Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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1996
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Kristol De StefaniANNE-MARGUERITE FRYBA-REBER, Albert Sechehaye et la syntaxe imaginative. Contribution a l'histoire de la linguistique saussurienne, Geneve (Droz) 1994, 239 p. (Publications du Cercle Ferdinand de Saussure 3)
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1996
I. Werlen
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Besprechungen - Comptes rendus ANNE-MARGUERITE FRYBA-REBER, Albert Sechehaye et la syntaxe imaginative. Contribution a l'histoire de la linguistique saussurienne, Geneve (Droz) 1994, 239 p. (Publications du Cercle Ferdinand de Saussure 3) Den meisten heutigen Sprachwissenschaftlern und Philologen ist Albert Sechehaye (1870- 1946) wenn überhaupt bekannt als einer der beiden Herausgeber des Cours de linguistique generale von Ferdinand de Saussure. Historisch Interessierte wissen vielleicht, daß er zur Genfer Schule der allgemeinen Sprachwissenschaft gehörte, mit Programme et methodes de la linguistique theorique (Paris, Champion 1908) ein seinerzeit viel beachtetes Werk schrieb, und daß er sich mit mehreren Artikeln um die Interpretation des Werkes von Ferdinand de Saussure verdient gemacht hat. Wenige dagegen werden seinen 1926 in der Collection linguistique der Societe linguistique de Paris als Band 20 erschienenen Essai sur la structure logique de la phrase (Paris, Champion) kennen, mit dem sich A.Fryba in ihrem Buch beschäftigt, einer stark veränderten Fassung ihrer Dissertation an der Universität Bern bei Rudolf Engler (was übrigens aus dem Text selbst nicht hervorgeht). Ihr Ausgangspunkt ist der einer hermeneutischen Historiographie der Sprachwissenschaft: «La presente etude se situe dans ce renouveau des travaux historiographiques: visant a privilegier en particulier le dialogue avec un auteur qui ne fut pas seulement l'editeur du livre appele a maniere decisive les recherches linguistiques du 20 e siede, mais qui elabora un systeme original et digne d'interet, elle insistera en particulier sur ! es facettes laissees jusque-la dans l'ombre plutöt que sur celles qui ont deja ete valorisees. » (15). Verstehen, was der Autor sagen wollte, sein Werk in seinem eigenen Wert darstellen und es in seiner Zeit situieren, das ist das Ziel einer verstehenden Historiographie - und nicht jenes beliebte Spiel der Suche nach der Legitimation einer eigenen Position aus der Geschichte der Sprachwissenschaft. Dennoch wird sich der Leser fragen, wie der Titel der Arbeit zustande kommt und zwar im doppelten Sinn. Zum ersten: Es ist von der syntaxe imaginative die Rede; Fryba führt den Term erst auf Seite 66 ein und verweist darauf, daß Sechehaye selbst ihn erst in einem Aufsatz von 1941 verwendet. Im Essai ist zwar von imagination häufig die Rede, der Terminus syntaxe imaginative dagegen erscheint nicht. Imagination ist das französische Äquivalent zur Einbildungskraft bei Kant (worauf Fryba selbst hinweist); damit ist die Erkenntnistheorie angesprochen. Fryba interpretiert so Sechehayes Ansatz von vornherein in Richtung auf ein erkenntnistheoretisches Problem. Liest man den Essai selbst, dann ließe sich auch eine andere Interpretation denken. Statt syntaxe wäre eher grammaire zu wählen. Sechehaye versteht nämlich unter grammaire «tout ce qui concerne l'organisation de la langue, sons, lexique, syntaxe » (Essai, p.4) und er unterscheidet eine grammaire syntagmatique, die es mit den Kombinationen der Zeichen zu tun hat, von einer grammaire associative, die das Zeichen als einzelnes betrifft, und einer grammaire phonologique. Im Essai steht für ihn die grammaire syntagmatique im Vordergrund. Die imagination ist weiter für Sechehaye ein Prozeß, bei dem das fait grammatical überhaupt erst gebildet wird: «Je fait grammatical a ... une valeur psychologique: il a ete cree et il existe pour fournir une forme a un element de pensee, et c'est dans la parole vivante que ces normes grammaticales sont nees. » (Essai, p.5). Man könnte Sechehayes Werk also auch lesen als 204 Besprechungen - Comptes rendus ein Werk über den Prozeß der Grammatikalisierung (etwas, worauf Fryba selbst hinweist: Auf Seite 59 verwendet sie grammaticalisation; Sechehaye spricht auch von normalisation. Man denkt dabei unwillkürlich an moderne Ansätze wie die emergent grammar von Paul Hopper). Zum zweiten: Der Untertitel spricht von einem Beitrag zur Geschichte der linguistique saussurienne. Fryba begründet dies auf Seite 16 mit einem Verweis auf Amackers Interpretation von linguistique saussurienne als der Sprachtheorie der Genfer Schule der allgemeinen Sprachwissenschaft. Daß Sechehaye wie auch Bally - Ferdinand de Saussure als Maitre betrachten, sei nicht in Abrede gestellt. Frybas Ansatz würde aber so scheint uns doch eher Sechehayes eigenes Denken in den Vordergrund rücken, wie das auch im Text selbst, vor allem im großen Hauptteil, geschieht. Eine Auseinandersetzung mit den Grundgedanken des CLG, die sich doch an einigen Punkten mit Sechehayes Ausführungen schlecht vereinbaren lassen, fehlt aber weitgehend. Die Arbeit beginnt mit einer Einführung (11-25), die Sechehayes wissenschaftliches Werk und seine Wirkung darstellt und die Ziele der Arbeit formuliert. Sie erfaßt in Sechehayes Werk drei Tendenzen: die Verdeutlichung der Prinzipien einer Saussureschen Linguistik, die Ausarbeitung einer Theorie der Grammatik und ein pädagogisches Bemühen (24). Eine eigentliche Biographie Sechehayes fehlt, doch sind an einigen Stellen biographische Einzelheiten aufgeführt, und Fryba verweist in einer Fußnote (17) auf einen Anhang, der eine Bibliographie der sprachwissenschaftlichen Werke und ein Verzeichnis der von Sechehaye an der Universität Genf gehaltenen Lehrveranstaltungen, sowie einige Briefe an Sechehaye und zwei Entwürfe eines Briefes von ihm enthält. Beigefügt sind mehrere Illustrationen, darunter eine Photographie von Teilnehmern des Zweiten Internationalen Linguistenkongresses auf einem Empfang im Chateau von Vufflens (dem Wohnsitz der Familie de Saussure) (nach p.192). Der erste Teil der Arbeit (Exposition, 26-61) trägt den Titel Le probleme grammatical. Darin wird das dargestellte Werk situiert als Seitenstück zu Programme et methodes. Sechehaye beschäftigt sich von 1913 bis 1926 mit dem Thema von Idee und Grammatik anders ausgedrückt von Inhalt und dessen Ausdruck in grammatischen Konstruktionen. Fryba verweist auf den zeitgenössischen Kontext jener Forscher, die an den Begriff der Inneren Form von Wilhelm von Humboldt anknüpfen, sowie auf Sechehayes Kritik an Wundts Sprachpsychologie, welche die Sprache letztlich vollständig auf psychologische Kategorien zurückführt. Der Essai findet allerdings nach seinem Erscheinen nicht das erhoffte Echo. In den wenigen erschienenen Rezensionen werden Sechehaye Dunkelheit des Gedankengangs, Abstraktheit der Ausführungen, Verschlungenheit der Argumentation vorgeworfen, neben durchaus positiven Würdigungen der Durchdringung eines schwierigen Gegenstandes. A.Fryba selbst wählt den glücklichen Vergleich mit einem mehrstimmigen Musikstück, in dem sich drei Stimmen - Grammatik, Theorie und Philosophie gegenseitig durchdringen, manchmal aber auch verheddern (56). Weiter merkt sie an, daß Sechehaye auch in seiner Methode vielfältig ist obwohl er programmatisch eine statische Sprachwissenschaft vertritt, wendet er doch immer wieder genetische Methoden an, wobei sowohl Kindersprache wie auch historisch ältere Stufen verwendet werden. Dies liegt allerdings im schon erwähnten Grundgedanken Sechehayes begründet: er untersucht eine Grammatik im Werden, den Weg von der je einzelnen Fügung in der parole zur grammatischen Regularität oder wie er es nennt - Normalität. Der zweite Teil mit dem Titel Exploration: Le disque lumineux et la penombre (63-138) enthält als eigentliches Hauptstück der Arbeit eine hermeneutische Lektüre des Essai. Der Titel ist den Schriften Sechehayes selbst entliehen: wie ein Scheinwerfer ein helles Licht auf eine Leinwand wirft, das an den Rändern langsam verdunkelt, so gibt es einen Kern von Grammatik, der eindeutig ist, und Ränder, an denen das Grammatische ins Vorgrammatische (pregrammatical) übergeht. Das Bild entspricht jenen moderneren Vorstellun- Besprechungen - Comptes rendus 205 gen, die unter dem Namen der prototypischen Kategorien bekannt sind. In 5 Teilkapiteln führt Fryba von der Begründung der Wortklassen (hier ist von syntaxe imaginative zurecht die Rede) als der kategorial je verschiedenen Fassung des gleichen Inhaltes, über phraseidee als Ausdruck eines kontextgebundenen Gedankens (mit den Ausdrucksformen des Ein- und Zweiwortsatzes [bei Sechehaye mono-reme und di-reme], der sein Subjekt im Kontext hat), zur phrase-pensee als Ausdruck eines objektiven und autonomen Gedankens, der sein Subjekt im Satz selbst hat. Danach führt Fryba den Begriff archetypes grammaticaux ein - Sechehaye selbst verwendet rapport fondamental. Die Begründung dafür ist, daß dieser Begriff sprechender und angemessener sei, weil er «Ja valeur productive des modeles en question» (87) besser zum Ausdruck bringe. Es scheint, als ob Fryba hier ansatzweise eine Uminterpretation von einer relationalen zu einer strukturbezogenen Denkweise vornimmt. Sechehaye kennt drei grundlegende Beziehungen: sujet predicat, principal complement, inherent exterieur. Fryba zeichnet nach, wie Sechehaye den Aufbau von Sätzen mit mehr als zwei Wörtern mit diesen grundlegenden Beziehungen erklärt. Am Beispiel des vieldiskutierten Begriffs des Subjekts etwa läßt sich das Ineinandergreifen von Grammatik, Logik und Psychologie bei Sechehaye deutlich machen. Ausgehend von der Idee, daß das Subjekt eine Art Verankerung (point d'appui) für die Aussage darstellt, sagt er, daß jene Wortart, welche den Inhalt unter der Form einer Entität darstelle, am besten geeignet sei, ein Subjekt auszudrücken, nämlich das Substantiv. Daraus aber folge nun nicht, «que tout ce qui est sujet psychologiquement autonome puisse necessairement s'exprimer par un substantif» (Essai, p. 45). Ein solches Subjekt könne auch ein komplexes Faktum oder eine bloße Ambiance sein, wie etwa im Lateinischen pluit. Der Fall des im Substantiv ausgedrückten Subjekts ist also ein Spezialfall, den die Grammatik ausgewählt hat. Und daraus folgt: «Ce que Ja grammaire exprime et reflete en premiere ligne, ce ne sont ni ! es operations d'une exacte logique ni les aspects varies de la vie psychologique. Ce sont la choses trop fines et trop delicates pour elle» (Essai, p. 46). Grammatik ist also für Sechehaye eine Auswahlfunktion die wesentlichen Kategorien der Grammatik sind Ausdruck einfacher und schematischer Gedanken. «Le substantif eleve a la dignite de sujet par excellence temoigne hautement de l'empire des categories de l'imagination sur Ja pensee grammaticalisee» (Essai, p. 46). Fryba verfolgt diese Art der Analyse für die verschiedenen Beziehungen des einfachen Satzes, für Rektion und Kongruenz, Attribution und Prädikation. Sechehaye kommt in Kapitel 5 (ab p. 91) des Essai zur Einsicht, daß seine Analyse des grammatischen Prozesses modern gesprochen nicht psychologisch real ist. Der Sprecher verbinde mit einem Substantiv nicht unbedingt die Vorstellung einer Entität. Es gibt also eine mögliche Spannung, ein mögliches Auseinanderfallen von grammatischer und psychologischer Struktur. Fryba führt für diese Diskussion die Unterscheidung von Thema und Rhema ein, um die terminologische Problematik von grammatischem und psychologischem Subjekt, resp. Prädikat zu vermeiden. Es werden damit Sätze wie ce livre, je ne le lirai pas (114) analysiert, in welchem das thematisierte ce livre psychologisches Subjekt (aber grammatisch direktes Objekt) ist. Das fünfte Teilkapitel behandelt schließlich die komplexen Sätze mit Einschluß von Koordination und Konjunktion. Am Ende jedes der fünf Teilkapitel gibt Fryba eine instruktive Tabelle von Kategorien und Beispielen, die zur Illustrierung der Kategorien dienen. Im abschließenden sechsten Teilkapitel des zweiten Teils, das den gleichen Titel trägt wie der zweite Teil insgesamt, faßt Fryba zusammen, was als leuchtende Scheibe und was als Halbschatten verstanden werden kann: Zentral für die Grammatik sind nach Sechehaye die grundlegenden Relationen der Koordination und der Subordination, wie sie sich in den Relationen von principal und complement und von sujet und predicat ausdrücken. In ihnen sind Kategorien der Imagination und des Denkens grammatikalisiert. Im Halbschatten dagegen befindet sich der individuelle Gebrauch der Sprache durch die Sprecher, die parole, aus der im Prozess der Grammatikalisierung neue grammatische Normen entstehen können. 206 Besprechungen - Comptes rendus Im dritten Teil mit dem Titel: Expansion. Les principes de logique et de psychologie (139-73) behandelt Fryba, über den Essai hinaus, die Wissenschaftstheorie Sechehayes (La theorie d'emboitement) einerseits und anderseits das Verhältnis von Sprache, Denken und Wirklichkeit (Les mirages linguistiques). Für die Wissenschaftstheorie wird auf Programme et methodes und die dort aufgestellte Klassifikation der Wissenschaften zurückgegriffen. Die Grundidee ist die, daß die Wissenschaften aufeinander aufbauen; für die Sprache würde das heißen, daß eine Theorie der Grammatik eine Theorie des pregrammatical (darunter versteht Sechehaye im wesentlichen die Kindersprache und die unterstellte primitivere Sprachform älterer Zivilisationen; vermutlich gibt es hier einen Einfluß des Herderschen Denkens über den Ursprung der Sprache) voraussetzen würde. Das Grammatische wendet dann Logik und Psychologie als seine Voraussetzungen an. Insofern ist Grammatik angewandte Logik und Psychologie. Das Problem von Sprache, Denken und Wirklichkeit bei Saussure in der Form der radikalen Arbitrarität des sprachlichen Zeichens aufgefaßt -wird nicht mehr anhand des Essai, sondern weiterer Publikationen Sechehayes abgehandelt. Entsprechend seiner Auffassung der Grammatik als einer werdenden, sich ständig weiterbildenden, kann er keine einseitige Abbildfunktion, aber auch nicht eine vollständige Autonomie der Sprache annehmen vielmehr wirkt die Sprache auf das Denken zurück, wie auch das Denken in der Grammatik geformt wird. Sie ist damit, wie Fryba mit zwei schönen Ausdrücken zeigt, sowohl Fessel (entrave) als auch Sprungbrett (tremplin) für das Denken. Der kurze Schlußteil (175-79) befaßt sich mit der Position Sechehayes innerhalb der Genfer Schule. Ausgehend von Sechehayes Selbstkennzeichung als theoricien par principe zeigt sie, daß zur Theorie das pädagogische Bemühen kommt (Sechehaye war Autor, resp. Mitautor mehrerer Lehrwerke) und daß dieses Bemühen letztlich auch auf die Theorie zurückwirkte, ja, daß konzeptuell in der Sprachwissenschaft Theorie und Pädagogik zusammengehörten. Die schon erwähnten Anhänge geben näheren Aufschluß über Sechehayes Leben, seine Lehrtätigkeit, die Aufnahme des Essai durch Gelehrte wie 0. Jespersen und andere. Abkürzungsverzeichnis, Bibliographie, Namenindex und Inhaltsverzeichnis schließen den Band, der im übrigen sehr wenige Druckfehler enthält; als ein Versehen ist uns nur ein falscher lebender Kolumnentitel auf den Seiten 67, 69, 71, 73 aufgefallen, wo Chapitre II statt Chapitre I steht. Der Versuch einer hermeneutischen Lektüre des Essai ist Fryba in weiten Teilen gut gelungen. Sie vermag ein nicht leicht lesbares, unsystematisch geschriebenes, durch schwankende Terminologie und Argumentation interpretationsfähiges und interpretationsbedürftiges Werk dem heutigen Leser aufzuschließen und es im Rahmen der Genfer Schule der allgemeinen Sprachwissenschaft zu situieren. Sie wählt dazu die Form einer systematisierenden Deskription. Die Technik, Sechehayes eigene Kategorien zu ersetzen durch sprechendere, wie archetype oder theme-rheme, wird vorsichtig angewandt, auch wenn wir dies im Fall des archetype eher für problematisch halten. Die hermeneutische Haltung Frybas führt zur eher konsensuellen Herausarbeitung der Grundzüge der Auffassung Sechehayes. Kritische Bemerkungen werden in die Fußnoten verbannt, wo sich ab und zu auch Informationen finden, die man eigentlich im Haupttext erwartet hätte so etwa die Entstehungsgeschichte des Essai in der Fußnote 6 auf Seite 31. Fryba stellt ihr Licht auch etwas unter den Scheffel, wenn sie die aufwendigen Arbeiten am Nachlaß Sechehayes nicht erwähnt, die es ihr erlaubten, im Dossier eine Reihe von nützlichen Informationen zu Sechehaye zu geben, die über ihr eigentliches Thema hinaus von Interesse sind. Insgesamt liegt hier ein Beitrag zur Kenntnis der Theorien der Genfer Schule der allgemeinen Sprachwissenschaft vor, der einen weitgehend unbekannt gewordenen Linguisten der heutigen Leserschaft zugänglich macht. I. Werten *
