eJournals Vox Romanica 55/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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1996
551 Kristol De Stefani

FRANCO BRIOSCHI/COSTANZO DI GIROLAMO (ed.), Manuale di letteratura italiana. Storia per generi e problemi. Vol.1: Dalle origini alla fine de! Quattrocento, Torino (Bollati Boringhieri) 1993, 1004 p.; vol. 2: Da! Cinquecento alla meta de! Settecento, ib. 1994, 890 p.; vol. 3: Dalla meta de! Settecento all'Unità d'ltalia, ib. 1995, 966 p.

121
1996
Grazia Lindt
vox5510266
266 Besprechungen - Comptes rendus FRANCO BRIOSCHr/ CosTANZO DI GmoLAMO (ed.), Manuale di letteratura italiana. Storia per generi e problemi. Vol.1: Dalle origini alla fine de! Quattrocento, Torino (Bollati Boringhieri) 1993, 1004 p.; vol. 2: Da! Cinquecento alla meta de! Settecento, ib. 1994, 890 p.; vol. 3: Dalla meta de! Settecento all'Unita d'ltalia, ib. 1995, 966 p. Eine Einschränkung gleich vorweg: Zur Besprechung gelangen weder alle drei Bände, noch der gesamte erste Band des Manuale. Stattdessen konzentriere ich mich exemplarisch für den Fall der sizilianischen Lyrik auf den im Untertitel deklarierten Anspruch, eine nach literarischen Gattungen und Fragestellungen gegliederte Literaturgeschichte zu sein. Vor dem Hintergrund semantisch spezialisierter Analysen der in Deutschland überaus rührigen romanistisch-mediävistischen Gattungsgeschichtsschreibung öffnet man voller Erwartung eine Literaturgeschichte, die in ihrem Untertitel als Storia per generi e problemi firmiert und damit verspricht, ähnliches für die italienische Literatur umzusetzen. Doch diese Hoffnung entpuppt sich bereits im Vorwort (xm-xv) als frommer Wunsch. Der an theoretischer und methodologischer Grundlegung von Literaturgeschichten interessierte Benutzerzugegeben: dieser ist nicht der Zieladressat des Manuale liest: die Wahl der Gattung anstelle des Autors als Gliederungsprinzip des literarischen Materials «dipende, piu ehe da scelte teoriche forti, dalla volonta di avvicinare il piu possibile il lettore alle opere» (xrv). Letzteres ist zwar löblich, doch warum ein theoretisches Fundament der Annäherung an Dichtung im Wege stehen soll, ist angesichts seiner heuristisch dienenden Funktion schwerlich nachzuvollziehen. Jedenfalls schränkt der bereits im Vorfeld zurückgenommene theoretische Anspruch die eben in Gattungen gegebene Möglichkeit, ein essentielles Gliederungsprinzip, sozusagen das semantische Regelwerk der literarischen Kommunikation für ein systematisches und adäquates Textverstehen zu nutzen, tendenziell - und im weiteren Verlauf auch faktischein. Selbst der Beitrag der Herausgeber (m/ 2.3 I generi, 282-87) verliert kein Wort hinsichtlich eines wie immer gearteten, der Storia per generi e problemi zugrundegelegten Programms. Bleibt nur, letzteres aus der Darstellungsweise selbst zu extrahieren. Bleiben wir zunächst beim Vorwort: Die einzige Begründung für das gattungsgeschichtliche Vorgehen ist eine rezeptions- und produktionsgeschichtlich orientierte: seit jeher sei der lettore comune überwiegend Leser von Gattungen, nicht von Autoren; letztere schrieben sich mit jedem Text in ein gattungsgegebenes Kontinuum ein (et xrv). Sie trifft ins Schwarze und wird, abgesehen vom oben benannten Grunddefizit des Manuale, im Fall der engen Beziehung zwischen sizilianischer und altokzitanischer Lyrik zwar gattungsnumerisch zu stark verkürzt, doch im Hinblick auf canso und sirventes solide und stichhaltig ausgeführt. Der teilweise gerade auch sachlich gerechtfertigten Absicht, keine «sterile operazione di incasellamento e di classificazione» (xrv) durchführen zu wollen, ist solange zuzustimmen, als sie nicht das Kind mit dem Bade ausschüttet, sprich auf eine systematische Beschreibung von Gattungsrelationen dort verzichtet, wo diese zweifelsfrei angezeigt ist: so hätte man sich für die Gattungsensembles des lyrischen Duecento eine systematische Darstellung ihrer jeweiligen semantischen Relationen gewünscht. Weder gattungstypologisch noch nicht kodifizierte Texte noch Mischgattungen entbinden von theoretischer Reflexion, sind diese Phänomene doch keine Ausnahmen oder Sonderfälle, sondern seit Beginn der volkssprachlichen Dichtung eine entwicklungsgeschichtlich notwendige Konstante. Erinnert sei für den Typ Mischgattung nur an die Sirventes-Kanzone der Trobadorlyrik. Kodifizierung nicht als Selbstzweck zu betreiben enthebt nicht von gattungssystematischer Arbeitsweise! Die zweite Spezifikation des Untertitels, (storia per) problemi, wird nicht eigens kommentiert, doch zeigt die Anlage des Bandes, daß sie sich auf die Sachgebiete der allgemeinen Einführung bezieht und nicht etwa, wie es im Zuge sich selbst reflektierender Litera- Besprechungen - Comptes rendus 267 turgeschichtsschreibung 1 auch in einem Manuale zumindest punktuell durchaus möglich und wünschenswert gewesen wäre, auf Fragen und ungelöste Probleme einer gattungshistoriographischen Literaturgeschichte. Die Gliederung der drei Bände erfolgt nach einem einheitlichen Plan: er manifestiert sich 1. in der Zweiteilung jedes Bandes und 2. in den für jeden Band gleichlautenden Kapitelüberschriften, die dann jeweils nach den Gegebenheiten des in Frage kommenden Zeitraums spezifiziert werden. Die Zweiteilung ergibt sich aus dem vorangestellten allgemeinen Einführungsteil zur «storia delle idee, ... de! libro e de! mercato, ... della lingua e delle istituzioni formali de! versa e della prosa« (xv) und der sich daran anschließenden Präsentation der einzelnen Gattungskategorien, deren jede eingestandenermaßen konventionell-chronologisch nach Jahrhunderten ausgefüllt wird. Hierbei ist die methodische Unterscheidung von Synchronie und Diachronie und insbesondere der Primat ersterer durchweg eingehalten, wenngleich auch weder zur Freilegung von Strukturen in und zwischen Gattungsensembles noch zu deren Anbindung an literatursoziologisch ausgemachten gesellschaftshistorischen tournants de l'histoire genutzt. Die einzelnen Schnittstellen sind mithin weder gattungssemantisch noch -soziologisch abgeleitet. Aus diesem Grund sehe ich das bekannte Desiderat von Erich Köhler und Hans Robert Jauss, Gattungsgeschichte in synchronischen Schnitten darzustellen, nicht eigentlich erfüllt. Darüber hinaus ist die Periodisierung nach Jahrhunderten für eine moderne Storia per generi ein zu großes Zugeständnis an die konventionelle Literaturgeschichtsschreibung und letztlich unvermeidliche Konsequenz des Theorieverzichts der Herausgeber. Die Periodisierungskraft der historischen Gattungsstrukturen ist nicht sinnfällig genutzt worden. Im Gegenteil: Das einzige Mal, wo eine Jahrhundertmitte, nämlich 1750, für die Herausgeber einteilungsbestimmend geworden ist, wird dies nicht etwa zuerst und vor allem gattungsspezifisch begründet, sondern ausschließlich mit der berühmten These von Ernst Robert Curtius, derzufolge die seit dem lateinischen Mittelalter gegebene Kontinuität der abendländischen Literatur sich ab der Mitte des 18. Jhs. aufgelöst habe (cf. vol. 3: FRANCO BRroscm, Tradizione e modernita, p.5s.). Dennoch: Der an Fragen des Wandels einzelner Bereiche interessierte Benutzer kann sich dank des einheitlichen Aufbaus aller drei Bände rasch einen Überblick verschaffen. Zudem ist im Vergleich zu älteren Literaturgeschichten die ausführliche Darstellung der rezeptionsgeschichtlichen Determinanten von literarischer Kommunikation ein großes Plus des Manuale. Am Kapitel rn/ 2 Le istituzioni formali ist aus Sicht der kognitiven sowie der strukturell semantischen Linguistik die zum Zwecke der Gliederung des literarischen Materials undiskutiert beibehaltene, rigide Trennung von Vers und Prosa zu beanstanden: 2.1 La versificazione (PIETRO G. BELTRAMI, 22 1-6 1), 2.2 La prosa (NrcoLA DE BLASI, 262-81). Man vermißt einen eigenen Gliederungspunkt zu Kontakten und Mischformen (z.B. das Prosimetrum ) zwischen beiden Institutionen, ist doch das formale Kriterium der gebundenen Rede aufgrund von Kontaktzonen nicht als primär distinktives Unterscheidungsmerkmal von Lyrik und Prosa zu betrachten und folglich als exklusives Klassifikationskriterium untauglich. Zwar findet das Kontaktphänomen im folgenden Punkt Berücksichtigung (cf. m/ 2.3), allerdings nur knapp diachronisch gestreift und kaum in eben seiner formalen Eigenart; am informativsten noch die Ausführungen zur Durchdringung von mittelalterlicher Geschichtsschreibung und Erzählliteratur (286). Angesichts der zu strikten klassifikatorischen Trennung von gebundener und ungebundener Rede wäre zu prüfen, inwieweit 1 Cf. etwa den als Einleitung fungierenden Beitrag von DIETMAR RIEGER, «Das trobadoreske Gattungssystem und sein Sitz im Leben» in: GRLMA rr, Les genres lyriques, tome 1, fase. 2-5, Heidelberg 1987: 15-28. 268 Besprechungen - Comptes rendus dem Phänomen kategorieübergreifender inhaltlicher Kontaktzonen Rechnung getragen wird. Für die allerdings nicht eben als Schwerpunkt einer italienischen Literaturgeschichte erfolgte Darstellung von Lyrik und Roman des feudalhöfischen Frankreichs ist das in der Liebeskonzeption gegebene Kontaktphänomen zumindest nicht berücksichtigt worden. Die beiden Herausgeber schließen das dritte Kapitel mit einem konzentrierten diachronischen Überblick über 2.3 I generi (282-87) ab, in welchem sie die formbezogene Leistung insbesondere von Dante, Petrarca und Boccaccio herausstellen, ohne jedoch die gattungsspezifische Argumentation aufzugeben. Die Behauptung, daß die von nicht spezialisierten letterati verfaßte scrittura privata (z.B. Anekdote, Reiseliteratur, Familienbücher) per definitionem unkodifiziert und unkodifizierbar sei (286), bleibt ohne Erklärung. Die Verf. nehmen sie faktisch ein Stück weit zurück, indem sie klarstellen, daß auch die Verfasser privater Texte ihre Wirklichkeit entsprechend den literarischen Gattungsmodellen ihrer Zeit beschreiben. Die Kodifiziertheit von Autobiographie und Epistolar steht für die Herausgeber außer Frage, wird aber wiederum mit keiner Silbe spezifiziert; es werden lediglich die chronologisch zurückliegenden Modelle benannt (cf. 287). Diesem Vorspann folgt die Geschichtsschreibung der großen Gattungskategorien, als deren erste in jedem Band unter IV. La Lirica figuriert; für Band 1 gefolgt von V. La letteratura allegorica e didattica, VI. Il racconto, VII. Epica, romanzo, poema cavalleresco, vm. La storiografia, rx. L'io e la memoria, x. La trattatistica und XL Il teatro. Die jeweiligen Dichtungen einer Kategorie werden in ihrer Abfolge synchronisch beschrieben; im exemplarisch gewählten Fall der Lyrik erfolgt die Einteilung durchweg konventionell, nämlich für das Duecento nach den drei bekannten «Dichtergruppen», wobei zumindest für die Sizilianer der Vorrang der Gattungsbetrachtung noch gewahrt bleibt. Die kategorialen Gattungsbezeichnungen sind die formal ausgerichteten der historiographischen Tradition mit einer Ausnahme: das Kapitel L'io e la memoria führt einen inhaltlichen Nenner als Klassenbezeichnung für Autobiographien, Epistolarien, Memoiren, Familienbücher und Reiseberichte an. An der gattungsgeschichtlichen Darstellung fällt auf: Das Manuale verzichtet bewußt auf anthologische Passagen. Es widmet sich voll und ganz der historischen Interpretation, dem Erschließen vergangener literarischer Kultur für unsere Zeit. Textstellen werden ausschließlich als Beleg für die Interpretation oder zur Illustration zitiert, so z.B. für diejenige des siciliano illustre die berühmte Strophe Pir meu cori allegrari von Stefano Protonotaro. Die Themengebiete der einzelnen Kapitel sind in der Regel von verschiedenen Autoren verfaßt, selten deckt ein Spezialist ein ganzes Kapitel ab, z.B. MARIA LmsA MENEGHETTI (vn. Epica, romanzo, poema cavalleresco, 697-761). Herausgeber und Mitarbeiter gehören durchweg einer neuen Generation von Literaturhistorikern an. Alle drei Bände schließen mit einem umfangreichen Sachregister. Die Bibliographie ist dagegen, auf ein absolutes Minimum beschränkt, in die raren Fußnoten verbannt; dies erklärt das in einer Storia per generi, zumal der Kategorie «Handbuch», so schmerzliche Fehlen mancher grundlegender Beiträge der internationalen Gattungsgeschichtsschreibung. Den ausländischen Italianisten versorgt sie im Gegenzug mit neuesten italienischen Untersuchungen zu Einzelthemen. Wiewohl ein explizit formuliertes theoretisch-methodisches Programm in dem sich innovativ verstehenden Manuale nicht vorhanden ist, trägt im hier speziell untersuchten Fall, zumindest im Hinblick auf die konzeptionelle Unterscheidung, der historiographische Umgang mit dem Gattungsbegriff die Handschrift der Zeichentheorie: der Unterscheidung von Form- und Inhaltsseite der Gattung wird sowohl in diachronischer als auch in synchronischer Dimension in einer prinzipiell getrennten Darstellungsweise Rechnung getragen. So informieren unter der von PrnTRo G. BELTRAMI verfaßten Rubrik Le istituzioni formali jeweils monographisch-diachronische Darstellungen der Generi metrici (241- Besprechungen - Comptes rendus 269 62 ) über die formale Entwicklung der kanonischen Institutionen Kanzone, Sonett, Ballata. Die synchronische Darstellung von Metrik (302s.) und inhaltlichen Gegebenheiten (303- 06 ) erfolgt für die sizilianische Lyrik durch den Mitherausgeber Costanzo di Girolamo, jedoch nicht derart, daß man von einer semiologischen Gattungskonzeption sprechen könnte: weder kommt ein durch semantische Grundwerte gekennzeichnetes System, noch deren Spezifikation auf Normebene in den Blick. Dies gilt für die Darstellung der altokzitanischen und sizilianischen Lyrik gleichermaßen. Für erstere wird das knappe, unsystematische und obendrein unvollständige, lediglich vier von fünfzehn 2 Gattungen vorstellende formale Inventar linguistisch unreflektiert als sistema bezeichnet; der Zusatz, daß dieses in realta piu complesso sei (P. G. BELTRAMI, 243s.), rettet nicht viel, zumal dieser Aspekt nirgends für die Inhaltsmerkmale des Systems spezifiziert wird (cf. DI GrROLAMO, La fondazione trobadorica [291-96]). Für die zweite verzichtet man gleich ganz auf den Begriff, was wissenschaftlich redlicher ist. Statt als in seinen Kriterien genau festgelegtes System werden die Gattungen der sizilianischen Lyrik unter der Rubrik I poeti (! ) als «ampia gamma di registri« (307) vorgestellt, zu der sich noch die «varieta degli stili» (ib.) geselle. Die Spanne des nicht eigens definierten, lediglich als Gattungsbezeichnung gehandhabten Registerbegriffs reicht von «quello sublime e potente della canzone ... a quello piu veloce della canzonetta ..., al genere dialogico ..., al discordo» (ib. ). Zur Heterogenität der hier versammelten «Kriterien» kommt noch ein offenbar gattungsbzw. themaunspezifischer Stilbegriff: «da quello aspro e difficile, giocato su rime interne e bisticci di parole, a quello agile e lineare» (ib.). Von der stilhöhenspezifischen Themabindung der mittelalterlichen Literatur auch sonst keine Spur. Die Konfusion erhöht sich noch dadurch, daß Di Girolamo hinsichtlich einer Distinktivitätshierarchie der Merkmale keine Gewichtung einerseits zwischen Metrik und Inhalt und andererseits zwischen Register 3 und Inhalt von Gattungen vornimmt, so daß allein schon aus diesem Grund eine Systembeschreibung der beiden Dichtungen verunmöglicht worden ist. So verwundert es nicht, daß die Gattungsinhalte allenfalls rudimentär zum Zuge kommen (z.B. canso = argomento amoroso) und folglich die mit «ribaltamento simmetrico dei generi cortesi» (309 ) zutreffend angegebene Spezifik des Contrasto Rosa fresca aulentissima unvermittelt im Raum steht. Auch fehlt, an dieser Stelle und zumal für eine storia per generi unverzeihlich, jeder Hinweis auf die eben in gattungssemantischer Hinsicht so innovative Mediävistik der Schule um Erich Köhler. Dessen überaus umfangreiche und differenzierte Altokzitanistik wird ausschließlich in ihrer historisch-soziologischen Kernaussage resümiert (cf. rr/ 2 Autori, committenti, pubblico von Luciano Formisano, part. 131s.); das unerläßliche gattungssemantische Pendant dazu jedoch glattweg unterschlagen bzw. zumindest dem Leser des Manuale vorenthalten. Diese Feststellung ist zu relativieren: parallel gelesen mit dem kurz zuvor, in der von C. DI GIROLAMLO betreuten Reihe Strumenti di filologia romanza, erschienenen Band La lirica (Bologna 1990 ) macht sein Herausgeber, es ist niemand anders als L. FoRMISANO, den italienischen Leser mit mehreren theoretisch-methodisch zentralen und ins Italienische übersetzten Beiträgen der internationalen, mediävistischen Gattungsgeschichtsschreibung bekannt. Die eigenen Darstellungen derselben Autoren 2 Cf.die detaillierte Analyse der Gattungsinhalte durch PETER WuNDERLI, «Re±lexions sur le systeme des genres lyriques en ancien occitan», in: Melanges de langue et de litterature occitanes en hommage a Pierre Bec, Poitiers 1991: 599-615. 3 Meiner Kritik liegt der Registerbegriff von PIERRE BEc zugrunde, cf. P.B., «Le probleme des genres chez ! es premiers troubadours», CCM 25 (1982): 32. 270 Besprechungen - Comptes rendus greifen die bereits seit 1982 in italienischer Sprache vorliegenden Programmaufsätze von KRAuss 4 und KöHLER 5 in der ihnen jeweils eignenden Gesamtspezifik leider nicht auf. Aus der Perspektive hiesiger Gattungsgeschichtsschreibung fällt zudem auf, daß Di Girolamo für die sizilianische Lyrik speziell die Engführung von Dame und Liebeskonzeption mit keiner Silbe erwähnt, geschweige denn im Sinne der Sozialmetapher interpretiert, wiewohl sein Beitrag ansonsten soziologisch profund ist. Für die altokzitanische Lyrik erwähnt er die Engführung zwar, doch so knapp, daß nur der bereits informierte Leser es erkennt. Leseprobe: Die Liebesthematik sei «da inserire nella cornice piu ampia di questa «poesia sociale», come piu volte e stata definita e come in senso stretto e. La fin'amor ... e piuttosto metafora totalizzante nella quale si traducono e si misurano le aspirazioni e le capacita sociali, umane, espressive e artistiche dell'individuo» (292). Punkt; nicht eine bibliographische Angabe. So groß das Abstraktionsvermögen des Verf.s, so gering der historisch-soziologische Erklärungswert für das Zielpublikum des Manuale. Für meine Kritik an Formisanos Kritik der auch von ihm grundsätzlich affirmativ wiedergegeben soziologischen These Erich Köhlers ist an dieser Stelle nicht der Ort. Sehr wohl jedoch für die abschließende Feststellung, daß die diachronische Darstellung mit dem hier besonders interessierenden Phänomen des Wandels von Gattungen bzw. Gattungssystemen ebensowenig theoretisch unterlegt ist wie die synchronische. Allgemeine Gesetzmäßigkeiten der «Grammatikalisierung» von Gattungen werden nicht deutlich. Fazit: Das Manuale ist in der Tat eine Storia per generi e problemi. Dies jedoch keinesfalls in dezidiert semiologischem und strukturell-semantischem Sinne. Den Herausgebern ist die Gattung vornehmlich formales Gliederungs- und nur allgemein und unsystematisch inhaltliches Beschreibungsprinzip. Form- und Inhaltsseite der Gattung bilden keine historiographisch dienstbar gemachte Einheit. Für die hier näher untersuchte Gattungsdarstellung der sizilianischen Lyrik kann man aus Sicht der deutschen romanistischen Mediävistik nur zu dem Schluß kommen: «Vor über 20 Jahren war Henning Krauß schon weiter! » Im Hinblick auf seine makrosemantische Linie erinnert das Manuale in gewisser Weise an den Beschreibungsansatz von «Literatur und Geschichte». Das auf Normebene historisch realisierte, auf Systemebene virtuelle Regelwerk der literarischen Kommunikation wird als solches nicht erkannt bzw. ist in dieser methodischen Unterscheidung kein Beschreibungsziel; ebensowenig seine Affinität, ja Homologie zu demjenigen von Sprache taut court. Eine soziologisch und semantisch unmittelbar aufeinander bezogene Systemdarstellung liegt für die altokzitanische und sizilianische Lyrik nicht vor; sie ist allerdings auch nicht erklärtes Ziel dieses Handbuchs. Die eher sporadische als systematische und insgesamt auch zu karge Auswertung des internationalen Forschungsstandes zur Gattungsgeschichtsschreibung der Literatur bremst den Innovationsschub einer speziell für das Universitätsstudium in Italien entwickelten Arbeitsgrundlage. Das Manuale ist überhaupt von sehr italienischem Zuschnitt: Wissenschaftliche Internationalität richtet sich traditionsgemäß bevorzugt auf die Philologie Frankreichs. Der Diskussionsbeitrag anderssprachiger Romanistik findet nur partiell Eingang (z.B. Erich Köhler für die Soziologie der Trobadorlyrik) mit der Konsequenz, daß der im italienischen Universitätsstudenten anvisierte Idealleser den internationalen Forschungsstand über die- 4 HENNING KRAuss, «Gattungssystem und Sitz im Leben. Zur Rezeption der altprovenzalischen Lyrik in der sizilianischen Dichterschule», in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 2 (1973): 37-70; it.: «Sistema dei generi e scuola siciliana», in: CARLO BORDONI (ed.), La pratica sociale del testo. Scritti di sociologia della letteratura in onore di Erich Köhler, Bologna 1982: 123-58. 5 ERICH KöHLER, «Gattungssystem und Gesellschaftssystem», in: RZLG l (1977): 7-21; ital.: «Sistema dei generi letterari e sistema della societa», in: BüRDONI 1982: 13-30. Besprechungen - Comptes rendus 271 sen Weg kaum, bzw. im untersuchten Fall ausgerechnet um die innovative Gattungsgeschichtsschreibung der deutschen Altokzitanistik «amputiert», zur Kenntnis nehmen kann. Nachteilig ist des weiteren, daß das Manuale linguistische Kompetenz vorwiegend für sprachhistorische Fragen in engerem Sinn abruft, hingegen weniger für Sprachtheorie und Methodologie des Faches. Die im Hinblick auf den internationalen, inkl. italienischen Diskussionsstand durchaus gegebene Chance, die analytischen Möglichkeiten der strukturellen Semantik für eine systematische Geschichtsschreibung der literarischen Gattungen zu nutzen, wurde lediglich ansatzweise wahrgenommen. Sicherlich stehen fehlende Vorarbeiten ebenso wie die unterschiedlichen Forscherprofile der vielen, am Manuale beteiligten Spezialisten (allein für den ersten Band sind es einundzwanzig) einer präzisen Grundprinzipien verpflichteten Gattungsgeschichtsschreibung notwendig ein Stück weit im Wege, doch streckenweise hätte man sich eine gezieltere Kooperation und Absprache unter den verschiedenen Verfassern von sachlich zusammengehörenden Darstellungsaspekten gewünscht. Ein großer Vorzug speziell des ersten Bandes des Manuale besteht in der konzisen Präsentation der Modellgattungen Frankreichs und weiterhin darin, die nicht hoch genug einzuschätzende Bedeutung des Duecento für die späteren Jahrhunderte der literarischen Kommunikation in Italien mit großer Aufmerksamkeit herausgestellt zu haben. Hierin unterscheidet es sich von mancher anderen italienischen Literaturgeschichte. Gattungsspezifische Literaturgeschichtsschreibung ist und bleibt Desiderat, zumal in Italien. Schon deshalb ist der Versuch des Manuale unbedingt wert- und verdienstvoll. Er orientiert in die richtige Richtung. Um eine semantische Spezifizierung des Inhaltsspektrums von Gattungssystemen und die Korrelierung ihrer Komponenten zum jeweiligen sozialgeschichtlich ausgemachten Ort im Leben wird man sich weiter bemühen müssen. Zu guter Letzt: Nobody is perfect, auch Literaturgeschichten nicht. Unserem Maßstab hat die hier rezensierte nicht entsprochen. Dessen ungeachtet bietet sie ihrem Zielpublikum eine informative und unbedingt tragfähige Arbeitsgrundlage. Nicht nur dem italienischen Italianistikstudenten wird das Manuale ein ebenso perspektivenreicher wie höchst angenehm zu lesender und anregender Studienbegleiter für die vielfältigen Anforderungen seines Faches sein. Grazia Lindt * GuGLIELMO GoRNI, ll Dante perduto. Storia vera di un falso, Torino (Einaudi) 1994, 170p. (Paperbacks 247) Fu grazie alla sagacia dell'autodidatta Ernesto Lamma se, nel 1885, il frammento d'un codice quattrocentesco di antiche rime italiane, allora proprieta de! dottor Giovanni Bardera, s'affaccio alla ribalta della poco piu ehe nascente filologia italiana dalla finestra dell'ormai imbolsito, beuche gia glorioso, «Propugnatore» diretto da Francesco Zambrini. E fu la sollecitudine della direzione della «Rivista critica della letteratura italiana», opera di scolari e fedeli di Giosue Carducci, ehe permise al Lamma di placare, almeno provvisoriamente, Ja sete di conoscenza dei cultori delle patrie lettere con la pubblicazione della tavola di sl prezioso reperto, nell'aprile dello stesso 1885. Bisognera, invece, attendere il 1903 per l'edizione completa de! frammento. Purtroppo, il cosiddetto «codice Bardera» era un falso, o meglio un fantasma, da! momento ehe, come oggi viene chiarito definitivamente, non esistette mai; ma lo stesso possessore del manoscritto, il dottor Giovanni Bardera, altro non fu ehe il frutto della mente falsificatrice del Lamma. Il reato fu scoperto da Michele Barbi dopo trent'anni di forse non del tutto incolpevole credulita da parte dei cultori, anche illustri, della filologia italiana: ma il Lamma veniva ancora ritenuto un