eJournals Vox Romanica 55/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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1996
551 Kristol De Stefani

Siegfried Heinimann (1917-1996)

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1996
Ricarda Liver
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Siegfried Heinimann (1917-1996) Am 15.Juni 1996 starb Siegfried Heinimann in seiner Berner Wohnung im Länggaßquartier, in der Nähe der Universität, wo er seit 1947 gewohnt und gewirkt hatte. Das erfüllte, arbeitsreiche Leben eines Gelehrten und Lehrers, dem die schweizerische Romanistik Wesentliches verdankt, nahm e1n stilles und friedliches Ende, das die Angehörigen passend unter ein Motto von Leonardo da Vi-nci stellten: «Si come una giornata bene spesa da lieto dormire, cosl una vita bene usata da lieto morire». Siegfried Heinimann wurde am 13.April 1917 in Olten geboren, wo er auch die Grundschule durchlief. Das Gymnasium absolvierte er an der Kantonsschule Aarau. Sein Lateinlehrer Ernst Mäder, der offenbar die Begabung seines Schülers richtig einschätzte, riet ihm zum Romanistikstudium bei Karl Jaberg an der Universität Bern. Dort und in Genf, später auch in Florenz, Rom und Paris studierte 384 Ricarda Liver Siegfried Heinimann dann Romanistik, Latein und Pädagogik. In seiner wissenschaftlichen Ausrichtung und in seiner Arbeitsweise wurde er wesentlich geprägt durch die Persönlichkeit seines Lehrers Karl Jaberg, dessen Nachfolge anzutreten er im jugendlichen Alter von 29 Jahren berufen wurde. Aber auch die Bekanntschaft mit Charles Bally, mit dem er während seiner Studienzeit in Genf jeweils lange Spaziergänge am Seeufer unternahm, hinterließ beim jungen Romanisten dauernde Eindrücke. Siegfried Heinimann war zu jener Zeit Lehrer am Gymnasium in Biel, eine Tätigkeit, der er sich mit Freude und vollem Einsatz widmete. Es fiel ihm nicht leicht, diese Aufgabe einer Professur zuliebe aufzugeben, und der Auftrag, in die Fußstapfen Karl Jabergs zu treten, war eine harte Nuß. Es brauchte strenge Arbeitsdisziplin, Freude am Lehrberuf und Begabung für das Fach, um diese Aufgabe zu erfüllen, Eigenschaften, die Siegfried Heinimann freilich in hohem Maße besaß. Während mehr als drei Jahrzehnten (bis zu seiner Emeritierung 1982) prägte Siegfried Heinimann die Romanische Philologie an der Universität Bern. Stil und Gehalt dieses Unterrichts waren bestimmt durch die Persönlichkeit eines Universitätslehrers, der an sich selbst und an seine Schüler strenge Anforderungen stellte. Wer bereit war, ihm auf diesem Weg zu folgen, durfte vieles mit sich nehmen, was schon damals alles andere als selbstverständlich war und heute wohl nur noch in Glücksfällen zu den Errungenschaften eines Universitätsstudiums gehört: ein solides philologisches Rüstzeug, bestehend aus handfesten Fakten und bewährten Methoden, vor allem aber Ehrlichkeit und Genauigkeit im Umgang mit wissenschaftlichen Problemstellungen und in der Lösung dieser Probleme. Den gleichen ethischen Grundsätzen, die Siegfried Heinimann seinen Studenten zu vermitteln bestrebt war, folgte er in seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Heinimann pflegte eine Romanische Philologie, die den vergleichenden Aspekt stets im Auge behielt, wenn auch gewisse Sprachgebiete (Italienisch, Französisch und Provenzalisch, Bündnerromanisch) in den meisten Arbeiten im Zentrum stehen. Den strukturalistischen Methoden, die in den sechziger und siebziger Jahren das Feld beherrschten, stand er zwar nicht ablehnend, aber doch eher distanziert gegenüber. Ein Thema, das Siegfried Heinimann immer wieder und in späteren Jahren vordringlich beschäftigte, war das der Herausbildung von Schrift- und Literatursprachen. Sicher spielte in dieser Orientierung das Vorbild von Alfredo Schiaffini, dessen Unterricht Heinimann im Jahre 1947 genossen hatte und den er sehr verehrte, eine nicht unwesentliche Rolle. Dem Abstraktum in der französischen (d. h. nordfranzösischen und provenzalischen) Literatursprache des Mittelalters ist eine Monographie von 1963 gewidmet, und der Sammelband von 1987, Romanische Literatur- und Fachsprache in Mittelalter und Renaissance, enthält mehrere früher erschienene Arbeiten zu diesem Thema, die Siegfried Heinimann selbst für eine Festgabe zu seinem 70. Geburtstag ausgewählt hat. Siegfried Heinimann (1917-1996) 385 Wiederholt beschäftigte sich Siegfried Heinimann mit Dante: Dante als Sprachtheoretiker, Dante als Sprachgestalter, Danteübersetzungen (cf. Bibl. Nr.100, p.155-219). Aus der Fülle von Themen, mit denen sich Heinimann im Laufe von gut fünf Jahrzehnten beschäftigt hat, verdient, wie mir scheint, eine Auseinandersetzung mit Clemente Merlo besondere Erwähnung: Im Aufsatz «Die heutigen Mundartgrenzen in Mittelitalien und das sogenannte Substrat» (Orbis 2 [1953] : 302-17) wagte Siegfried Heinimann, aufgrund einer sorgfältigen dialektologischen Analyse, die vom italienischen Maestro verfochtene Substrattheorie in Frage zu stellen. Auf die gereizt polemische Reaktion Merlos hin präzisierte Heinimann 1955 nochmals seinen Standpunkt («Noch einmal zum Substrat in Mittelitalien», Orbis 4: 114s. ).Hier machte der bescheidene Gelehrte seinem Vornamen, der sonst nicht gerade zu seinem Charakter paßte, wahrhaftig Ehre. Siegfried Heinimann hat keine dicken Wälzer in die Welt gesetzt, aber eine große Zahl von soliden und prägnanten Arbeiten. Als Studenten freuten wir uns immer an seiner Formulierung, wenn er uns mit offensichtlicher Zustimmung, die sowohl auf einem inhaltlichen als auch auf einem ästhetischen Urteil beruhte, «ein schlankes Bändchen» empfahl. Auch seinen eigenen Werken kommt dieses Prädikat durchwegs zu, von der Dissertation Wort- und Bedeutungsentlehnung durch die italienische Tagespresse im ersten Weltkrieg (1946) über das erwähnte Abstraktum (1963) zur Festschrift Romanische Literatur- und Fachsprachen ... (1987) bis hin zu Siegfried Heinimanns letzter größerer Publikation, Oratio dominica romanice. Das Vaterunser in den romanischen Sprachen von den Anfängen bis ins 16.Jahrhundert (1988). Dieses nach der Emeritierung entstandene Werk, von einem Rezensenten als «ein Kabinettstück der Kultur- und Ideengeschichte» bezeichnet, hatte für Siegfried Heinimann eine ganz besondere Bedeutung, weil es in Zusammenarbeit mit Schülern und Assistenten entstanden war, ein Produkt der Symbiose von Lehre und Forschung. Siegfried Heinimann ließ seine fachliche Kompetenz und seine Arbeitskraft verschiedenen wissenschaftlichen Projekten und Institutionen zugute kommen, so dem Kuratorium von Vox Romanica und Romanica Helvetica, das er von 1964 bis 1981 präsidierte, dem Dicziunari rumantsch grischun, in dessen Philologischer Kommission er lange Jahre mitwirkte, und der Deutschen Dante-Gesellschaft, deren Vorstand er angehörte. Ohne Siegfried Heinimann wäre wohl der Thesaurus proverbiorum medii aevi, das von Samuel Singer begründete Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, nie zur Vollendung gelangt. Das Erscheinen der ersten zwei Bände dieses Werkes 1, das er von Anfang an gefördert und begleitet hatte, bereitete Siegfried Heinimann in den letzten Monaten seines Lebens Freude und Genugtuung. 1 Ed. KURATORIUM SrNGER DER SCHWEIZERISCHEN AKADEMIE DER GEISTES- UND SOZIALWIS- SENSCHAFTEN, v9l. l, Berlin 1995; Quellenverzeichnis und vol. 2, Berlin 1996. 386 Ricarda Liver Wer das Leben und Wirken Siegfried Heinimanns aus der Nähe verfolgen konnte, wußte nicht nur um seine Arbeitskraft und Gewissenhaftigkeit, sondern auch um seine Sensibilität und seine gesundheitlichen Probleme, die ihm seit jungen Jahren zu schaffen machten. Daß er seine vielfältigen Aufgaben trotzdem bewältigte, ist wesentlich der Stütze und Hilfe seiner Frau Martha zu verdanken, die ihm auch eine anregende und kritische Gesprächspartnerin in allen Bereichen seiner Interessen war. Ihr Anteil am Lebenswerk von Siegfried Heinimann ist nicht hoch genug einzuschätzen. Vor allem die Freude an der Literatur, die auch in vielen philologischen Arbeiten von Siegfried Heinimann durchschlägt, teilte er mit seiner Frau Martha, die ihm wohl manche Texte nahebrachte, auf die er von seinen eigenen Interessengebieten her nicht ohne weiteres gestoßen wäre. Wir alle, die wir als Schüler, Kollegen und Freunde an dieser «vita bene usata» teilhaben durften, werden Siegfried Heinimann in dankbarer Erinnerung behalten. Bern Ricarda Liver Publikationen von Siegfried Heinimann Die Publikationen von 1941 bis 1985 sind in der Bibliographie der Festschrift von 1987, Romanische Literatur- und Fachsprachen (hier Nr. 100), p. XI-XIV, verzeichnet. Es sind 99 (nicht numerierte) Titel. 100. R.ENGLERIRICARDA LIVER (ed.), Romanische Literatur- und Fachsprachen in Mittelalter und Renaissance. Beiträge zur Frühgeschichte des Provenzalischen, Französischen, Italienischen und Rätoromanischen, Wiesbaden 1987 101. «Ein unbeachtetes Dokument der französischen Sprachgeschichte», in: G. Lüm et al. (ed.), Romania ingeniosa. Festschrift für Prof. Dr. Gerold Hilty zum 60. Geburtstag / Melanges offerts a Gerold Hilty a l'occasion de son 60 e anniversaire, Bern/ Frankfurt a.M./ New York/ Paris 1987: 147-52 102. «Zum 40jährigen Bestehen des Collegium Romanicum: ein Rückblick auf die Gründungsjahre», VRom. 46 (1987): 374-79 103. Oratio dominica romanice. Das Vaterunser in den romanischen Sprachen von den Anfängen bis ins 16. Jh., Tübingen 1988 (Beih.ZRPh. 219) 104. «II paternostro in volgare francese. Tradizione scritta e tradizione orale», in: R. ANTONELLI et al. (ed.), Miscellanea di studi in onore di Aurelio Roncaglia a cinquant'anni dalla sua laurea, vol. 2, Modena 1989: 663-72 105. «Synchronie und Diachronie in der Grammatik von Friedrich Diez», in: RICARDA LIVER et al. (ed.), Sprachtheorie und Theorie der Sprachwissenschaft. Festschrift für Rudolf Engler zum 60. Geburtstag, Tübingen 1990: 134-42 106. «Zur Entstehungsgeschichte des AIS (m): Briefe von Jakob Jud an Karl Jaberg», VRom. 49/ 50 (1990/ 91): 73-98 107. *A. BucK, Die italienische Literatur im Zeitalter Dantes und am Übergang vom Mittelalter zur Renaissance, GRLMA 10/ 2 (1989); DDJb. 66 (1991): 125-32 108. *TH. STÄDTLER, Zu den Anfängen der französischen Grammatiksprache, Tübingen 1988; ZRPh. 107 (1991): 213-15 109. «Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt», VRom. 51 (1992): 1-39 Siegfried Heinimann (1917-1996) 387 110. *J. STOROST, Hugo Schuchardt und die Gründungsphase der Diezstiftung. Stimmen in Briefen, Bonn 1992; VRom. 52 (1993): 292s. 111. *MICHAELA WoLF, Hugo Schuchardt Nachlaß. Schlüssel zum Nachlaß des Linguisten und Romanisten Hugo Schuchardt (1842-1927), Graz 1993; VRom. 53 (1994): 271-73