Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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1996
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Kristol De StefaniNeues zur oberitalienischen Personalendung der 4. Person Präsens úma
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Neues zur oberitalienischen Personalendung der 4. Person Präsens -uma Die Entstehung der piemontesischen Personalendung -uma und seiner Äquivalente -6m, -um im Brescianischen, Cremonesischen und Piacentinischen ist seit langem Gegenstand von Diskussionen 1. Die traditionelle Erklärung versteht sie als Analogiebildung zu klt. SUMUS (MEYER-LÜBKE 1894: 167s., ROHLFS 1968: 251, TEKAVCIC 1980 §734.3 2 ). In neuerer Zeit ist diese jedoch verschiedentlich in Frage gestellt worden. Es haben sich folgende Theorien herausgebildet: SIMON 1967: 217-25 ist der Meinung, daß die piemontesische Endung -uma, die erst seit dem 18. Jh. schriftlich belegt ist, eine Kreuzung aus lombardischem unbetontem -om (kantom) und den piemontesischen Endungen, -emo/ ema und -amo (kantemo/ a kantamo) sei. Die lombardische stammbetonte Form kantom soll sich ihrerseits aus einer Kreuzung von kantemus, kantamus mit dem Typ CANTAT HOMO entwickelt haben (ib., 220). PrsANI 1971: 79 stellt diese Hypothese in seiner Rezension des Buches von Simon in Zweifel. Er versucht die piemontesische Endung als eine analoge Entwicklung unter dem Einfluß der französischen Desinenz -ons zu erklären. LuRATI 1973: 29ss. nimmt die Simon'sche These über die Entstehung der piemontesischen Endung -uma wieder auf. Er weist jedoch eine Beeinflussung durch das Lombardische zurück und erklärt, daß sich -uma parallel zur schriftlich gebrauchten Endung -em aus nachgestelltem HOMO im mündlichen Gebrauch entwickelt habe: CANTAT HOMO > cantaomo > kantuma, bresc. kant6m. Die Entwicklung von nachgestelltem HOMO zu einer Desinenz entspreche der im Piemontesischen und Lombardischen geläufigen Nachstellung des Subjektklitikums, das dadurch zur Personaldesinenz wird: piem. kanteve, alpinlomb. kantaf< cantate + voi (ib., 30) 3• Diese zunächst mündliche Endung sei zwar schon früh im Altmantuanischen belegt, sie trete aber wegen ihrer Volkstümlichkeit bzw. ihrer Zugehörigkeit zum mündlichen Code erst im 18. Jh. in piemontesischen Dialekten auf (ib., 31). 1 Cf. MAIR PARRY 1984: 246. 2 LAUSBERG 1962 §879, 880 hält die lat. Form suMus sowie die Endung -UNT für attraktive Muster, hebt aber hervor, daß sie die Endungen -ans, -om nicht allein erklären können. 3 Nach BLAsco FERRERs Meinung (1990: 62) «ist, rein formell gesehen, die Fusion des Morphems HOMO an das Verb canta(t) allein mit altital. syntaktischen und intonatorischen Verhältnissen erklärbar». 34 Lotte Zörner MANCZAK 1976s.: 63-69 weist alle bisherigen Theorien über die Herkunft von -uma zurück. Er hebt zunächst hervor, daß die Endung der 4. Person in der gesamten Romania mit einer gewissen phonetischen Unregelmäßigkeit gebildet wird und betont, daß im Französischen, Rätoromanischen und Italienischen in allen Konjugationen jeweils dieselbe Endung gegeben ist, während im Rumänischen die 1. Konjugation eine eigene Desinenz aufweist: CANTAMUS > cfntam. Er ist der Meinung, daß das Rumänische den Stand einer vorliterarischen Periode widerspiegelt, in der die 1. Konjugation eine eigene Desinenz hatte. Diese Situation habe auch für das Französische, das Rätoromanische und das Italienische gegolten (cf. die altfranzösischen Relikt-Formen cantomps/ cantumps und devemps). Da in den oberitalienischen Dialekten nach den Unterlagen des AIS 1683-96 eine ähnliche Situation vorliegt, d.h. die Endung -uma, -6ma etc. am häufigsten bei den -are-Verben auftritt, und auch im altlombardischen Text des Grisostomo die Endung -omo bei -are-Verben häufiger gegeben ist als bei den anderen Konjugationen, kommt MANCZAK 1976s.: 69 zum Schluß, daß die Desinenz -uma (so wie fr. -ons) aus -AMUS entstanden sei und die lautliche Reduktion von -AMUS zu -uma (fr. -ons, rätorom. -un, rum. -am) auf die höhere Frequenz des Gebrauchs der -are- Verben zuückzuführen sei. Die von Manczak vorgelegte, weitgehend auf statistischen Fakten beruhende Argumentation ist bis zu einem gewissen Punkt überzeugend, wir möchten allerdings zunächst darauf hinweisen, daß bei den Belegen aus dem AIS zwischen stammbetonten und endungsbetonten Formen auf -um unterschieden werden muß, da die Endung der stammbetonten Formen lavum, gwarfsum, etc. mit der Herkunft der in Rede stehenden Desinenz u.E. nichts zu tun hat, sondern eine im westlombardischen nicht ungewöhnliche Entwicklung schwachtoniger Vokale vor bzw. zwischen Labial darstellt, die auch in der 5. Person auftritt. mailändisch: mendrisiotto: Imperf. Ind. 4.P. 5.P. parldvom kantdvum parldvov kantdvuf Imperf. Konj. 4.P. 5.P. parldssum kantdssum parldssov kantdssuf Zu den bisher aufgestellten Theorien über die Entstehung der Endungen -uma, -um, -6m möchten wir bemerken, daß wir wie Manczak und Pisani überzeugt sind, daß von einer Herleitung dieser Endungen aus postverbalem HOMO abzusehen ist, wir teilen jedoch die Meinung von Lurati, daß sich -uma im Piemontesischen und seine Äquivalente in den anderen Dialekten früh entwickelt und als mündliche Formen weitergelebt haben, bis sie im 18. Jh. in den schriftlichen Code aufgenommen wurden. Die Tatsache, daß wir sie in einigen konservativen Dialekten nur im Adhortativ, der vorwiegend dem mündlichen Code angehört, vorfinden, spricht für diese Annahme. Neues zur oberitalienischen Personalendung der 4. Person Präsens -uma 35 Adhort. Ind. canavesanisch: kantuma kdntan groppallesisch: kantuma kdntam pavesischer Dialekt von Godiasco: kantuma kdntam Was die Entstehung der Endungen selbst anlangt, so möchten wir eine weitere Hypothese zu dieser Frage vorlegen: Wir gehen in unserer Beweisführung vom altlombardischen Text des Grisostomo 4 aus. In diesem Text lauten die Endungen in der Regel -emo und auch -amo; die Endungen -omo/ -oma sind jedoch auch verhältnismäßig häufig gegeben. Wie bereits Mariczak anmerkt, finden wir sie bei den -ere-Verben wesentlich seltener als bei den are-Verben, es ist aber keine fixe Regel zu erkennen, vielmehr können sie beim gleichen Verb variieren: -are-Verben: trouemoltrouomo (4,2; 20,31), cerchemo/ cerchoma (5,39; 4,17), parlomo (17,24,28), portomo (10,15), preghomo (108,5), adoromo (118,31), refermomo (120,20)5• -ere-Verben: uolomo (3,38; 120,18) und uoloma (5,34), receuomo (96,7; 106,40), semol somo (106,40; 50,15) und soma (96,6). Es fällt auf, daß omo außerdem verhältnismäßig häufig als Kurzform des Auxiliars HABERE vor dem Partizip Perfekt gegeben ist: omo proposo (2,9), omo miso (2,10) omo pregao (5,1), omo dichie (6,28), omo fachio (12,11), omo habuo (97,22), omo falio (112,19), omo observao (112,21) etc. Die Endung -emo ist nur vereinzelt beim Auxiliar gegeben: hauemo uisto (97,25), hauemo sentio (110,36), hauemo peccao (112,18), hauemo dichio (117,39). In der Verwendung als Vollverb liegen zwei Belege mit langer Form vor: no n'auemo casa propria (10,26), ma qualche partexela de questo amor hauemo (53,25) und ein Beleg mit der kurzen Form sti trj puerj ehe nu omo per man (37,39). Daraus läßt sich schließen, daß omo in der Funktion eines Hilfsverbs im Altlombardischen des Grisostomo eine Variante von auemo geworden ist, die dazu tendiert, auemo als Auxiliar zu ersetzen (nach unserer Zählung 8 omo / 4 hauemo 6 • Sie erhält durch diese Funktion eine Frequenz im Gebrauch, die analogiebildend sein kann. Die soeben dargelegten Gegebenheiten gestatten uns, die Hypothese aufzustellen, daß sich die Endungen -uma, -um, -6m aus der satzphonetisch unter dem Nebenton stehenden (verhältnismäßig häufig gebrauchten) Form des Hilfsverbs HABERE entwickelt hat: HABEMus > auemo > omo. Eine ähnliche Ent- 4 Cf. FoERSTER 1880. s Cf. die Aufstellung von C. SALVIONI 1898: 256 in seinen Annotazioni zur Parafrasi des Grisostomo, 200-68 und weitere Beispiele bei MANCZAK 1976s.: 68. 6 MANCZAK l976s.: 68 gibt ohne Spezifikation 7 Belege von auemo an, wir haben insgesamt 6 gefunden, davon 2 als Vollverb. 36 Lotte Zörner wicklung ist im übrigen auch im Rumänischen gegeben, das in der 4. Person Präsens des Verbs a avea die lange Form avem und die Kurzform am besitzt. Da die neue Endung -omo so wie auch Manczak festgestellt hat im Grisostomo am häufigsten bei den -are-Verben auftritt, ist anzunehmen, daß sie, obwohl sie von einer Form der -ere-Verben stammt, vermutlich aufgrund ihrer lautlichen Nähe zur Endung -dmo zunächst bevorzugt von den -are-Verben übernommen wurde und die analoge Übertragung auf die beiden anderen Konjugationen im wesentlichen später erfolgt ist. Wie die oben angeführten Belege aus der Parafrasi des Grisostomo zeigen, ist auch die auf -a auslautende piemontesische Endung -uma als Variante -6ma in einigen Belegen (cerchoma 4,17; uoloma 5,34; soma 96,6) bereits gegeben. Im Zuge unserer Untersuchungen haben wir versucht festzustellen, ob ähnliche Belege auch im Altpaduanischen vorliegen 7 • Eine Durchsicht von RuZANTES La Piovana hat gezeigt, daß die Endung -6n im Indikativ generell bei allen Konjugationen im Indikativ Präsens und im Imperativ auftritt: r,;erc6n, torn6n, and6n, lag6nlo, tas6n, met6nse, vegn6n, poss6n, vogi6n, a6n, se6n. Soweit wir es feststellen konnten, haben sich hier das Auxiliar und das Vollverb HABERE in der 4. Person gleich entwickelt: HABEMUS > auemo > aon. Wenn wir die oben belegte Entwicklung berücksichtigen, dürfte sich die Endung -6n aus der Endung -EMUS in labialer Umgebung entwickelt und durch die Frequenz des Auxiliars, wie oben dargestellt, ausgebreitet haben. Sie hat sich in den konservativen bellunesischen Dialekten bis heute erhalten (ZöRNER 1996). Pagotto Ind.Präs. cam6n vend6n finis6n Adhort. cam6ne = Konjunktiv Präsens vend6ne finis6ne In den paduanisch-vicentinischen Varietäten wurde sie hingegen von -em verdrängt (BELLONI 1991: 154). Die Übernahme der Endung -emo scheint in der medizinischen Fachsprache bzw. in der vornehmeren Sprache des 14. Jh.s nach den Untersuchungen von INEICHEN 1957: 110 an Texten des ausgehenden 14. Jh.s bereits erfolgt zu sein. Die Verbformen auf -6m (bzw. 6n in unserem Text) deutet Ineichen als konservative ländliche Formen, die Ruzante für seine Zwecke geeigneter hielt. * 7 Die Existenz der Endung -on im Altpaduanischen wurde bereits von WENDRINER 1889: 65s. festgestellt, der die Form als eine Entwicklung nach suMus erklärt. Neues zur oberitalienischen Personalendung der 4. Person Präsens -uma 37 Die nordwestitalienischen Endungen uma, -6m, -um sind die Fortsetzung der Endung -6mo. Diese hat sich aus der satzponetisch nebentonigen Form des Hilfsverbs HABERE entwickelt und wurde zuerst auf die -are-Verben und später auf die anderen Verben übertragen. Sie ist eine Endung, die sich im Piemontesischen vermutlich zunächst vor allem im mündlichen Gebrauch durchgesetzt hat und erst später zur schriftlichen Norm wurde. In einzelnen konservativen Dialekten ist sie nur im Adhortativ erhalten, was darauf hindeutet, daß sie vorerst dem volkstümlichen mündlichen Code angehörte. Die nordostitalienische Variante -6n hat sich ebenfalls aus der Endung des Verbs HABEMUS entwickelt. Sie hat sich früh auf alle Konjugationen ausgedehnt, ist aber nur in konservativen Dialekten als generelle Endung der 4. Person Indikativ Präsens erhalten geblieben. Innsbruck Lotte Zörner Bibliographie AIS: Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, 8 vol., Zofingen 1928-40 BELLONI, S. 1991: Grammatica veneta, Battaglia Terme, La Galiverna/ Este BLASCo FERRER, E. 1990: «Die Klassifikation der oberitalienischen Dialekte: ein typologischer und kulturell-historischer Ansatz», RJ 41: 52-78 FüERSTER, W. (ed.) 1880: «Antica Parafrasi lombarda de! Neminem laedi nisi a se ipso di S. Giovanni Grisostomo», AG/ 7: 1-120 INEICHEN, G. 1957: «Die paduanische Mundart am Ende des 14. Jhdts. auf Grund des Erbario Carrarese», ZRPh. 73: 38-123 LAUSBERG, H. 1962: Romanische Sprachwissenschaft, 3 vol., Berlin LuRATI, 0. 1973: «Sul sistema verbale di quarta persona nell'Italia settentrionale (in particolare sul piem. -uma)», VRom. 32: 29-33 MArn PARRY, MARGARET 1984: The dialect of Cairo Montenotte. Unveröffentlichte Dissertation (PH.D) der University of Wales MANCZAK, W. 1976-77: «Piemontais kant-uma 'chant-ons'», Incontri linguistici 3/ 1: 63-69 MEYER LüBKE, W. 1894: Grammatik der romanischen Sprachen, vol. 2: Formenlehre. Leipzig PISANI, V. 1971: *H.J.SIMON: Beobachtungen an Mundarten Piemonts, Heidelberg 1967; AG/ 56: 75-81 RoHLFS, G. 1968: Grammatica storica dell'italiano e dei suoi dialetti. Traduzione di Salvatore Persichino, 3 vol. Torino RuzANTE: La Piovana. Testo originale a fronte. A cura di Lunov1co ZüRZI, Torino 1990 SALVIONI, C. 1898: «Annotazioni sistematiche alla ,Antica Parafrasi Lombarda de\' Neminem laedi nisi a se ipso di S. Giovanni Grisostomo> (Archivio VII 1-120) e alle ,Antiehe scritture lombarde, (Archivio IX 3-22)», AGI 14: 201-68 SIMON, H.J. 1967: Beobachtungen an Mundarten Piemonts. 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