Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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1996
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Kristol De StefaniWALTER BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Band 3: Karolingische Biographie, 750-920 n. Chr., Stuttgart (Hiersemann) 1991, XII + 484 p. (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 10)
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1996
G. Hilty
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Besprechungen - Comptes rendus 211 Eine «Bibliographie» (139-45) und der eingangs erwähnte «Anhang» beschließen das Buch. Das Hauptproblem dieser Arbeit liegt in meinen Augen darin, daß hier mit Kanonen ( = Teile I. bis III.) auf Spatzen ( = Teil IV.) geschossen wird. Der ganze theoretische Überbau kommt im zweiten Teil wirklich nur minimal zur Sprache und wirkt darum aufgesetzt, ja unmotiviert. Ganz abgesehen davon, scheint mir die Unterteilung in Theorie und Praxis immer fragwürdig, weil meiner Ansicht nach theoretische Modelle in der Analysearbeit nicht nur getestet, sondern im Zusammenspiel mit ihr überhaupt erst entwickelt werden müssen. Ich möchte in diesem speziellen Fall sogar noch einen Schritt weitergehen. Vieles, was in den Teilen 1. bis m. postuliert wird, kann meiner Meinung nach erst als Resultat einer Untersuchung formuliert werden. Kohärenz und sinnvolle Ganzheiten müssen durch ein Subjekt erst konstruiert werden (damit, so denke ich, wäre der Autor auch einverstanden). Dann kann man aber dieses Problem nicht von Anfang an - und quasi in abstracto lösen. Die Photographien im Anhang beweisen, daß der Autor offensichtlich (instinktiv) gewußt hat, wo die «pintadas» anfangen und wo sie aufhören. Und den Befragten sind die Bilder auch als klar begrenzte Einheiten präsentiert worden. Man hätte also auch ganz einfach so beginnen können: Bei den untersuchten «pintadas» handelt es sich um abgeschlossene Manifestationstotalitäten, denen in einem Akt der Semiosis durch eine Aussageinstanz ein Bedeutungsganzes zugeordnet werden soll. Die Art und Weise der Bedeutungskonstruktion soll hier untersucht werden. Über andere Dinge kann man sich streiten, sie obliegen letztlich den ganz persönlichen Ansichten eines jeden einzelnen. So postuliert Schnitzer von Anfang an und ohne eingehende Diskussion, daß die «pintadas» «Gebrauchstexte» sind. Ob und inwiefern sie auch ästhetische Qualitäten aufweisen und damit eventuell auch andere Funktionen als die der reinen (politischen) «Botschaftsübermittlung» erfüllen, wird nie diskutiert. Gefährlich finde ich es auch, von gewissen Elementen der «pintadas» als «parasemiotisch» und «bedeutungslos» zu sprechen (32). Im Postulat des kohärenten Ganzen ist für mich impliziert, daß alle Elemente eine sinnstiftende Rolle erfüllen. Auf Grund des Geäußerten kann ich mich dem uneingeschränkten Lob, welches Georg Kremnitz dieser Studie in seinem «Vorwort» (7-8) ausspricht, nicht anschließen, und dies obwohl der Autor über weite Strecken als ein sehr kritischer Denker erscheint (auf die Gefahr des Zuviels an Umsicht habe ich eingangs schon hingewiesen). Ich bin aber auch gerne dazu bereit, mein stellenweises Mißgefallen auf die letztendliche Unvereinbarkeit zweier semiotischer Ansätze zurückzuführen: der vom Autor gewählten Zeichentheorie (Peirce, Morris, Eco) und der von mir bevorzugten diskursiven Semiotik (Saussure, Hjelmslev, Greimas). Ursula Bähler * WALTER BERSCHIN, Biographie und Epochenstil im lateinischen Mittelalter, Band 3: Karolingische Biographie, 750-920 n. Chr., Stuttgart (Hiersemann) 1991, xn + 484 p. (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 10) Der hier zu besprechende Band ist der dritte Teil eines Standardwerks der mittellateinischen Philologie. Der bekannte Heidelberger Mittellateiner Walter Berschin hat es unternommen, eine Geschichte der Gattung Biographie zu schreiben. Der erste Band (1986) reichte von den Anfängen der Gattung in ihrer für das Mittelalter charakteristischen Ausprägung im spätantiken dritten Jahrhundert bis zu Gregor dem Großen (t 604). Der zweite Band (1988) untersuchte die Geschichte der Biographie in den westlichen Staaten des Frühmittelalters: «im merowingischen Gallien und Germanien (etwa 600-750), in Ita- 212 Besprechungen - Comptes rendus lien (bis zum Wirksamwerden des karolingischen Impulses in Rom um 870), Spanien (bis an die Schwelle des X. Jahrhunderts), Irland und England» (vn). Der dritte Band stellt die karolingische Epoche dar, deren Vorläufer um die Mitte des 8. Jahrhunderts erkennbar werden. Damit ist das Zentrum der Geschichte der Biographie im lateinischen Mittelalter erreicht. Die Lektüre des über 400 Seiten starken Textteils dieses Bandes nötigt dem Leser Bewunderung ab. Da werden rund 170 Biographien aufgrund einer profunden Kenntnis der Texte und einer souveränen Beherrschung der Sekundärliteratur anschaulich behandelt, und wenn man das im Anhang dargebotene Verzeichnis der literarisch und historisch bedeutenden Biographien eingeteilt in thematisch und geographisch begründete Gruppen - (431-53) sowie die Zeittafel (454-58) konsultiert, wird man noch auf mehr als 70 weitere Texte hingewiesen, «so daß in diesem Band insgesamt 245 biographische Texte literaturwissenschaftlich geordnet sind» (vrr). Der Zugang zu dieser Materialfülle wird erleichtert durch ein Verzeichnis der zitierten Handschriften (459-61) und ein umfassendes Namenregister (462-84) sowie durch ausführliche Inhaltsübersichten, die den drei Hauptteilen vorangestellt sind (1-3; 95-99; 333-35). Die Titel dieser Hauptteile lauten: «Aetas Bonifatiana: Neue Provinzen der Biographie», «Correctio: Biographien der zentralen Karolingerzeit» und «Stili diversitas: Die Epoche von 870 bis 920». Der vorliegende dritte Band der großangelegten Geschichte der Biographie im Mittelalter führt bis zu einer tiefen Zäsur in der lateinischen Literatur, in der, von 920 bis 960, fast alles literarische Leben erlischt. Der vierte Band wird zeigen, wie in der ottonischen Renaissance die Biographie erneut zur führenden Literaturgattung wird. Das Werk von W. Berschin richtet sich natürlich in erster Linie an den Mittellateiner. Gerade der vorliegende dritte Band ist aber auch für den Romanisten von unschätzbarem Wert. Berschin selbst weist schon im Vorwort auf einen bedeutsamen Zusammenhang hin: Um 800 liegt eine entscheidende Epochengrenze der lateinischen Sprach-, Stil- und Literaturgeschichte. Sie bringt die Erneuerung des grammatischen Lateinstudiums, eine deutliche Hebung des Ausdrucksniveaus und eine Wiederbelebung antiker literarischer Techniken. Gleichzeitig bahnt sich jedoch die Trennung von Sakral-, Schul- und Bildungssprache einerseits und Volkssprache andererseits an. Die «romanischen» Sprachen lösen sich vom Latein (vn). In die Epoche, welcher der dritte Band von Berschins Geschichte der Biographie im lateinischen Mittelalter gewidmet ist, fallen die ersten belegbaren Versuche zur Verschriftung von romanischen Texten. Diese Versuche müssen immer auch gemessen werden an der zeitgenössischen lateinischen Schrifttradition, und dafür ist das Werk von W. Berschin sehr hilfreich. Der Verfasser weist stets mit aller Deutlichkeit auf die verschiedenen Stilebenen des Lateins hin und schenkt dem «sich der romanischen Volkssprache nähernde[n] Spätlatein» (39) ebenso seine Aufmerksamkeit 1 wie den Bestrebungen Karls des Großen zur Wiederherstellung einer klassischen Latinität, das heißt der karolingischen Renaissance, die Berschin lieber mit «Correctio» bezeichnet (101). Wie er treffend sagt, konnten nicht mehr alle, welche die Sprache Roms redeten, die sich aus der «Correctio» ergebende Sprachbewegung mitvollziehen. «Zweifellos ist das <merowingische Latein> nicht identisch mit der Volkssprache. Aber es steht ihr näher als das karolingische Latein. Die Hebung des Stilniveaus verstärkt die alte Spannung zwischen gesprochenem und geschriebenem Latein, und diese wird so stark, daß die Verbindung reißt. Die romanischen Sprachen entstehen als neue Sprachen auf dem Grund des gesprochenen Lateins» (144s.).«Die Zeit 1 Cf. etwa die Bemerkungen zur Sprache des Liber S. Bonifatii (66), zur Vita S. Goaris (74) oder zur Sprache von Arbeo von Freising (89s.). Besprechungen - Comptes rendus 213 ist reif für den Schnitt, der die mater Latinitas von ihren Töchtern entbindet, und sie selber zu einem neuen Leben befreit» (146). In diesem Zusammenhang nimmt Berschin Gedanken aus einer Studie wieder auf, die er 1987 zusammen mit seinem Bruder Helmut Berschin über «Mittellatein und Romanisch» publiziert hatte 2, und reproduziert daraus auch eine Graphik, welche die Stilhöhe (Qualität) und die Quantität des literarischen Lateins durch die Jahrhunderte veranschaulichen soll 3. Der erste Satz des begleitenden Texts ist bezeichnend: «In der über mehr als zwei Jahrtausende zu verfolgenden Geschichte der lateinischen Sprache bildet die Zeit um 800 die kritische Phase. Hier trennen sich romanische Volkssprachen vom Latein, das gleichzeitig sein Niveau wieder deutlich hebt» (147). Aus dieser Entwicklung kann das entstehen, was Berschin karolingische Dreisprachigkeit nennt (315 N491). Gemeint ist die gleichzeitige Beherrschung von Lateinisch, Romanisch und Germanisch. Als erstes Zeugnis für solche Dreisprachigkeit erwähnt Berschin eine Stelle in der Vita des Adalhard von Corbie, wo der Autor, Paschasius Radbertus, von Adalhard sagt: Quem si vulgo audisses, dulcifluus emanabat; si vero idem barbara, quam theutiscam dicunt, lingua loqueretur, praeminebat claritatis eloquio; quod si latine iam ulterius prae aviditate dulcoris non erat spiritus (316 N491). Gleiche Dreisprachigkeit sollen auch die Schüler von Lupus von Ferrieres erwerben, welche der Lehrer zu Abt Markward ins Kloster Prüm schickt, «propter Germanicae linguae nanciscendam» (195 N269). In diesem Zusammenhang erwähnt Berschin auch das Kapitel von Nithards Historiae, in dem die Eidesleistung von Straßburg beschrieben wird (315 N491). Nach diesen Hinweisen, welche die allgemeine Bedeutung des Werks von Walter Berschin für die Romanisten belegen, sei es dem Rezensenten gestattet, noch kurz auf das Kapitel einzugehen, in dem W. Berschin die drei Gallus-Viten bespricht, die merowingische Vita S. Galli vetustissima, die frühkarolingische Bearbeitung durch Wetti und die hochkarolingische definitive Bearbeitung durch Walahfrid, die eine ungeheure Verbreitung gefunden hat und in mindestens 75 mittelalterlichen Handschriften erhalten ist (286), fast ebenso vielen wie die Vita Karoli Magni von Einhart (199) 4 . Daß dieses Kapitel den Rezensenten besonders interessiert hat, liegt auf der Hand, hat er doch in zahlreichen Studien auf die Bedeutung der Gallus-Viten für die Erforschung der romanisch-germanischen Sprachgeschichte der Nordostschweiz hingewiesen 5• Der sorgfältige sprachlich-stilistische Vergleich, den W. Berschin zwischen den drei Viten vorlegt (294-303), vermag noch deutlicher als die bisherige Forschung zu zeigen, wie die beiden Bearbeiter Wetti und Walahfrid den leider nur fragmentarisch erhaltenen ältesten Text verändert haben. Für die von mir wiederholt behandelte Frage, ob Gallus wirklich Ire gewesen sei, sind vor allem die in der Vetustissima leider nicht erhaltenen Eingangskapitel von Bedeutung. Sicher hat W. Berschin recht mit der Annahme, der Hinweis Walahfrids auf grammatische und sogar metrische Studien, die Gallus in seiner Jugend betrieben hätte, sei ein karolingischer Zusatz. Ob hingegen die Vetustissima bereits einen Hinweis auf die irische Herkunft von Gallus enthielt, was wohl aus der Tabelle von p. 287 zu schließen die Meinung von 2 ZRPh. 103 (1987): 1-19. 3 ZRPh. 103 (1987): 18. 4 Cf. dazu auch W. Berschin, «La Vita S. Galli», in: Le origini dell'Abbazia di Moggio e i suoi rapporti con l'Abbazia svizzera di San Gallo, Atti del convegno internazionale (Moggio, 5 dicembre 1992), Udine (Deputazione di Storia Patria per il Friuli) 1994: 79-84. 5 Cf. zuletzt VRom. 53 (1994): 138-55. 214 Besprechungen - Comptes rendus W. Berschin ist, bleibt für mich fraglich. Wie ich schon an anderer Stelle dargelegt habe 6 , halte ich es für durchaus möglich, daß Wetti und Walahfrid sich für die Hinweise auf die Herkunft von Gallus ausschließlich auf eine unrichtige, aber leicht verständliche -lokale Tradition sowie auf die Columban-Vita von Jonas stützten und die Vetustissima erst von dem Augenblick an als Quelle benützten, wo von den Geschehnissen in der «Altimania» 7 die Rede ist. Ein Letztes zum rezensierten Band: Die zum Teil anspruchsvollen Probleme der typographischen Gestaltung des Werks von W. Berschin sind in vorzüglicher Weise gelöst. G. Hilty * JACQUES BRES, La Narrativite, Louvain-la-Neuve (Duculot) 1994, 201 p. (Champs Linguistiques) Si un dominio ha sido frecuentado por los teorizadores de/ sobre la literatura en esta segunda mitad de siglo, este no ha sido otro que el de la narratologfa. Curiosamente, en la primera mitad de la centuria, el analisis del lenguaje literario se centr6 en el discurso de la poesfa, ambito en el que se podfan reconocer, con mayor facilidad, las valideces de los modelos te6ricos aducidos. Parecfa, asf, que los textos en prosa carecfan de principios o de rasgos formales que les permitieran reclamar una identidad literaria, precisa y coherente, que atrajera a los crfticos de la literatura (no asf, a sus historiadores, en cuyas taxonomfas tanto vale una obra en verso como en prosa). Es cierto que algunos formalistas - Tynjanov, Eichenbaum, Tomasevskij tendieron ya iniciales acercamientos al discurso prosfstico, pero en busca de verificaciones de otros conceptos: la qefinici6n de la «literaturidad», la delimitaci6n de los generos literarios, la propia configuraci6n lingüfstica de la prosa, en fin, su naturaleza estetica. Pero, hasta los afios cincuenta no puede hablarse de una direcci6n crftica, ocupada, exclusivamente, en dilucidar todos los fen6menos -16gicos, filos6ficos, discursivos y, por ello, lingüfsticos -atingentes a los textos narrativos. Corno es sabido, correspondera al estructuralismo frances («nouvelle vague», «nouveau roman», «nouvelle critique»: tanto da) tender las lfneas necesarias para convertir a la producci6n narrativa en un campo de estudio independiente de sus resultados: los textos considerados como objetos hist6ricos. Los fundamentos de esta nueva metodologfa reposan sobre la polemica pero necesaria -lectura que Levi-Strauss realiz6 de la Morfologfa del cuento de V. Propp y el paralelo redescubrimiento del legado formalista, impulsado por la labor de edici6n y de traducci6n a que el bulgaro Todorov se aplic6 a lo largo de los afios sesenta. Nacieron, asf, las primeras «gramaticas narratol6gicas», los primeros modelos actanciales, las primeras propuestas de «funciones» y de «acciones» narrativas. Una nueva ciencia, que iba mas alla de la crftica literaria, puesto que implicaba a otras areas epistemol6gicas, nacfa, en realidad, de los provocadores planteamientos con que los Barthes, Genette, Todorov, Bremond, Kristeva y Greimas (por citar solo a los mas conocidos) saltaron a la 6 G. HILTY, «Und wenn Gallus nicht Ire gewesen wäre? », in: Herausgeber Region St. Gallen '94, St. Gallen 1993: 133-44. 7 Mit diesem Namen, in dem sich ein bodensee-alemannisches Weltbild offenbart, bezeichnet die Vetustissima das Wirkungsfeld des heiligen Gallus von Tuggen bis Bregenz. W. Berschin kann zeigen, daß noch andere Werke anstelle von «Alemannia» diese etymologisch-gelehrte, doppelsinnige Variante (auch in den Formen «Altamania» und «Altemania») 'Hochland-Alemannenland' verwenden; cf. p. 79 N195.
