eJournals Vox Romanica 55/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1996
551 Kristol De Stefani

JEAN-MARIE KLINKENBERG, Des langues romanes. Introduction aux études de linguistique romane. Préface de Willy Bal, Louvain-la-Neuve (Duculot) 1994, 310 p. (Champs linguistiques)

121
1996
P. W.
vox5510258
258 Besprechungen - Comptes rendus Munde des dichtenden Volkes flossen, immer wieder in einem anhaltenden Wechselspiel von Mündlichkeit und Schriftlichkeit von literarischen, gedächtnis-stützenden Anwendungen begleitet wurden. Das scheint mir die wichtigste Botschaft dieses gewaltigen Unternehmens zu sein. Eine andere findet sich, bescheiden und versteckt, unter dem Artikel ÄHRE und lautet: «Mas vale hozada, que espiga alabada» - Du kannst dem vollen Korn ein Loblied singen; besser: du sichelst es ab und trägst es in deine Scheuer! R. Schenda * JEAN-MARIE KLINKENBERG, Des langues romanes. Introduction aux etudes de linguistique romane. Preface de Willy Bal, Louvain-la-Neuve (Duculot) 1994, 310 p. (Champs linguistiques) Es braucht schon einigen Mut, heute noch eine Einführung in die Romanistik zu schreiben: Einmal hat sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts dieses Wissensgebiet derart ausgeweitet, daß es kaum mehr überschaubar ist; überdies zerfällt seit etwa fünfundzwanzig Jahren das Fach Romanistik immer mehr in einzelsprachliche Philologien zumindest in Deutschland, in der Schweiz und in Frankreich, während es in Belgien und Italien doch noch solider im Universitätsbetrieb verankert ist. Jean-Marie Klinkenberg löst die anspruchsvolle Aufgabe einer derartigen Gesamtdarstellung im großen und ganzen sehr gut, wenn es auch im Detail sicher einiges auszusetzen gibt 1: Wir haben es, wie Willy Bal in seinem Vorwort (7ss.) schreibt, mit einer gekonnten Vulgarisierung zu tun. Charakteristisch für Klinkenbergs Ansatz ist, daß er gegen den «alleinseligmachenden Ansatz» der sog. guten Sprache ankämpft und versucht, eine Einführung in die Romanistik auf soziobzw. variationslinguistischer Basis vorzulegen. Diese Perspektivenwahl ist nicht nur Lippenbekenntnis, sondern prägt seine Darstellung (fast) durchgängig. In einer kurzen Einleitung (lls.) definiert Verf. zuerst sein Zielpublikum und seine Aufgabenstellung: Seine Darstellung richtet sich an Studienanfänger (und interessierte Laien) und bemüht sich, auch Lesern ohne Lateinkenntnisse gerecht zu werden. Im ersten Teil sollen die wesentlichen allgemeinen Charakteristika von (menschlicher) Sprache geliefert werden, der zweite Teil beschreibt die Entwicklung vom Latein zu den romanischen Sprachen, und im dritten Teil werden die verschiedenen romanischen Sprachen kurz charakterisiert. - Daran schließt dann ein kurzer Überblick über die gültigen Konventionen wie Lautschrift, allgemeine Symbole und Abkürzungen an (13s.). Der 1. Teil (La langue et sa variete; 15ss.) beginnt mit einem ersten Kapitel (17ss.), das den Titel Langues romanes et linguistique trägt. Zuerst werden Begriffe wie philologie, romanus und linguistique geklärt und dann auf die grundlegenden Dichotomien langue 2/ parole, linguistique externellinguistique interne und synchronie/ diachronie eingegangen. Anschließend (24) geht Klinkenberg kurz auf die Komponenten einer Grammatik ein, die 1 Cf. hierzu auch unten. 2 In diesem Zusammenhang findet sich (21) allerdings eine wenig glückliche Formulierung: «... ! es manifestations concretes constituant la parole ne sont possibles que parce que le systeme ! es produit»: Das System produziert überhaupt nichts (weder synchronisch noch diachronisch); es sind vielmehr die Sprecher, die mit Hilfe ihrer faculte de langage produktiv werden. - Ähnliche Formulierungsschwächen sind leider nicht selten; wir werden aber darauf verzichten, sie im einzelnen aufzulisten. Für eine zweite Auflage wäre aber in diesem Bereich noch einiges nachzubessern. Besprechungen - Comptes rendus 259 für ihn in der Phonologie, dem Lexikon, der Syntax und der Pragmatik zu sehen sind, wobei die letzten drei die Grundlage für die Semantik liefern würden. Die Morphologie wird nicht als eigener Bereich angesehen, sondern vielmehr als Teil des Lexikons betrachtet, was aber wohl auch eine keineswegs allgemein akzeptierte - Gleichsetzung von Morphologie und Wortbildung (Lexematik) impliziert. An diese grobe Skizze schließen sich dann begriffliche und terminologische Klärungen zu den einzelnen Komponenten an (25ss.): im phonologischen Bereich Phonem, Phonetik, distinktiver Zug, Assimilation, Sonorisierung; im lexikalischen Bereich Wort, Morphem, Monem, Lexikologie, Lexikographie 3; im syntaktischen Bereich (definiert als Regelwerk für die Relation zwischen Einheiten) Syntagma und Grammatikalität bzw. Agrammatikalität; im pragmatischen Bereich 4 enonce, enonciation und Kooperationsprinzip. Wie dieser knappe Überblick zeigt, bleiben hier viele Wünsche offen: die Auswahl der diskutierten Termini scheint reichlich willkürlich, und es kann keine Rede davon sein, daß alle wichtigen (oder auch nur für den Anfänger wichtigen) Begriffe angesprochen würden. Das 2. Kapitel (29ss.) trägt den Titel La variete linguistique. Verf. betont, daß die Diversität innerhalb einer angeblich «homogenen» Sprache bis zum unüberbrückbaren Kommunikationshindernis gehen kann, wobei die Sprachen in der diatopischen (espace), der diastratischen (societe) und der diachronischen (temps) Dimension variieren könnten (30). Problematisch ist dabei einmal die diachronische Dimension, die sich zwar auch bei Flydal findet 5 , von Coseriu aber als in der Synchronie irrelevant wieder eliminiert wird; die auf die Diachronie zurückzuführenden Phänomene werden dann je nachdem der einen oder anderen der übrigen Variationsachsen zugewiesen 6 . Erstaunlich ist auch, daß es für Klinkenberg keine diaphasische (stilistische) Variationsachse gibt; diese Phänomene werden von ihm vielmehr ohne weitere Begründung der Diastratie zugeordnet (32). - Wenn man auch Vorbehalte gegenüber dem hier vorgeführten Variationsmodell haben mag 7 , so ist es sicher richtig, wie der Verf. zu unterstreichen, daß die Variationsachsen nicht unabhängig voneinander sind (31) und daß in jeder Sprache antagonistische Kräfte wirksam werden, die einerseits zu einer Vereinheitlichung, andererseits zu einer Diversifikation streben (zentripetale und zentrifugale Kräfte); je nachdem, ob die Struktur einer Gesellschaft kommunikationsfreundlich oder -feindlich ist, dominieren die einen oder anderen (32s.). - Im Bereich der räumlichen Diversifikation werden Dialekte und Standard einander gegenübergestellt. Dabei kennt Klinkenberg drei verschiedene Dialektbegriffe (34ss.): 1. jede geographische Diversifikation (z.B. fram; ais regionaux); 2. Phänomene, die das Produkt eines früheren Sprachzustandes sind (jede Varietät ist gleichrangig, z.B. Dialekte bzw. patois 8 ); 3. soziale Variationen, d.h. alles, was vom Standard abweicht bzw. diesem untergeordnet ist (diglossische Situation). Diese Dreiteilung ist nicht nur schwer nachzu- 3 In diesem Zusammenhang findet sich eine eigenartige Charakterisierung, die «a cheval sur Je phonologique et Je Jexical» wäre (26). Hier zeigt sich, wohin es führt, wenn man der Morphologie sowohl die Signifikanten-Analyse als auch die Wortbildung zuweist: sie wird schillernd und scheint ihre Existenzberechtigung als eigener Teilbereich zu verlieren. 4 Dieser ist recht schwach als Komplex von sozialen Regeln definiert (27). 5 Cf. L. FLYDAL, «Remarques sur certains rapports entre Je style et l'etat de langue», NTS 16 (1952): 241-58. 6 Cf. E. COSERIU, Einführung in die strukturelle Betrachtung des Wortschatzes, Tübingen 1970: 32ss.; rn., Probleme der strukturellen Semantik, Tübingen 1973: 38ss. 7 Für ein differenzierteres Modell cf. P. WuNDERLI, «Le probleme des entites diastratiques», in: RrKA VAN DEYCK (ed.), Diatopie, diachronie, diastratie. Approches des variations linguistiques, Gand 1992: 59-77. 8 Dialekt und patois werden aufgrund der negativen Konnotation des zweiten Begriffs voneinander abgegrenzt. 260 Besprechungen - Comptes rendus vollziehen, sie hat v.a. auch den Nachteil, daß sie nicht mit derjenigen bei Coseriu und Koch/ Oesterreicher übereinstimmt 9 • Anschließend wird dann die Ausgliederung der Dialekte diskutiert (Isoglossen, Isoglossenbündel, Dialektgrenzen und natürliche Grenzen; 36ss.), es wird auf den Standard als Instrument weiträumiger Kommunikation eingegangen, das meist in hohem Maße institutionalisiert ist (38ss.), und schließlich werden auch noch die verschiedenen Möglichkeiten der Entstehung eines Standards skizziert, die keineswegs an die Existenz einer Zentralmacht gebunden sein muß (40). - Im Bereich der sozialen Diversifikation unterscheidet Verf. variation des attitudes und variation des pratiques, im zweiten Bereich wieder zwischen der sozialen Situation der Sprecher und dem Kommunikationskontext 10 . Während sich die Darstellung der sozialen Situation der Sprecher im üblichen Rahmen bewegt und Faktoren wie die ökonomische Situation, den sozialen Status, die Ausbildung usw. als Definitionskriterien benennt (43ss.), fällt die Beschreibung des Kommunikationskontextes z.T. doch recht dürftig aus. Warum werden z.B. bei den Kommunikationssituationen nur die formelle und die informelle genannt, und nicht das ganze Spektrum von Martin Joos zitiert 11 ? Sicher ist es ja auch richtig, daß jeder Sprecher über verschiedene Register verfügt, aber es ist schwer verständlich, warum in diesem Zusammenhang auf Bernstein verwiesen wird (44), der doch gerade keine Multiregister-Konzeption vertritt. Auch bezüglich des Referenzkontextes gibt es ähnliche Schwachpunkte. So behauptet Klinkenberg z.B. bezüglich des Wallonischen, es sei in dieser Varietät unmöglich, über Semiotik zu diskutieren, weil dieses «n'y est pas apte, non seulement parce qu'il ne possede pas la terminologie adequate, mais surtout, parce qu'il ne presente pas la legitimite necessaire pour se faire le vehicule de ce sujet grave» (47). Dem kann man nur entgegenhalten: Warum können denn Schweizer (in Schweizerdeutsch) über jedes wissenschaftliche Thema diskutieren? Es gibt keine Sprachvarietät, in der man nicht über alles reden könnte (das ist ja gerade der Definitionskern jeder natürlichen Sprache), es gibt nur attitudinale Blockaden bei den Sprechern! Dieses Problem gehört somit in das nachfolgende Unterkapitel (48ss.), in dem die Rolle der (oft irrationalen und linguistisch nicht haltbaren) Sprecherurteile diskutiert wird. Das Kapitel schließt mit einer Skizze der Normproblematik (50ss.), in der objektive und evaluative (deskriptive und präskriptive) Norm einander gegenübergestellt werden. Der ein Monopol beanspruchende Standard bzw. bon usage fußt auf geographischen, sozialen, logischen, kommunikativen, ästhetischen usw. Kriterien, die in zahlreichen Fällen fiktiven Charakter haben und ideologisch unterwandert sind: sie haben oft keine andere Funktion, als die, den Machtanspruch einer dominierenden Schicht zu stützen (Purismus). Bei den Außenstehenden bzw. Nicht- Norm-Sprechern führt der ideologisch-puristische Druck sehr oft zu einer mehr oder weniger deutlichen Unterschätzung der eigenen Fähigkeiten (53). Den Abschluß bilden einige Bemerkungen zu den varietes speciales (sectorielles), d.h. den Fachsprachen und Terminologien, die nach Klinkenberg nicht den Status von Sprachen, sondern höchstens denjenigen von Terminologien beanspruchen können. Charakteristisch für sie ist das Streben nach Bi-Univozität, d.h. dem Ausschluß jeder Polysemie. Kapitel 3 (57ss.) ist der Pluralite de la langue gewidmet (57ss.). Zuerst diskutiert Verf. die Begriffe Bilinguismus und Diglossie und betont zurecht, daß die Grenze zwischen den 9 Cf. P. KocH/ W. ÜESTERREICHER, Gesprochene Sprache in der Romania: 1'ranzösisch, Italienisch, Spanisch, Tübingen 1990: 131s. 10 Hier fehlt v.a. ein Verweis auf die Arbeiten von Halliday, cf. z.B. M.A.K. HALLIDAYI A.MclNTOSH/ P. STREVENS, The Linguistic Sciences and Language Teaching, London 1964: 87ss.; M. A.K. HALLIDAY, Language as Social Semiotic. The Social Interpretation of Language and Meaning, London 1978: 21ss. 11 Cf. M.Joos, «The Five C! ocks», International Journal of American Linguistics 28 (1962). Besprechungen - Comptes rendus 261 beiden Bereichen fließend sei. Während im Falle der Diglossie eine gleichrangige Beherrschung der beiden in Konkurrenz zueinander stehenden Varietäten durchaus häufig ist, ist im Falle des Bilinguismus meist ein deutliches Ungleichgewicht hinsichtlich der Kriterien aktiv/ passiv und schriftlich/ mündlich festzustellen. Überdies ist von großer Bedeutung, ob die Zweisprachigkeit als «de promotion» oder «de concession» zu gelten hat. Anschließend wendet sich Verf. der Sprachenexpansion zu und diskutiert nacheinander mögliche Gründe für die Ausbreitung eines Idioms und die verschiedenen Expansionsarten (60ss.); dieser Teil vermag allerdings wenig zu befriedigen, denn die Darstellung ist eigentlich nicht mehr als eine thematisch geordnete, kurz kommentierte Terminologieliste. Überzeugender ist da schon die anschließende Diskussion der Konsequenzen von Bilinguismus und Diglossie (65ss.): Hier werden nacheinander (individuelle und kollektive) Interferenz, Entlehnung und der Mythos von der «reinen» Sprache behandelt, wobei nicht klar ist, ob Klinkenberg Interferenz und Entlehnung unterscheidet oder nicht. Mir scheint, eine Entlehnung sei nichts anderes als eine kollektive Interferenz, während die eigentliche Interferenz individuellen Charakter hätte und deshalb in der Regel auch als fehlerhaft angesehen wird. Es folgt dann eine Klassifikation der Interferenzerscheinungen nach «grammatikalischen» Gesichtspunkten (phonetisch, syntaktisch, lexikalisch, semantisch), es werden die Adaptationsphänomene kurz angesprochen und schließlich nach dem Verhältnis der beteiligten Sprachen klassiert (Substrat, Superstrat, Adstrat). Zur Sprache kommen in diesem Zusammenhang auch die «Sprachrepräse' ntationen» (ideologische Äußerungen, Sprachmythen, Ursprungsspekulationen, Beziehung zwischen Rasse und Sprache). Ein weiteres Unterkapitel ist den langues vehiculaires gewidmet (70ss.), für die Klinkenberg drei verschiedene Typen unterscheidet: natürliche Sprachen (z.B. Englisch), Mischsprachen (Pidgins) und «Universalsprachen» (z.B. Esperanto); daß daran auch eine Skizze der Kreolsprachenproblematik anschließt (73ss.), drängt sich gewissermaßen auf. Zum Abschluß des Kapitels wird dann noch auf den Sprachinterventionismus und insbesondere auf den Sprachpurismus, die Sprachpolitik und die Sprachplanung eingegangen. Das 4. Kapitel ist der Evolution et parente des langues gewidmet (78ss.). Sprachwandel ist (auch) für Klinkenberg ein Charakteristikum jeder natürlichen Sprache, wobei der Wandel je nachdem mehr oder weniger schnell, spürbar, tiefgreifend und systematisch sein kann. In aller Regel lassen sich typische Korrelationen zwischen diesen Aspekten feststellen: ein langsamer Wandel ist meist unspürbar und systematisch, ein schneller Wandel meist spürbar und erratisch. Anschließend stellt Verf. die (an sich nicht statthafte) Frage nach den Gründen des Sprachwandels 12 , wobei er entschieden alle monokausalen Erklärungen ablehnt und für einen plurifaktoriellen Erklärungsansatz plädiert, in dessen Rahmen zwischen internen und externen Komponenten unterschieden wird. Als wichtigste Faktoren nennt Klinkenberg die Sprachökonomie, die Analogie, die Sprachkontakte und die sozialen Veränderungen (sowohl im referentiellen, im instrumentalen als auch im soziologischen Bereich). - Daran schließen dann einige Ausführungen zu Sprachverwandtschaft und Sprachklassifikation an (86ss.). Klinkenberg unterscheidet zwischen genetischer, geographischer und typologischer Verwandtschaft, wobei diese Beziehungen entstehungsgeschichtlich auf Motivation (Onomatopoetika), Interferenzen oder aber auch auf Zufällen beruhen können. Bei genetischer Verwandtschaft gibt es immer auch systematische und funktionelle Gemeinsamkeiten. - Hinsichtlich der genetischen Klassifikation geht Verf. sehr ausführlich nach meiner Auffassung für eine Einführung in die Romanistik viel zu ausführlich auf die indogermanische Sprachfamilie ein, die elf oder zwölf 12 Überraschen muß in diesem Zusammenhang, daß R. KELLER, Sprachwandel, Tübingen 1990, nicht erwähnt wird und auch in der Bibliographie nicht erscheint. 262 Besprechungen - Comptes rendus Sprachgruppen umfassen soll 13. Auf die übrigen Sprachfamilien (Chamito-Semitisch, Ural-Altaisch, Sino-Austrisch, Niger-Cordofan, Nilo-Sahar usw.; 97-99) wird bedeutend kürzer, gleichwohl aber noch zu ausführlich eingegangen. Die an die geographische Klassifikation anschließende Darstellung der typologischen Klassifikation basiert einerseits auf der klassischen Typologie (Schlegel), andererseits auf derjenigen von Greenberg; erstaunlicherweise wird aber den romanistischen Versuchen (Coseriu/ Eckert, Harris, lneichen, Körner, Ramat, Wunderli usw.) in keiner Weise Rechnung getragen sicher ein schweres Defizit, das für eine Einführung in die Romanistik nicht entschuldbar ist. Der 2. Teil der Darstellung (103ss.) beginnt mit Kapitel 5, das den Titel L'origine des langues romanes: le latin trägt (105ss.). Bemerkenswert (weil leider noch immer nicht allgemein anerkannt) ist die Tatsache, daß Klinkenberg mit kaum mehr zu überbietender Deutlichkeit darauf insistiert, daß das sog. «klassische Latein» nur eine unter vielen Varietäten des Lateins ist; er unterstreicht dabei ebenso deutlich, daß die Romanistik und die Klassische Philologie hier vollkommen unterschiedliche und letztlich inkompatible Betrachtungsweisen pflegen. Nach diesen einleitenden Bemerkungen geht Verf. dann auf die interne Geschichte des Lateins ein (106ss.); in diesem Zusammenhang wird v.a. die Periodisierung in vorklassisches, klassisches, nachklassisches Latein, Spätlatein, romanisches Latein und Mittellatein eingegangen. Klinkenberg betont, daß es bei den Römern durchaus ein Bewußtsein der Heterogenität des sog. Vulgärlateins gegeben habe, das weder mit der Sprache der niederen Schichten gleichgesetzt noch als Weiterentwicklung des klassischen Lateins angesehen werden dürfe: wir haben es vielmehr mit einer Diversifikation der gesprochenen lateinischen Sprache in der (späteren) Romania zu tun (110). Während das klassische Latein eine Quantitätsopposition im Bereich der (betonten) Vokale kennen und den Akzent einzig durch eine Tonhöhenvariation zum Ausdruck bringen würde, hätten wir im Vulgärlatein spätestens seit dem 4. Jh. einen Intensitätsakzent und und eine vokalische Qualitätsopposition (offen/ geschlossen). Hierzu wäre zweierlei zu sagen. Einmal: Die Aussagen zu den Akzentverhältnissen sind naiv und wiederholen nur ein weiteres Mal die traditionelle Irrlehre von einem Übergang musikalischer Akzent/ Intensitätsakzent. Die moderne Akzent- und Intonationsforschung hat hinreichend gezeigt, daß Tonhöhe, Intensität und Dauer in aller Regel gleichzeitig als unterschiedliche Parameter an den Akzentphänomenen beteiligt sind, wobei eine auditive Unterscheidung nicht möglich ist und das eine je nach der einzelsprachlichen Perzeptionstradition ohne weiteres für das andere gehalten werden kann: die verschiedenen Parameter stehen in einer suppletiv-kompensatorischen Relation zueinander 1 4 , was es unmöglich macht, so pauschal von einem Übergang von der Tonhöhenzur Intensitätsmarkierung zu sprechen. Dann: Es ist unbestritten, daß die klassische Metrik auf Quantitäten basiert. Davon ausgehend aber zu schließen, das Quantitätensystem habe für das klassische Latein überhaupt Gültigkeit, ist zumindest voreilig. Zumindest ist, so weit ich sehe, noch nirgends der schlüssige Nachweis geführt worden, daß die Quantität auch in nicht gebundener Sprache 13 In Wirklichkeit sind es aber bei Klinkenberg deren dreizehn. - In diesem Zusammenhang wird auch das Standardisierungsproblem nochmals angesprochen. Wie Klinkenberg allerdings behaupten kann, selbst in der Schweiz gebe es heute eine Tendenz zur Standardisierung (95), ist mir ziemlich schleierhaft. Von einer Standardisierung in Richtung auf das Schriftdeutsche kann schon gar keine Rede sein, denn im Moment erleben wir eine gewaltige Dialektwelle. Richtig ist allerdings, daß die Charakteristika der einzelnen Dialekte sich unter dem Einfluß der Massenmedien immer mehr verschleifen aber auch so etwas wie ein schweizerdeutscher Standard und damit eine schweizerdeutsche Schriftsprache ist noch lange nicht in Sicht. 14 Cf. hierzu P. WuNDERLI, Französische Intonationsforschung, Tübingen 1978: 46ss. et passim. Besprechungen - Comptes rendus 263 distinktive Funktion hat, und da allgemein Kürze und Öffnung einerseits, Länge und Schließung andererseits korrelieren, besteht durchaus die Möglichkeit, daß wir es auch hier mit einer klassischen, nie weiter hinterfragten Irrlehre zu tun haben, die auf einer Art synästhetischer Reinterpretation beruht. In diesem leider allzu traditionellen Rahmen werden dann die wichtigsten Charakteristika des Vulgärlateins (gegenüber dem wirklichen oder vermeintlichen klassischen Latein) kurz skizziert: Quantitätenkollaps und die sich daraus ergebenden Vokalsysteme in der Romania; Diphthongierung; Reduktion der alten Diphthonge; Reduktion von Konsonantengruppen; Verlust gewisser Auslautkonsonanten. Entsprechend wird für die Morphologie verfahren: Reduktion der Deklinationen; Verlust des Neutrums; Reduktion der Kasus und Ersatz der Kasus durch Präpositionalphrasen, wobei nach Präpositionen zunehmend der Akkusativ generalisiert wird; Tendenz zu Periphrasen im verbalen Bereich; analytische Komparative und Superlative; Übergang von einem dreistufigen zu einem zweistufigen System bei den Demonstrativa; Entstehung des Artikels aus «abgeschwächten» Demonstrativa, wobei die großen Linien durchaus korrekt sind, die Details aber doch einiges zu wünschen übriglassen. Im Bereich der Syntax werden der häufige Ersatz des Konjunktivs durch den Indikativ, der Ersatz des Acl durch Kompletivsätze und die (angebliche) Fixierung der Wortordnung 15 angeführt. - Das Unterkapitel schließt mit einem kurzen Überblick über die (spärlichen) Quellen, die uns Informationen über das Vulgärlatein zu liefern imstande sind (116ss.). Es folgt dann ein Überblick über die Expansion und Diversifikation des Lateins, wobei Verf. zu Recht betont, daß die neu eroberten Gebiete zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten romanisiert worden sind und daß die (meist von städtischen Zentren ausgehende) Romanisierung jeweils auch vom Tempo her stark variieren konnte. Daraus resultiert (in Verbindung mit den jeweils unterschiedlichen Substraten) ein in hohem Maße heterogenes Latein, das die Grundlage für die romanischen Sprachen bildet. Neben diesen zentrifugalen Kräften gibt es natürlich auch zentripetale Faktoren wie: Verkehrs- und Handelswege, Mythos der lat. «Einheit», zentralistische Struktur des Imperiums, konservativer Charakter des Lat. in den Gebieten, wo es Minoritätensprache ist, usw.; die Diversifikationsfaktoren sind aber eindeutig dominant. So kann es denn nicht erstaunen, daß es schließlich zu einer Segmentierung der Romania kommt (137ss.). V.a. zwischen dem 4. und dem 6. Jh. nehmen die Differenzierungsprozesse rasch zu, u. a. auch aufgrund der steigenden Frequenz der Invasionen von Völkern und Stämmen, die man früher geglaubt hatte integrieren zu können. Klinkenberg gibt einen Überblick über die Wanderungen der germanischen Stämme (139ss.) und der übrigen Völker (141ss.), um dann auf die sprachlichen Folgen einzugehen (144ss.). Die großen Verschiebungen sind mit dem 9. Jh. im wesentlichen abgeschlossen, die Sprachgrenzen wieder stabil. Allerdings ist die sprachliche Einheit des Imperiums verlorengegangen; nur noch die Kirche bildet eine letzte Klammer für die auseinanderstrebenden Teile; parallel zur sprachlichen Aufsplitterung läuft auch der politische und der wirtschaftliche «Regionalisierungsprozeß». So entstehen dann irgendeinmal die romanischen Sprachen wann genau, läßt sich nicht feststellen, und Klinkenberg betont durchaus zu Recht, daß diese Fragestellung eigentlich unsinnig sei (151). Sicher ist aber, daß praktisch überall in der Romania die Alterität gegenüber dem Latein ins Bewußtsein tritt. Folgen dieses kognitiven Prozesses sind einerseits die karolingische Reform, andererseits das Auftreten der ersten romanischen Texte. Allerdings bleibt das Latein für die romanischen Sprachen noch 15 Auch hier muß wieder gesagt werden, daß Klinkenberg einfach traditionelle Klischees kolportiert; wirklich «frei» ist die Wortordnung im Lat. nur in der poetischen Sprache, während in nicht literarischen Texten bereits in klassischer Zeit der SVO-Typus eindeutig dominiert. 264 Besprechungen - Comptes rendus lange eine Art Leitbild, das auch als Adstrat fungiert und zur Entstehung von zahlreichen etymologischen Doubletten Anlaß gibt. Diese Leitbildfunktion schlägt sich auch in der hochgradig am Latein orientierten Graphie der ersten Texte nieder. Genau wie die karolingische Renaissance letztlich die Volkssprache stärkt, so wird dies auch in der Renaissance des 16. Jh.s wieder der Fall sein. Im 3. Teil (Tableau des langues romanes; 155ss.) werden dann die einzelnen romanischen Sprachen kurz vorgestellt. Für Klinkenberg gibt es deren zehn, denen er je nachdem zweieinhalb (Dalmatisch) bis zweiunddreißig (Französisch) Seiten widmet. Das Vorgehen ist für jedes dieser Kapitel im Prinzip das gleiche, wenn auch je nach Bedeutung der einzelnen Sprachen und nach Forschungslage gewisse Variationen festzustellen sind: Es wird zuerst ein für repräsentativ gehaltener Text gegeben, anschließend werden einige sprachliche (phonetische, morphologische, syntaktische 16) Charakteristika herausgestellt, die dialektale Gliederung diskutiert, die historischen und soziolinguistischen Besonderheiten erwähnt, um dann kurz auf die ältesten Texte einzu 9 ehen. So werden nacheinander abgehandelt: Rumänisch (161ss.), Dalmatisch (269ss.) 1 , Italienisch (173ss.), Sardisch (183ss.), Räto-Friulanisch (189ss.) 18 , Spanisch (199ss.), Portugiesisch (209ss.), Katalanisch (207ss.), Okzitanisch (223ss.), Französisch einschließlich Kreolsprachen und Quebecois 19 (231ss.). Nicht ganz einsichtig ist die von Klinkenberg gewählte Reihenfolge der Sprachen. Im Prinzip scheint er in traditioneller Weise von Osten nach Westen vorzugehen, doch wird dieses Prinzip nicht durchgehalten, denn dann müßten das Räto-Friulanische vor dem Italienischen, Französich, Okzitanisch und Katalanisch vor dem Spanischen und Portugiesischen stehen. Auch sonst mag diese Kurzdarstellung nicht immer zu überzeugen auch wenn man in Rechnung stellt, daß der zur Verfügung stehende Platz sehr begrenzt war und Verf. so nicht allzu sehr in die Tiefe gehen konnte. Hier nur kurz einige Punkte, die sicher einer Nachbesserung bedürfen: - Die Textauswahl ist außerordentlich heterogen. Meist handelt es sich um Gebrauchstexte, für das Italienische dagegen wird ein poetischer Text von Montale (173), für das Spanische ein ebensolcher von Antonio Machado (199) gewählt. Verstexte sind aber in der Regel (aufgrund der poetischen Lizenzen) wenig geeignet, die Eigenheiten einer Sprache in den Blick treten zu lassen! Zudem wäre es für die bessere Vergleichbarkeit sicher vorzuziehen gewesen, wenn alle Textbeispiele dem gleichen Typ oder mindestens eng verwandten Typen angehören würden. - Im Falle des Italienischen wird unter der Morphologie (174) das Problem der nominalen Pluralendungen überhaupt nicht angesprochen; v.a. ein Verweis auf die Arbeiten von P. Aebischer drängt sich hier auf. - Für das Sardische wird darauf verwiesen, daß der Artikel nicht auf ILLE, sondern auf IPSE zurückgehe (184). Dies ist sicher nicht zu beanstanden, aber es wäre zur richtigen Gewichtigung dieses Aspekts wichtig gewesen, daß auf IPSE zurückgehende Artikelformen auch anderweitig bezeugt sind bzw. waren (z.B. im Okzitanischen). - Ähnlich verhält es sich mit dem mit VENIRE gebildeten Passiv im Surselvischen (191): Warum wird nicht erwähnt, daß auch das Italienische diesen Typus als (markiertes) Vorgangspassiv kennt (viene battuto)? 16 Auf das Lexikon wird in diesem Zusammenhang überhaupt nicht eingegangen. 17 Dieses Kapitel ist hinsichtlich der Charakterisierung außerordentlich dürftig. 18 Schon die nicht sonderlich geläufige Namenwahl macht deutlich, daß Klinkenberg (wohl zu Recht) gewisse Zweifel an der Einheit von Rätoromanisch und Friulanisch hat; auch im Text wird kurz auf das Zuordnungsproblem des Friulanischen verwiesen. 19 Warum fehlen dann aber Akadisch, Louisiana-French usw.? Besprechungen - Comptes rendus 265 - Bezüglich des Akzents im Spanischen (200) und im Fränkischen (231) finden sich auch hier wieder die bereits kritisierten traditionellen Auffassungen: Es würde sich um reine Intensitätsakzente handeln. - Das Frankoprovenzalische wird von Klinkenberg nicht als eigene Sprache angesehen, sondern als eine archaische Ausprägung der langue d'oil (239). Diese Argumentation ist aus synchronischer Sicht inkonsistent. Selbst wenn Französisch und Frankoprovenzalisch sich eine Zeitlang gemeinsam entwickelt haben sollten, haben sich ihre Wege eben doch einmal getrennt, das Frankoprovenzalische ist (mehr oder weniger) stehengeblieben, das Französische dagegen hat eine rasante Entwicklung erfahren, so daß es heute genügend Unterschiede gibt, die es zumindest möglich machen, zwei verschiedene Sprachen zu postulieren. Wollte man wie Klinkenberg argumentieren, dann dürfte man auch das Sardische nicht als eigene Sprache betrachten, sondern man müßte es als archaische Stufe des Italienischen ansehen, ja man dürfte überhaupt nicht zwischen verschiedenen romanischen Sprachen unterscheiden, sondern müßte ein Gesamtromanisch postulieren. Damit soll aber noch keineswegs eine Zuordnung des Frankoprovenzalischen zum Französischen einfach abgelehnt werden, denn es gibt durchaus Faktoren, die dafür sprechen: 1. Das Frankoprovenzalische ist eine «Erfindung» Ascolis, hinter der kein autonomes «frankoprovenzalisches Sprecherbewußtsein» steht. 2. Es gibt keine frankoprovenzalische langue vehiculaire; man bedient sich hierfür vielmehr des (Regional-) Französischen 20 . Der Band schließt mit einer Bibliographie (263-82) und mit Indices (283ss.), wobei leider ein Wortindex fehlt. Auch die an sich reichhaltige Bibliographie ist nicht eben glücklich angelegt: Sie ist in Kapitel unterteilt, die aber nur bezüglich der einzelnen romanischen Sprachen den Kapiteln des Buches entsprechen. Zudem ist die Anordnung der Titel innerhalb der einzelsprachlichen Kapitel verwirrend und kaum nachzuvollziehen: «Le materiel bibliographique concernant chaque langue ... est presente selon le schema qui suit, adapte a chaque cas: bibliographies, ouvrages introductifs et generaux, descriptions synchroniques de la langue, descriptions diachroniques, aspects sociolinguistiques, dialectes» (263). Für den Benutzer, der die einzelnen Werke nicht kennt (und dies dürfte für Anfänger und Laien wohl die Regel sein! ), wäre eine primitive alphabetische Reihenfolge sicher angenehmer gewesen. Und dies gilt selbst für den mit der Materie Vertrauten ... Kommen wir zum Schluß. Klinkenbergs Versuch, eine Einführung in die Romanistik in varietätenlinguistischer Perspektive zu schreiben, ist sicher begrüßenswert und eröffnet über weite Strecken auch interessante neue Perspektiven. Im Detail gibt es aber noch zahlreiche Mängel und Schwächen, die in einer Neuauflage unbedingt behoben werden müßten, um dem Band wirklich das Testergebnis «empfehlenswert» zuerkennen zu können. P.W. * 20 Cf. hierfür auch K. HEGER, «Sprache und Dialekt als linguistisches und soziolinguistisches Problem», FL 3 (1969): 46-67.