «sprachwissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Erforschung der Mundarten befaßt», also eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft: eine Sprachwissenschaft, die sich mit Dialekten befaßt. Ihre Definition (und somit die Bestimmung ihrer Methoden und Ziele) hängt folglich zum Teil von der Definition ihres Objekts ab. Was ein Dialekt ist, weiß jeder, zumal es sich um einen Begriff des Allgemeinwissens handelt. Und dennoch ist es eine komplizierte Frage, wie der Dialekt sprachwissenschaftlich genau zu definieren sei und ob es solch eine Definition überhaupt gebe. Stark vereinfacht können wir sagen, daß Dialekt eine sprachliche Varietät ist, welche sich durch die sozialen Bedingungen auszeichnet, in denen sie gebraucht wird. Ein Dialekt hat einen beschränkten funktionellen Bereich innerhalb des sprachlichen Repertoires, d. h. innerhalb der Gesamtheit der sprachlichen Mittel, die einer Sprachgemeinschaft zur Verfügung stehen. Der Dialekt ist vom formellen Gebrauch ausgeschlossen und wird nur in lokalen Interaktionen verwendet. Als Varietäten des formellen Gebrauchs und für die Fernintegration in ausgebreiteten Sprachgemeinschaften werden im Gegensatz dazu Standardsprachen verwendet: sie werden in der Linguistik, die lokalen, vom formellen Gebrauch ausgeschlossenen Minoritätssprachen dagegen in der Dialektologie betrachtet 1 • Auch in der Forschungsgeschichte besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen den beiden Disziplinen: der Vater der italienischen Linguistik, G. I. Ascoli, gilt gleichzeitig als Begründer der italienischen Dialektologie. * Der vorliegende Text wurde als Antrittsvorlesung an der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich am 18. Dezember 1995 vorgetragen. Die diskursive Form der mündlichen Ausführung wird hier beibehalten. Es war mein Vorhaben, die geläufigen entgegengesetzten Anschauungen zusammenzufassen, um eine methodische Synthese darzustellen und Forschungsperspektiven aufzuzeichnen. Ein detaillierter Bericht über die gegenwärtige Debatte um das Thema war nicht beabsichtigt (cf. trotzdem einige Hinweise auf die reiche diesbezügliche Literatur, infra, N2). 1 Es handelt sich dabei um eine stark vereinfachte Unterscheidung, die jedoch zumindest auf westliche Gesellschaften annähernd bezogen werden kann. Italienische Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft 17 Gewiß, das unterscheidende Kriterium zwischen Sprache und Dialekt ist im wesentlichen außersprachlich. In diesem Sinne ist es ganz offensichtlich, daß eine Linguistik der Dialekte definiert man so die Dialektologie eine sich der außersprachlichen Lage besonders bewußte Sprachwissenschaft sein muß, sofern sie sich gewinnbringend mit einem Objekt auseinandersetzen will, das unter besonderen Beobachtungsbedingungen gegeben ist. 2. Die Dialektologie, wie wir sie soeben definiert haben, wird aber gegenwärtig von vielen in Italien als eine sich in einer Krise befindende Disziplin angesehen, und zwar aus mehreren und gegenteiligen Gründen 2• Den ersten Grund, der unterschiedlich orientierten Kritikern gemeinsam ist, könnten wir wie folgt zusammenfassen. Über die Dialekte meint man wissen wir schon viel. Seit Ende des vorigen Jahrhunderts wurde schon eine imposante Anzahl beschreibender Arbeiten verfaßt. Mittlerweile liegen Mundartgrammatiken und Wörterbücher sowie Sprachatlanten vor. Gerade in Zürich wurde z.B. von 1910 bis 1940 unter der Leitung von Jakob Jud der von uns italienischen Linguisten als echtes Denkmal verehrte Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz entworfen und realisiert. Kurz, die Gegebenheiten sind schon verfügbar: jetzt geht es ums Theoretisieren. Für die theoretische Vertiefung werden nun zwei grundsätzlich verschiedene Richtlinien vorgeschlagen (wie es in [la] gegenüber [lb] schematisiert ist): (1) «... die Gegebenheiten stehen schon zur Verfügung». Jetzige Ziele: a. «interne» Theoretisierung b. «externe» Theoretisierung Wer linguistische Studien in einem formell orientierten Paradigma betreibt (wie etwa dem der generativen Linguistik), konzentriert sich auf sehr spezifische theoretische Fragen und geht erst nachher auf die Suche nach dieser oder jener mundartlichen Gegebenheit, welche die theoretische Ausgangshypothese bestätigen kann. Als Beispiel für dieses Verfahren kann man viele Titel von kürzlich erschienenen Aufsätzen aufzählen, wie etwa Subject Clitics in the Northern Italian Vernaculars and the Matching Hypothesis (SuNER 1992). Was hier der Verfasserin tatsächlich wichtig ist, ist die Matching-Hypothese, das 2 «Krisis» ist so gut wie ein Stichwort in der aktuellen Debatte um das Thema. Cf. unter anderen VARVARO 1987a: 9 («gran parte della dialettologia italiana [forse dovrei dire della dialettologia romanza] soffre una crisi profonda»); ALINEI 1991: 207 («dialectology at the moment finds itself in an identity crisis»). Eine stets wachsende Literatur ist heute in Italien zur Bestimmung des Status und der heutigen Ziele der Dialektologie von verschiedenen methodischen Perspektiven her gewidmet. Es sei hier ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit etwa auf die Besprechungen in PELLEGRINI 1982, VARVARO 1987b sowie auf die in der Rivista ltaliana di Dialettologia 11 (1987), in Quaderni di Semantica 12 (1991: 207-333; «Whither Dialectology? ») und in RuFFINO 1992 gesammelten Aufsätze hingewiesen. 18 Michele Loporcaro ist etwas, das denen, die nicht in demselben theoretischen Rahmen engagiert sind, fast nichts sagt. Infolgedessen sind die Resultate einer solchen Theoretisierung meistens nur in einer innertheoretischen Perspektive von Bedeutung. Üblicherweise dient diese theoretische Tätigkeit nicht der Orientierung neuer Feldforschungen, und so bleibt eine Erweiterung der objektiven Kenntnisse über Mundartdaten meistens aus: obwohl es natürlich auch Ausnahmen gibt, werden vielmehr die Gegebenheiten benützt, die in der bestehenden Literatur schon zu finden sind. Die andere theoretische Richtung, auf die in (lb) hingewiesen wird, schlägt eine methodische Erneuerung der Dialektologie durch eine wesentliche Umbestimmung des Forschungsobjekts vor: nicht mehr der Dialekt bzw. ein Dialekt, sondern die äußeren, sozialen Bedingungen des Sprachgebrauchs sollen als Objekt gelten. Betrachtet man die tatsächlichen Bedingungen des Sprachgebrauchs, fällt sofort dessen unendliche inter- und intraindividuelle Variabilität auf 3 . Innerhalb dieser Variabilität ist es schwierig, einen Dialekt oder eine Sprache zu isolieren. Es sei sogar zweifelhaft, so wird argumentiert, ob die in der Linguistik gebräuchliche Isolierung solcher Entitäten wie Sprache und Dialekt überhaupt gerechtfertigt und gewinnbringend sei. Dies alles ist in den heutigen städtischen Sprachgemeinschaften besonders auffällig. Und in der Betrachtung solcher Gemeinschaften hat die eben umschriebene Forschungsrichtung Form angenommen, die als urbane Dialektologie oder Soziolinguistik bezeichnet wird. Darüber hinaus wird die Soziolinguistik in einigen extremen Auffassungen nicht nur als eine zeitgemäße Version der Dialektologie, sondern auch als die Linguistik schlechthin dargestellt. Das Forschungsobjekt der drei Disziplinen ist das gleiche, nämlich der Sprachgebrauch als ein Aspekt sozialen Verhaltens. Gemäß dem amerikanischen Soziolinguisten Dell Hymes, der als einer der bedeutendsten Vertreter dieser Auffassung gilt, soll der Aufbau von «a theory of speech as a system of cultural behaviour» als Ziel der Linguistik aufgefaßt werden 4 • Das Studium der sprachlichen Strukturen an sich wird hingegen als unbefriedigend bezeichnet. Das Forschungsverfahren muß ein anderes sein: One starts with a social group and considers the entire organization of linguistic means within it, rather than start with some one partial organization of linguistic means, called a «language». (HYMES 1974: 47) 5 3 Die Bestimmung der Dialektologie als Teildisziplin der Sprachwissenschaft wird heutzutage in sprachwissenschaftlichen Referenzhandbüchern und Lexika mehr oder weniger ausdrücklich angefochten. Neulich ist eine solche kritische Stellung durch TELMON 1994: 221 vertreten worden, gemäß dem die Dialektologie als Studium der linguistischen Variabilität primär zu definieren ist. 4 Bedeutenderweise heißt das Kapitel, woraus das im Text angeführte Zitat stammt, «Why Linguistics needs the Sociologist». s Selbstverständlich kann die vorliegende Zusammenfassung der Verschiedenheit der theoretischen Ansätze keineswegs Rechnung tragen, die unter den Wissenschaftlern, die sich selbst als Soziolinguisten bezeichnen, wie auch sonst überall besteht. Dem Begründer der urbanen Dialek- Italienische Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft 19 3. Die beiden Wege, die für die theoretische Erneuerung der Dialektologie vorgeschlagen werden, gehen von entgegengesetzten theoretischen Voraussetzungen aus. Es geht nämlich um die Alternative zwischen zwei philosophischen Grundeinstellungen. Gemäß der ersten Einstellung, die man als vom Realismus im philosophischen Sinne geprägt definieren kann, existiert die Sprache, d. h. sie ist eine «gute» Abstraktion; sie hilft dem Verständnis sprachlicher Erscheinungen; sie kann durch das Sprachverhalten der Sprecher untersucht werden. Nach der zweiten, vom Pragmatismus oder kulturellen Relativismus geprägten theoretischen Einstellung hingegen, existiert so etwas wie die «Sprache» nicht, d. h. es handelt sich um eine «schlechte» Abstraktion; sie hilft nicht, sondern hindert das Verständnis sprachlicher Erscheinungen; die einzige Realität, die man erforschen kann bzw. muß, sind die Sprecher und ihr konkretes Sprachverhalten. 4. Um heute ein befriedigendes Forschungsprogramm im Bereich der italienischen Dialektologie zu entwerfen, erscheint es höchst wünschenswert, die positiven Aspekte der beiden Einstellungen miteinander zu versöhnen; was heißt, die Beachtung der linguistischen Struktur einerseits und des sozialen Kontextes andererseits beizubehalten, aber ohne die Nachteile und die Übertreibungen der beiden Grundeinstellungen zu übernehmen. Man sollte nämlich einerseits vermeiden, daß die Beachtung der Sprache an sich zur Bearbeitung von reinen kartesischen Ideen wird, bloß metaphysisch gewährleistet und ohne direkten Bezug auf die Empirie; und man sollte andererseits auch vermeiden, daß die Beachtung des sozialen Kontextes letztendlich zur Auflösung des Objekts Sprache führt und somit der Linguistik ihr eigenes Forschungsobjekt entzieht 6• Kurz, es wäre eine Versöhnung zu wünschen, die eine neue und theoretisch bewußte Beachtung des Empirischen ergäbe. Dieses Vorhaben besitzt sowohl theoretische wie auch empirische Voraussetzungen. Auf theoretischer Ebene wird vorausgesetzt, daß der Wert einer Theorie nach Maßgabe der Daten gemessen werden kann, deren Entdeckung und Analyse sie ermöglicht. Eine weitere Voraussetzung ist anderererseits rein operativ: es wird angenommen, daß es sich heute noch lohnt, empirische Forschung im Bereich der italienischen Dialekte durchzuführen, daß sie immer noch etwas anzubieten haben. tologie, William Labov, wird von HYMES 1974: 196 vorgeworfen, er habe nicht eine echte Soziolinguistik («socially constituted linguistics»), vielmehr bloß eine «socially realistic linguistics» ausgearbeitet. Labovs Vorhaben, die klassische linguistische Frage des Sprachwandels «with data from the speech community» wiederaufzunehmen, erscheint Hymes als ein zu beschränktes und durchaus unbefriedigendes. 6 Dadurch wird überhaupt nicht gemeint, die Verdienste und die Wirksamkeit der beiden verglichenen Einstellungen und Forschungsverfahren an sich in Abrede zu stellen. In diesem Zusammenhang geht es vielmehr nur darum, eine Definition der (italienischen) Dialektologie und der Vorteile (und Nachteile), die für diese aus der Interaktion mit anderen Disziplinen entstehen können, vorzuschlagen. 20 Michele Loporcaro Im zweiten Teil meiner Ausführung werde ich zu zeigen versuchen, daß diese empirische Voraussetzung tatsächlich zutrifft. Um das zu beweisen, werde ich im folgenden eine Auswahl von Gegebenheiten aus dem Bereich der italienischen Dialekte diskutieren. Sie haben gemeinsam, daß sie einerseits typologisch bemerkenswert sind und andererseits erst vor kurzem beschrieben wurden. Es sind zwar an sich Gegebenheiten, sie waren aber bis vor kurzem noch nicht gegeben, d.h. sie standen nicht den Linguisten zur Verfügung, die sich mit der vergleichenden Grammatik der romanischen Sprachen beschäftigen oder die allgemeine sprachtypologische Studien durchführen. Auf diesem ideellen Spaziergang durch «das Land, wo die Zitronen blühen», können Sie mir mit Hilfe der Karte im Anhang folgen, wo die Lokalisierung der Mundarten angegeben wird, denen die unter den betreffenden Nummern bzw. Paragraphen angeführten Beispiele entnommen sind. 5. Ich werde mich hier auf die verbale Morphologie und Syntax beschränken. Zunächst werde ich auf die Opposition der finiten und infiniten Formen des Verbums eingehen. Das Verbalsystem der indogermanischen Sprachen wie das von vielen anderen Sprachen und Sprachgruppen basiert auf einer solchen ganz deutlichen Opposition, die durch eine Reihe von Merkmalen charakterisiert werden kann. Von diesen Merkmalen betrachten wir nun die in (2) hervorgehobenen: (2) a. die Verbalflexion der finiten Formen weist keine Genuskongruenz mit dem Subjekt auf; b. die Verbalflexion der infiniten Formen weist keine Personkongruenz mit dem Subjekt auf. Es gibt natürlich auch Sprachen bzw. Sprachfamilien, in denen die Merkmale in der Verbalflexion eine andere Verteilung haben. So gehört z.B. in den semitischen Sprachen der Ausdruck des Genus bereits zur Morphologie der finiten Verbformen, wie Sie in dem unter (3) angeführten Paradigma des hebräischen Präteritums von 'schreiben' beobachten können; in der zweiten Person z.B. wird die Form katavta 'du schriebst' nur dann verwendet, wenn ein Mann angesprochen wird. (3) Person 1. katdv-ti m.=f. 'schrieb' 2. katdv-ta m. * katdv-t f. 'schriebst' 3. katdv m. * kat: JV-d f. 'schrieb' 4. katdv-nu m.=f. 'schrieben' 5. kgtav-tem m. * kgtav-ten f. 'schriebt' 6. katgv-u m.=f. 'schrieben' Was diesen Bereich der Morphologie betrifft, weisen die Handbücher der romanischen Sprachwissenschaft auf keinerlei Ausnahmen hin. Und dies obwohl doch gerade die italienischen Mundarten einige Besonderheiten vorzuweisen hätten. Es gibt in der Tat etliche Dialekte, die in dem Verbum finitum das Genus morpholo- Italienische Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft 21 gisch unterscheiden. In (4) ist das Paradigma des Verbums 'essen' in der Mundart von Ripatransone (südliche Marche) dargestellt: (4) Ripatransone (Provinz Ascoli Piceno; PARRINO 1967) 'essen' (Indikativ Präsens) Person 1. Maskulinum [i 'map: u] Femininum [i 'map: e] 2. 3. 4. 5. 6. [tu 'map: u] ['is: u 'ma_p: u] [nui ma'p: e: mi] [vui ma'p: e: ti] ['if: i 'map: u] [tu 'map: e] ['es: e 'map: e] [nui ma'p: e: ma] [vui ma'p: e: ta] ['es: a 'map: a] Zu bemerken ist folgendes: erstens überwiegen die Genusunterschiede im Verhältnis zu denen der Person in der Konjugation des Verbs. Im Singular bleibt sogar das Genus die einzige gekennzeichnete Kategorie. Zweitens ist die Angabe des Genus in der Verbalflexion viel ausgeprägter als in der der Pronomen, wo genau wie im Italienischen unterschieden wird zwischen zwei Genusformen in der dritten Person, nicht jedoch in der ersten und zweiten. Diese beiden Eigenschaften stellen ein typologisch markiertes Merkmal dar. Außerdem sehen Sie in (4), daß zwei Reihen von Endungen unterschieden werden. Im Dialekt von Ripatransone werden sogar drei Genera in der Verbalmorphologie gekennzeichnet. Wie es in (5) ersichtlich ist, wird auch ein Neutrum in der 3. Person Singular unterschieden: (5) a. Maskulinum ['issu 've: ou] 'er sieht-M.' b. Femininum * ['esse 've: oe) 'sie sieht-F.' c. Neutrum =fa [s;, 've: o;, k;, ... ] 'man sieht-N., daß .. .' Kürzlich wurde auf weitere Fälle solcher Ausnahmen hingewiesen (d. h. Genusmerkmale in den finiten Verbformen). So unterscheidet man in den Dialekten von Trient und umliegenden Dörfern (cf. ZöRNER 1989: 257) zwischen [l 'E 'na] 'er ist-M. gegangen', [l 'E 'bE: l] 'er ist-M. schön' und [l 'ci 'na: da] 'sie ist-F. gegangen-F.', [l 'c:i 'bda] 'sie ist-F. schön-F.', wo zwei sich nach Genus unterscheidende Formen vom Hilfsverb 'sein' vorkommen. Eine ähnliche Erscheinung ist in emilianischen Dialekten des Apennins, der Provinzen Modena und Bologna zu beobachten. Hier wird die dritte Person des Verbums 'haben' nach dem Genus des Subjekts unterschieden (sowohl als Hilfsverb wie auch als Verbum des Besitzes, wie in (6) gezeigt)7: 7 Die angeführten Beispiele werden meistens durch eine Datumangabe begleitet, die dem Entdeckungsjahr des betreffenden linguistischen Phänomens entspricht. Ferneres dazu unter Nl5, infi·a. 22 Michele Loporcaro (6) Emilia: Apenninische Mundarten in den Provinzen Bologna und Modena [kl ':im l 'a/ *l 'E, 'tre: 'fjo: li) =I (kla 'd:i: na 1 'E! / *I 'a 'tre: 'fjo: li) 'jener Mann hat-M. drei Töchter' 'jene Frau hat-F. drei Töchter' [jus'fü l 'a/ *l 'E: �i'ga) =I (la 'la�ra 1 'E: / *l 'a �i'ga) 'Joseph hat-M. geweint' 'Laura hat-F. geweint' (1991) Diese Besonderheiten einiger italienischen Mundarten stellen das Resultat der historischen Entwicklung des lateinischen Verbalsystems dar, welche einen unvorhersehbaren Weg eingeschlagen hat. Für die regelmäßige Genusmarkierung in Ripatransone ist derselbe Zusammenfall von Auslautvokalen verantwortlich, der in der umliegenden Mundartzone stattgefunden hat. Der Wandel wird in (7) schematisiert: (7) 1. Phase Ripatransone *['vefo) 'sehen' 1. = 2. = 3. Person wie in den nach Süden angrenzenden Mundarten 2. Phase ['veo;i] N. > ['veou] M. ['veoe) F. Nachdem in einer ersten, vergangenen Phase alle lateinischen Verbalendungen zu einem zentralen mittleren Vokal [g] reduziert wurden, wie es in den südlich angrenzenden Dialekten der Fall ist, wurde eine Morphemdifferenzierung durch die Wiederherstellung der vokalischen Endungen neu geschaffen (cf. PARRINO 1967: 160; HARDER 1988: 315ss.). Für die ähnlichen trientinischen und emilianischen Fälle nimmt die wahrscheinlichste Erklärung an, daß zuerst zwei rein lautlich differenzierte, doch funktionell gleichwertige Formen vorgelegen haben mußten. Im Falle des Trientinischen stellt die (heutige) Form des Femininum [i::i] eine lautgesetzlich regelmäßige Zwischenstufe zwischen lat. EST und der phonetisch weiter reduzierten Form [i::] dar, die heute als Maskulinum verwendet wird. Auch im Apennin-Emilianischen sind die zwei vorhandenen Allomorphe als ursprünglich phonetische Varianten (synkopierte bzw. nichtsynkopierte) zu erklären. Diese Formen sind demnach ein gutes Beispiel dafür, wie ein Wandel in der Morphologie auch in unerwartete Richtungen, wie etwa die (für Lateinisch-Romanisches unerwartete) Schaffung einer Genusmarkierung im Verbum finitum, durch rein phonetische Ursachen entstehen kann. Jedenfalls verdienen sie, in den betreffenden Kapiteln über das Verbalsystem einer vergleichenden Grammatik der romanischen Sprachen erwähnt zu werden. Das ist allerdings bisher unterblieben. Auch wenn es sich um seit geraumer Zeit bekannte Tatsachen handelt, bleiben sie in den Zeitschriften für Dialektologie beerdigt. Außerdem sind viele dieser Daten erst kürzlich erhoben worden. Man könnte sich jetzt fragen, warum. Handelt es sich etwa um Dialekte, die vorher wenig untersucht worden sind? Nein. Was z.B. die emilianischen Varietäten in (6) betrifft, wurden zwei von den entsprechenden Ortschaften als Aufnah- Italienische Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft 23 meorte des Sprach- und Sachatlasses Italiens und der Südschweiz gewählt 8 • Doch anhand der Atlaskarten wird man sich des Phänomens nicht bewußt. In allen Sätzen, in denen eine Form der 3. Singular von 'haben' vorkommt, haben die Gewährsleute, welche Scheuermeier 1928 befragt hat, immer geantwortet, als ob sie ein männliches Subjekt vor Augen hätten 9 . Das erstaunt kaum, wenn wir den kulturellen Hintergrund der traditionellen ländlichen Gesellschaft berücksichtigen. Es gab außerdem keinen Grund zu erwarten, daß das Genus des Subjekts die Morphologie des finiten Verbums einer romanischen Varietät beeinflussen könnte. Nur eine detaillierte beschreibende Tätigkeit, jedoch kaum die mit einem Standardfragebogen für einen Atlanten durchgeführten Erhebungen, kann Besonderheiten wie die eben genannten zu Tage fördern. 6. Während die finiten Verbformen üblicherweise Genusinformationen keinen morphologischen Ausdruck verleihen, zeichnen sich die infiniten Formen durch die Nichtmarkierung der Person aus. Eine wohlbekannte Ausnahme bildet hier der portugiesische infinitivo pessoal. Wie unter Nummer (8) gezeigt wird, kann der Infinitiv mit persönlichen Endungen flektiert werden: (8) a filha pediu 'die Tochter bat ao pai para dem Vater für ir-em ao cinema gehen-3.Pl. ins Kino' Unter den italienischen Mundarten besaß das Altneapolitanische ein derartiges Paradigma mit persönlicher Flexion des Infinitivs und des Gerundiums 10 , wie die Texte des 14. bis 16. Jahrhunderts (9) bezeugen: (9) Altneapolitanisch: Beispiele aus dem cod. ital. 617, BN Paris (14.Jh.) a. se nde tornaro a li lloro paviglyuni per se reposareno (c. 78r 0 3) 'sie kehrten zu ihren Pavillonen zurück, um auszuruhen+3.Pl.' b. li Grieci [. . .] adasta(n)donosse a la mia destructione (c. 10lv 0 20s) 'die Griechen, zu meiner Vernichtung eilend+3.PI.' Die Historiker der italienischen Sprache, z.B. Polena und Rohlfs, betrachten diese Infinitive und Gerundia als künstliche Formen, als von den Literaten des aragonesischen Neapels, sozusagen «vom grünen Tisch aus» geschaffen und nicht den s Es handelt sich um die AIS-Punkte 454 (Prignano sulla Secchia, Provinz Modena) und 455 (Savigno, Provinz Bologna). 9 Cf. z.B. AIS IV K. 834me li ha venduti, Prignano (Pt. 454) <, mi a vandii '(er) hat(-M.) sie mir verkauft' und ferner die Karten AIS 1/ 123; 2/ 385, 397; 5/ 1032s.; 6/ 1111; 8/ 1606, 1618, 1673, 1703. 10 Auch in etlichen portugiesischen Mundarten kann das Gerundium wie der Infinitiv durch persönliche Endungen bestimmt werden: cf. em tu comendos, em tu estandos (westliches Algarve, Barlavento; NuNES 1902: 51). 24 Michele Loporcaro realen sprachlichen Bedingungen des Dialekts dieser Epoche entsprechend 11. Man kann jedoch das Gegenteil beweisen, da 1986 einige Überbleibsel von persönlicher Flexion des Infinitivs in den heutigen Dialekten Apuliens entdeckt worden sind. Die alten Texte dieser Gegenden belegen eine ähnliche Situation, wie wir sie in (9) für das Altneapolitanische gesehen haben. Das wird in (10) anhand eines Beispiels aus einem Dialekt Apuliens gezeigt 12 : (10) Reste des flektierten Infinitivs in Apulien (1986) Bitonto (Provinz Bari) ['kug 'wo! 'eslgng ac'cots] 'sie müssen getötet werden' (wörtlich: 'sein+3.Pl.') 7. Es kommt in den romanischen Sprachen also vor, wenn auch in recht seltenen Fällen, daß infinite Verbformen persönliche Endungen annehmen und sie an die infinite Endung anschließen, wie es in (11a) zu sehen ist: 11 Cf. FoLENA 1952: 84s. und RoHLFS 1966-69: §709, die die Erklärung dieser Formen übernehmen, welche ursprünglich von SAVJ-LOPEZ 1900 vorgeschlagen wurde. 12 Im Rahmen einer Besprechung von LoPORCARO 1988: 260, wo die in (10) aufgeführten apulischen Überbleibsel des flektierten Infinitivs mit Bezug auf die Mundart Altamuras kurz erwähnt werden, äußert sich BLAsco FERRER 1991: 200 auf folgende Weise: «L[oporcaro]crede di scorgere unaflessione dell'infinito [ ...]in ess. de! tipo: potes: ;in ac: iis 'possano essere uccisi'con desinenza di 6 p. affissa ad essere. In realta lo stesso L. ricorda poco prima ehe gli infiniti in altam. hanno perso tutti la desinenza infinitivale. Ecco la spiegazione di questo fenomeno: divenuti gli infiniti opachi, perche privi di desinenza formale (ess-), essi hanno potuto assumere una marcatezza aggiuntiva, specie quando si trovano accoppiati ai modali. [...]Siamo, credo, ben lontani dai fatti portoghesi e sardi, dove gli infiniti sono stati mantenuti cospicui nella loro forma.» Die hier vorgeschlagene alternative Erklärung ist nicht ganz durchsichtig. Es besteht gar kein Zusammenhang zwischen dem Wegfall der Infinitivendung -re und der Hinzufügung einer persönlichen Endung an den Infinitiv. In den süditalienischen Varietäten, die die Infinitivendung -re bewahren, wie etwa dem Altneapolitanischen, ist die Personenendung an die des Infinitivs angeschlossen, so daß ein esser(e)no entsteht. Wird aber dem Infinitiv eine persönliche Endung in den Varietäten angeschlossen, in denen -re weggefallen ist, wie es in den heutigen Mundarten Apuliens, Lukaniens, Kampaniens, Nordkalabriens etc. der Fall ist (essere > essc1), dann muß sich ein ess;;i+nc1 (Thema + persönliche Endung) ergeben, was tatsächlich im Altamurano, Bitontino etc. passiert. Belehrend sind die Beispiele aus altapulischen Texten: z.B. «siano franchi coloro ehe di raggione si permettera esserno franchi» (Statuti municipali della citta di Altamura, Jahr 1527; cf. DE GEMMIS 1956: 14; weitere Beispiele von flektierten Infinitiven in südital. Texten des 15. bis 17.Jh.s sind in LoPORCARO 1986: §6 gesammelt). Der chronologische und strukturelle Zusammenhang zwischen den in denselben Varietäten bezeugten esser+no 'sein+ 3.Pl.'(16.Jh.s) und ess;;i+n;;i 'id.'(20.Jh.s) ist nicht zu übersehen. Freilich stellt das heutige apulische ess;;i+nc1nun mehr den fossilisierten Rest eines in der Vergangenheit regelmäßigeren Paradigmas dar (cf. LOPORCARO 1986: §8). Daß ein solches Paradigma in Süditalien einmal regelmäßig war, wie es im Sardischen oder Portugiesischen noch heute ist, beweist das Altneapolitanische, wie schon von SAVJ-LOPEZ (1900) gezeigt. Daß ferner dieses Paradigma einen Reduktionsprozeß durchgemacht hat, beweist das heutige Neapolitanische, wo keine Spur davon mehr zu finden ist. Die Mundarten Apuliens haben hingegen einige auffällige Spuren der persönlichen Flexion des Infinitivs bewahrt. Italienische Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft (11) a. infinite Verbform + persönliche Endung Port. cant-a-r-em AltneapoL repos-a-re-no, Thema+ them. Vokal+ infin. Endung+ persönl. Endung b. finite Verbform + infinite Endung ? 25 Diese Formen des persönlichen Infinitivs und Gerundiums lassen sich aus funktionellen Gründen leicht rechtfertigen. Dadurch, daß eine infinite Form durch eine persönliche Endung ergänzt wird, wird der Bezug zum Subjekt, der auf syntaktischer Ebene sowieso besteht, morphologisch hervorgehoben. Theoretisch ist jedoch ein gegensätzlicher Kompromiß zwischen finiten und infiniten Formen auch denkbar. Rein hypothetisch könnten finite Formen Endungen der infiniten annehmen und sie an die persönlichen Endungen anhängen. Diese Möglichkeit ist in (llb) schematisch dargestellt. Das Fragezeichen bedeutet, daß Kompromisse dieser Art in den vergleichenden romanischen Grammatiken nicht verzeichnet sind. Und in der Tat, welche Funktion könnten auf diese Weise gebildete Formen haben? Die einzige syntaktische Funktion, welche z.B. das Morphem -re des italienischen Infinitivs canta+re erfüllt, ist die, anzugeben, daß diese Form an und für sich keinen Hauptsatz bilden kann, im Gegensatz zu den finiten Formen wie canta, cantavano usw. Wenn jedoch die Endung -re nur die Subordination angeben muß, besitzen die finiten Verbformen schon eigene Mittel für diese Funktion: analytische Mittel, wie Konjunktionen, und synthetische Mittel, wie die Alternierung von Modus (z.B. zwischen Indikativ und Konjunktiv). Die italienischen Dialekte bezeugen jedoch auch dieses morphologische Schema. In einigen Dialekten der Provinz von Reggio Calabria kommen Pluralformen des Imperativs vor, wie jene in (12): (12) Mosorrofa (Provinz Reggio Calabria; CRucrTTI 1988: 7) non parramuri forti parramuri 'sprechen wir nicht laut' 'sprech(en)' 1. Pl. Inf. non facitiri buci facitiri 'schreit nicht' 'tu(n)' 2.Pl. Inf. Die Erklärung dieser abweichenden Bildungen, abweichend, weil die Endung des Infinitivs an die der Person angehängt wird, ist im Schema (13) dargestellt. Die Infinitivendung wurde analog zur zweiten Singular auf die erste und zweite Person Plural übertragen. Ursprünglich war diese Infinitivendung nur in der zweiten Person Singular vorhanden, wie es auch im Italienischen der Fall ist, wo man anstelle des verneinten Imperativs die Form des Infinitivs verwendet (non parlare 'sprich nicht! '). Damit wurde das Paradigma durch analogische Ausgleichung symmetrisch, es entstand aber ein syntagmatisches Ungeheuer, weil die Endung 26 Michele Loporcaro (13) Diachrone Erklärung der unter (12) angeführten Besonderheit bejahende Form 2. parra 3. mi parra 4. parramu 5. parrati 6. mi parranu verneinende Form non parrar i non mi parra d non parramu(ri) non parrati(ri) non mi parranu eines infiniten Modus rechts von der persönlichen Endung angeschlossen wird. Auch dieser Fall müßte in einer romanischen vergleichenden Grammatik erwähnt werden. Dem ist nicht so, weil die erste linguistische Analyse der in (12)-(13) aufgeführten Fälle erst 1995 erschienen ist. 8. Betrachten wir nun einen anderen Paragraphen der romanischen Grammatiken, diesmal einen Paragraphen über die Syntax, und zwar das Passiv. Den Grammatiken können folgende drei wesentliche Punkte entnommen werden, die Sie unter (14) sehen: (14) a. die romanischen Sprachen wie das Latein erlauben die Passivierung des direkten Objekts, nicht jedoch die anderer Satzteile (z.B. des indirekten Objekts, wie etwa im Englischen John was given a book); b. die romanischen Sprachen bilden das Passiv mit dem Hilfsverb 'sein' oder 'gehen', oder auch anderen, aber auf keinen Fall mit 'haben' (im Gegenteil zu Engl. John got fired, wo ein Verbum des Besitzes als Passivhilfsverb verwendet wird); c. das Passiv ist eine «intellektualistische» Form, weit entfernt vom «volkstümlichen» Sprachgefühl und deswegen den Mundarten im wesentlichen fremd. Alle drei Annahmen werden jedoch von den italienischen Dialekten widerlegt. Das können Sie den Beispielen in (15) entnehmen, Beispiele aus einem apulischen Dialekt, welche die Verhältnisse für die Dialekte Apuliens und Lukaniens wiedergeben: (15) Passiv des direkten bzw. indirekten Objekts mit Hilfsverb haben (1988) a. [r krgstr'jein a'vaina ma'ngetg de: lr'u11n] a'vaing < HABEBANT 'die Christen wurden von den Löwen gefressen' b. [pg'ppmg 'jtva t;ilgfu'neit 'jev;i < HABET wörtlich: 'Joseph wird telefoniert' = 'man ruft ihn an' c. [r fatrja'turg 'javana 'det;i nu'skwaff] 'jav;ing < HABENT wörtlich: 'die Arbeiter werden eine Ohrfeige gegeben' Die Entstehung dieser zwei Unregelmäßigkeiten (= das Passiv des indirekten Objekts und das Passiv mit dem Hilfsverb 'haben') hängt in diesen Dialekten zusammen, und sie erklärt sich als Verallgemeinerung, die vom verbreiteteren Typ (15c) ausgeht, wie in Loporcaro 1988: 296s. vorgeschlagen. Ohne auf weitere Italienische Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft 27 Details einzugehen, genügt es hier gezeigt zu haben, daß das Studium der italienischen Dialekte, auch was die morphologische Bildung und die Syntax des Passivs anbelangt, eine Vervollständigung der romanischen Grammatiken ermöglicht. 9. Um diese Übersicht zu Ende zu bringen, gehen wir über zu einem anderen zentralen Paragraphen der romanischen Syntax: dem der Kongruenz des Partizip Perfekts in den zusammengesetzten Zeiten. Es ist eine vieldiskutierte Frage, die ihre Berühmtheit vor allem dem Französischen verdankt, wo sogar gesetzliche Maßnahmen vorgenommen worden sind, um das grammatikalische Phänomen zu regeln. In der Beschreibung der Partizipkongruenz folgen die romanischen Sprachwissenschaftler fast ausnahmslos der traditionellen Auffassung der alten französischen Grammatiker, die seit dem 16.Jh. (mit Clement Marot) die folgende wohlbekannte Regel festgesetzt haben13: (16) a. [erste Bedingung] ist das Hilfsverb 'sein', kongruiert das Partizip mit dem Subjekt (z.B. la pauvre femme est morte) b. [zweite Bedingung] ist das Hilfsverb 'haben', kongruiert es mit dem vorangehenden, nicht jedoch mit dem folgenden Objekt (z.B. la chaise, je l'ai repeinte aber j'ai repeint la chaise) Das ist aber keine befriedigende Beschreibung der romanischen Kongruenzbedingungen im allgemeinen, wie es die in (17)-(18) angeführten Beispiele zeigen. Denn es gibt viele Varietäten, wo Partizipkongruenz beim Hilfsverb 'haben' vorkommt. Das ist der Fall im Unterengadinischen -wie Nummer (17) zeigtsowie in vielen provenzalischen und italienischen Mundarten: (17) a. Ja rouda s'ha ruotta 'das Rad-F. sich hat gebrochen-F.' b. la puolvra da cafe s'ha scholta 'das Pulver-F. vom Kaffee sich hat aufgelöst-F.' Unterengadinisch (GANZONI 1983: 131s.) Auch die zweite Bedingung der traditionellen Regel besteht nicht die Prüfung der Dialektvariation. Es gibt in der Tat romanische Mundarten, in denen eine pronominale Kurzform die Kongruenz des Partizips steuert, obwohl sie nicht proklitisch sondern enklitisch vorkommt. Das ist im Frankoprovenzalischen von Val d'Aosta der Fall, wie Sie in (18) sehen können. 13 Die Grundlinien dieser Erklärung der Partizipkongruenz wurden, im wesentlichen unverändert, aus den alten Grammatiken einerseits in die moderne Romanistik (seit Diez) und andererseits in die theoretische Syntax (bis CHOMSKY 1991: 435s.) übernommen, wie in LoPOR- CARO 1995: 158-64 gezeigt. 28 Michele Loporcaro (18) a. (cetta meison) dz'i batia-la/ *bati-la tot solet '(dieses Haus-F.) ich habe gebaut: F.-sie ganz allein' b. (la lettra) dz'i ecrieite-la/ *ecri-Ja '(den Brief-F.) ich habe geschrieben: F.-sie' francoprovenyal valdotain (CHENAL 1986: 544s.) Hier kongruieren die Partizipien batia und ecrieite (in [18b]) mit la, obwohl diese Kurzform des Pronomens nach dem Partizip vorkommt: es handelt sich also nicht um ein vorangehendes Objekt, wie die traditionelle Regel besagt. Die traditionellen Kriterien erweisen sich demnach als unbefriedigend. Eine feinere strukturelle Erklärung, wie ich sie anderswo schon entwickelt habe, spiegelt sich in der Implikationsskala syntaktischer Kontexte in (19) wider 14 : (19) It. Fr. Sp. (Port., Rum.) a. lt. (Ja chiave) Giovanni / 'ha presa Fr. (la cle) Jean l'a prise + + - Sp. (Ja llave) Juan la ha tomado b. lt. (Maria) Gianni l'ha fatta piangere Fr. (Marie) Jean l'a fait pleurer + - - Sp. (Maria) Juan la ha hecho llorar C. lt. Maria e stata vista da Gianni Fr. Marie a ete vue par Jean + - Sp. Maria ha sido vista por Juan d. lt. Maria e Gianni si sono scritti Fr. Marie et Jean se sont ecrit + - Sp. Maria y Juan se han escrito e. lt. Maria si e scritta due lettere Fr. Marie s'est ecrit deux lettres + - Sp. Maria se ha escrito dos cartas f. lt. Maria si e scritte due Jettere Fr. Marie s'est ecrit deux Jettres + - Sp. Maria se ha escrito dos cartas g. lt. Gianni ha preso Ja chiave Fr. Jean a pris Ja cle - - - Sp. Juan a tomado Ja llave Diese Skala stellt im untersten Teil (d. h. [19g]) die übliche transitive Konstruktion der Art Johann hat den Schlüssel genommen dar. In der Mitte ist eine Reihe weiterer Satzarten dargestellt, und zuoberst in (19a) die gleiche transitive Kon- 14 Cf. LOPORCARO 1993 für eine detailliertere Ausführung diesbezüglich. In der Tabelle wird die Kongruenz bzw. Nichtkongruenz durch die Kursivschrift der betreffenden Endungsmorpheme hervorgehoben. So wird z.B. in (19c) die Kongruenz bzw. Nichtkongruenz des Partizips mit dem Subjekt und reflexivischen indirekten Objekt Maria, in (19d) die Kongruenz oder Nichtkongruenz desselben mit dem Objekt due lettere in Betracht gezogen. Italienische Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft 29 struktion, wo aber das direkte Objekt durch eine pronominale Kurzform vertreten wird. Die lateinischen Konstruktionen, die als Vorgänger der in (19) angeführten Verbalperiphrasen aufzufassen sind, wiesen in allen Fällen Partizipkongruenz auf (z.B. multa bona bene parta habemus, Plaut., Trin. 347; sorores una die obitae sunt, CIL 6: 17633). Was romanische literarische Sprachen anbelangt, bewahrt das Französische diese Kongruenz nur im Kontext (19a) (d. h. in Jean l'a prise). Die Zeichen Plus und Minus bedeuten Vorkommen bzw. nicht Vorkommen der Kongruenz. Das Italienische bewahrt die Partizipkongruenz in weit mehr Kontexten, außer im untersten Falle in der Tabelle (Gianni ha preso la chiave, in [19g]). Das Spanische und die anderen in (19) angeführten Sprachen haben die Kongruenz völlig abgebaut. In der in (19) anhand von Standardsprachen dargestellten Implikationsskala bleiben aber viele Stufen leer man könnte sogar daran zweifeln, daß es sich um eine echte Implikationsskala handelt. Trägt man aber die italienischen Dialekte in die Skala ein, so werden plötzlich die Lücken gefüllt, wie in (20) gezeigt wird. Es sind dort nur die Namen der betreffenden Dialekte angegeben und die Beispiele sind auf italienisch als Metasprache angeführt: (20) Neap. lt. Mail. Sard. Trient. Emil. Fr. Siz. a. (Ja chiave) Giovanni l'ha presa + b. (Maria) Gianni l'ha fatta piangere + c. Maria e stata vista da Gianni + d. Maria e Gianni si sono scritti + e. Maria si e scritta due lettere + f. Maria si e scritte due lettere + g. Gianni ha preso la chiave + Neap(oletanisch), Mail(ändisch), Sard(isch) [1993], Trient(inisch) [einige östlich von Trient gesprochene Mundarten (1995)], Emilianisch [einige appenninische Mundarten (1991)], Siz(ilianisch) Dank den Dialekten ist es somit möglich, eine feinere Darstellung der graduellen Variation in den synchronen Kongruenzbedingungen zu erreichen. Dies ist außerdem gleichzeitig eine plausible Darstellung der diachronen Entwicklung, die bis heute je nach Sprache in verschiedenem Ausmaß zum Abbau der Kongruenz geführt hat. Auch in diesem Fall sind die Arbeiten über italienische Mundarten, die zur Verfeinerung des Bildes beigetragen haben, erst kürzlich erschienen. 30 Michele Loporcaro 10. Ich komme jetzt zum Schluß. Der Zweck dieser kurzen Übersicht war, zu beweisen, daß die italienischen Mundarten ihren Beitrag zur Kenntnis der sprachlichen Variation im romanischen Bereich noch nicht völlig geleistet haben, und auch zu zeigen, daß dieser Beitrag für den Sprachtypologen wertvoll sein kann. Neue Gegebenheiten entdeckt man immer wieder; zumindest gelingt das denen, die sich vornehmen, solche Gegebenheiten weiterhin zu suchen. Um einen Eindruck hiervon zu vermitteln, habe ich mich bis auf wenige Ausnahmen auf Erscheinungen beschränkt, die im Laufe des letzten Jahrzehntes zu Tage gefördert wurden. Darüber hinaus habe ich fast ausschließlich Fakten erwähnt, die von mir persönlich durch Feldforschung entdeckt und beschrieben worden sind: bei allen Beispielen, wo keine bibliographischen Hinweise, sondern nur ein Datum angegeben ist, handelt es sich um einen vom Verfasser im entsprechenden Jahr veröffentlichten Aufsatz 15• Da es also noch etwas zu entdecken gibt, scheint eine gewisse Ausformulierung der obengenannten Vorschläge zur methodologischen Erneuerung der italienischen Dialektologie wünschenswert. Die Theoretisierung über linguistische Strukturen oder den sozialen Kontext sollte in, die linguistische Feldforschung integriert werden, anstatt sie ersetzen zu wollen. Theoretisierung auf beiden Ebenen könnte somit zu einer theoretisch bewußteren Feldforschung führen. Die strukturelle, interne Betrachtung wird dazu beitragen, die Phänomene anhand der Schärfung analytischer Mittel zu fokussieren. Die soziolinguistische Betrachtung wird dazu beitragen, die Vorgangsweise der Feldforschung zu verfeinern und die Reihenfolge der Prioritäten in Bezug auf die externe Lage zu bestimmen. Die soziolinguistischen Studien lehren uns, daß heutzutage in Italien ein gewaltiger und systematischer Sprachwechsel im Gang ist. Die bisher bestehende Diglossie schwankt, wobei die Hochsprache ihren Funktionsbereich auf Kosten der Dialekte allmählich ausbreitet, die demzufolge im Aussterben begriffen sind. Diese sind bereits sehr stark bedroht, weil sie als Sprache der ersten Sozialisierung und auch in den konservativsten Gesellschaftsschichten immer weniger gesprochen werden. Es ist also gerade das soziolinguistische Bewußtsein, das uns mahnend vor Augen führt, daß für die Untersuchung linguistischer Strukturen, deren Träger die 1s Bibliographische Hinweise: 1986: «L'infinito coniugato nell'Italia centro-meridionale: ipotesi genetica e ricostruzione storica», ID 49: 173-240; 1991: «Di alcuni caratteri morfosintattici de! dialetto di Grizzana, sull'Appennino bolognese», ID 45: 57-126; 1993: mit N. LA FAucr «Grammatical relations and syntactic levels in Bonorvese morphosyntax», in ADRIANA BELLETTI (ed.), Syntactic theory and the dialects ofItaly, Torino: 155-203; 1995: «Recessivita sintattica dell'infinito e vitalita morfologica della desinenza infinitivale in alcuni dialetti de! Reggino», in R. AJELLO/ S. SANI (ed.), Scritti linguistici e filologici in onore di Tristano Bolelli, Pisa: 331-58; 1995: mit M. TERESA VrGoLo: «Ricerche sintattiche sul confine dialettale veneto-trentino in Valsugana: l'accordo del participio passato», in: E. BANFI/ G. BoNFADINr/ PATRIZIA CoRDIN/ MARIA luEscu (ed.), Italia settentrionale: crocevia di idiomi romanzi, Tübingen: 87-101. Italienische Dialektologie und allgemeine Sprachwissenschaft 31 italienischen Dialekte sind, nur eine begrenzte Zeit übrig bleibt. Daß es in diesem Bereich für die Linguisten noch viel zu tun gibt, hoffe ich mit dem Gesagten, wenn nicht bewiesen, dann doch wenigstens suggeriert zu haben. Zürich (20) (18) CII��R ,- "'·.... . ,·-·-·\ _.,/ )-J:f-.. ·---,_---� - A .v.&, � ,._. .., - ·,. ... • ,· ,1 .,., '· i franc -·\ .,./ � · 1 b d vencziano -· 1 om ar o ' 1 / pro'venzale 1 • / .'/ ,. p! emontese r·� TORINO \ ' '. } } ligure � ✓ • ! , GENOVA 1,... ... '' ., ,i NO logudorese .........---(20) (9), (20) (20), § 5 --r· \1 \ TRIESTE F!UME VEGLIA Michele Loporcaro (10). (15) <waoo� calabrese (12) 32 Michele Loporcaro Bibliographie ALINEI, M. 1991: «Intervento alla Tavola Rotonda su <Dove va la dialettologia? > / Round Table ,Whither Dialectology? »>, Quaderni di Semantica 12: 207-14 BLAsco FERRER, E. 1991: Besprechung von Loporcaro 1988, RJ 42: 198-200 CHENAL, A. 1986: Le franco-provenc;al valdotain. Morphologie et syntaxe, Aosta CHOMSKY, N. 1991: «Some Notes on Economy of Derivation and Representation», in: R. FREI- DIN (ed.), Principles and Parameters in Comparative Grammar, Cambridge (Mass. )/ London: 417-54. CRUCITTI, P. 1988: Vocabolario e frasario Mosorrofano-Santagatino, Soveria Mannelli DE GEMMIS, G. 1956: «Di alcune consuetudini della Citta di Altamura», Altamura. Rivista storica 2: 5-43 FoLENA, G. 1952: La crisi linguistica del Quattrocento e l'«Arcadia» di ! . Sannazaro, Florenz GANZONI, G. P. 1983: Grammatica ladina. 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