Vox Romanica
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0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniRenzo Raggiunti, Il problema del linguaggio nella filosofia di Benedetto Croce, Fiesole (Cadmo) 1997, 251 p. (Il Confronto 9)
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P. W.
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Besprechungen - Comptes rendus Renzo Raggiunti, Il problema del linguaggio nella filosofia di Benedetto Croce, Fiesole (Cadmo) 1997, 251 p. (Il Confronto 9) In seinem neuesten Buch wendet sich Renzo Raggiunti - unermüdlich, scharfsinnig, kritisch wie immer - der Sprachphilosophie von Benedetto Croce zu. Er tut dies primär als Philosoph, aber schon seine früheren Arbeiten haben gezeigt, daß er ein Philosoph ganz besonderer Art ist: einer nämlich, der die Linguistik in sehr hohem Maße rezipiert hat und es versteht, zwischen den beiden Wissensbereichen eine vermittelnde Position einzunehmen, ohne dabei seine eigene Grundposition (die eine philosophische ist und bleibt) zu verleugnen. Die Beschäftigung mit der Linguistik ist bei ihm nicht eine Flucht aus der eigenen Disziplin, sondern eine intelligente Hereinnahme und Verarbeitung anderer Sichtweisen, durch die «philosophische Betriebsblindheit» oft in sehr heilsamer Weise korrigiert wird. Raggiunti gliedert Croces sprachphilosophische Aktivitäten in zwei Hauptphasen, wobei die erste die Zeit um die Estetica und die Logica umfaßt, die zweite durch La Poesia und in deren Umfeld anzusiedelnde kleinere Arbeiten charakterisiert ist. Diese beiden Phasen werden im wesentlichen nacheinander abgehandelt. Die Diskussion von Croces sprachphilosophischen Ansichten beginnt mit einem kurzen Einleitungskapitel (Il sistema dei distinti, 9-15), in dem die Grundannahmen präsentiert werden. Croce geht von einer Art Grunddichotomie zwischen conoscenza und azione aus, die für ihn die Grundfunktionen der geistigen Aktivität darstellen. Innerhalb der conoscenza wird zwischen conoscenza individuale (= intuizione) und conoscenza universale (= pensiero logico-filosofico) unterschieden, wobei die erste realen, die zweite konzeptuellen Charakter hat. Die individuelle Erkenntnis ist nun immer die Basis der konzeptuellen Erkenntnis; sie ist ohne die konzeptuelle Erkenntnis möglich, die konzeptuelle aber nicht ohne die individuelle. Eine entsprechende Relation wird auch im Bereich der azione angenommen. Hier unterscheidet Croce zwischen azione economica (volizione del particolare) und azione etica/ morale (volizione dell’universale), wobei wieder die erste ohne die zweite möglich ist, aber nicht die zweite ohne die erste. - Im zweiten Kapitel (L’intuizione come conoscenza dell’individuale, 17-26) wird dann das Thema der individuellen Intuition vertieft. Raggiunti problematisiert zuerst einmal die Frage, ob es denn überhaupt so etwas wie eine individuelle Intuition ohne Konzepte gebe, und zeigt die schwankende Haltung Croces zu diesem Punkt auf, die letztlich zu einer Vermischung der beiden Bereiche führt. In einem weiteren Schritt zeigt er dann, daß die individuelle Intuition (die in eine realtà spirituale mündet) zwei verschiedene Erscheinungsformen hat: Sie kann den Bereich des Realen betreffen, beruht dann auf Sensationen und ist passiver Natur; oder sie kann sich auf das Mögliche, die Imagination beziehen und ist dann der espressione gleichzusetzen (Kunst = linguaggio). Die Intuition wäre indessen in beiden Fällen identisch. Diese schwer nachzuvollziehende Aussage Croces läßt sich nur über die Formel «arte = espressione di impressioni» einigermaßen begründen, wobei der Unterschied zwischen den beiden Intuitionen nur quantitativer, nicht aber qualitativer Natur wäre. Das Kapitel endet mit Überlegungen zu Croces linguaggio-Begriff, der immer mit atto linguistico ( parole ) gleichzusetzen wäre, obwohl Annäherungen an Saussures langue in seinem Werk nicht fehlen. - Im dritten Kapitel (Intuizione-espressione e pensiero logico, 27-36) wird dann versucht, individuelle und universale Erkenntnis zueinander in Bezug zu setzen. Die Analyse läuft im wesentlichen darauf hinaus, daß auch hier wieder ein «doppio grado» angenommen wird: Die intuizione-espressione ( arte) ist Grundlage jeder konzeptuellen (logischen) Erfassung eines Gegenstandes; sie ist ohne den zweiten Schritt möglich, der zweite aber nicht ohne den ersten. Folglich ist die arte die Basis des pensiero logico. - Von hier ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zum Thema des nächsten Kapitels, Opera d’arte interna e opera d’arte esterna (37-43), in dem die Auffassung Croces diskutiert wird, nur das «innerliche Kunstwerk» sei ein wahres Kunstwerk, seine Exteriorisierung zerstöre eigentlich seinen Kunstcharakter. Raggiunti wendet sich mit aller Entschiedenheit gegen diese Auffassung, und dies bis zu einem gewissen Punkte auch zu Recht. Allerdings muß gefragt werden, ob mit «innerem» und «äußerem» Manifestationsbereich nicht doch eine Art Hierarchisierung zugunsten des ersten verbunden ist, eine Hierarchisierung, die sich in etwa mit Guillaumes Unterscheidung von discours und parole parallelisieren ließe 1 ; dazu passen würde auch die Tatsache, daß für Saussure die faculté phonatoire (und damit die [phonische] Exteriorisierung) ein rein sekundäres und in einem gewissen Sinne zufälliges Phänomen ist 2 . - Diese Thematik wird dann im Kapitel L’«estrinsicazione» come communicazione (45-50) fortgeführt, in dem es Raggiunti v. a. darum geht zu zeigen, daß Croce hier eindeutig zu kurz greift, und in dem er unterstreicht, daß die ästhetische Schöpfung auch einen Willen zur Kommunikation einschließt; die «Äußerung» ist somit die Vollendung (und Krönung) des ästhetischen Impetus . - Anschließend wendet sich Raggiunti der Identità di creazione e ricreazione d’arte (51-58) zu. Nach Croces Auffassung ist die Rezeption eines Kunstwerkes (ricreazione) identisch mit seiner Schöpfung (creazione). Croce setzt sich damit in eklatanten Widerspruch zu Giovanni Gentile (und auch zu Wolfgang Iser), für die jede Rezeption bzw. Interpretation eine genuine Neuschöpfung in einem vorgegebenen Rahmen ist. Raggiunti selbst macht sich diese Position zu eigen: Ein Kunstwerk ist zwar durch seine unicità und identità gekennzeichnet, aber es gibt eine unendliche Zahl von (möglichen) Interpretationen. Damit ist ein erster Argumentationsstrang im wesentlichen ausdiskutiert. Im folgenden Kapitel (Grammatica e le parti del discorso, 59-66) wendet sich Raggiunti Croces Stellungnahme zur (literarischen) Gattungstheorie und zur (linguistischen) Theorie der Wortarten zu. Beide sind für Croce unhaltbar, doch räumt er bei der Theorie der Wortarten ein, daß sie eine gewisse mnemotechnische Funktion beim Spracherwerb haben könnte; wissenschaftlich sei sie dagegen vollkommen wertlos. Raggiunti entlarvt diese Aussage als unsinnig und in sich widersprüchlich. Ähnlich verfährt er auch bezüglich der Aussagen Croces über die Bedeutung der sprachlichen Einheiten, von denen auch nicht zwei Verwendungen wirklich identisch wären; er übersieht dabei, daß bei aller Variation eben doch gemeinsame «Kerne» existieren. Gerade hier wird deutlich, wie sehr Raggiunti linguistisches Gedankengut rezipiert hat und in der Lage ist, es in seine Argumentation einzubauen. - Auch das folgende Kapitel, Il concetto e la narrazione storica (67-78), ist darauf angelegt, Croce Widersprüche und inkonsistente Argumentationen nachzuweisen; es steht überdies in enger Verbindung mit dem vorhergehenden. Raggiunti wendet sich zuerst dem Konzept- Begriff Croces zu, der zwischen empirischen und abstrakten Konzepten (Pseudokonzepten, konzeptuellen Fiktionen) unterscheidet. Pseudokonzepte wären v. a. für den sprachlichen Bereich relevant und nicht von kognitiver, sondern nur von praktischer Bedeutung, insoweit sie der Bewahrung erworbenen Wissens dienen. So wären alle Signifikate Pseudokonzepte, was von Raggiunti an Beispielen wie Baum und Katze exemplifiziert wird. Croces 195 Besprechungen - Comptes rendus 1 Cf. hierzu P. Wunderli, Ferdinand de Saussure und die Anagramme, Tübingen 1972: 75-78. 2 Cf. P. Wunderli, Saussure-Studien, Tübingen 1981: 61s. Auffassung führt aber schnell in eine Aporie vor dem Hintergrund der Tatsache, daß für ihn die Poesie Kunst (arte) und damit kognitiv relevant ist. Nur: Wie kann es Kognition aufgrund von Pseudokonzepten geben? Überdies stehen sich reale und phantastische (fiktive) Wirklichkeit gegenüber, deren individuelle Einheiten von Croce über unterschiedliche Prädikate voneinander getrennt werden: dasjenige der Existenz und dasjenige der Kunst (arte = intuizione-espressione). Dazu kommt weiter, daß (eigentliche) Konzepte für Croce transzendentaler Natur sind. Von hier aus leitet er dann zur historischen narratio über: Historische Fakten sind wahr oder falsch (während die künstlerische narratio dem arte- Bereich angehört). Wenn sie wahr sind, weist ihnen Croce das Prädikat der Existenz zu, das sich aber nicht aus den Grundaxiomen (distinti) deduzieren läßt und überdies eher als Quantifkator einzustufen ist. Sie kann auch schon deshalb nicht Prädikat sein, weil die Realität gottgewollt ist. - Im anschließenden Kapitel wendet sich Raggiunti der Unterscheidung von giudizio individuale und giudizio definitorio zu (79-89), die mit den Begriffen Singularität und Partikularität einerseits, Universalität andererseits in Beziehung gesetzt werden müssen. Das giudizio universale wäre reiner Konzeptausdruck, bei dem Subjekt und Prädikat nicht geschieden würden, das giudizio individuale dagegen die Anwendung eines Konzepts auf eine Repräsentation mit deutlicher Unterscheidung von Subjekt und Prädikat. Ein individuelles Urteil setzt ein definitorisches Urteil voraus, aber bei Croce gilt gleichzeitig auch die Umkehrrelation, was zur Folge hat, daß die Urteile überhaupt im konzeptuellen Bereich verhaftet bleiben und es nie zu einer wirklichen Repräsentation kommt, denn beide Urteilsarten bleiben an die espressione, an das sprachliche Zeichen gebunden; sie sind deshalb eigentlich nur Variationen ein und desselben Konzepts, die man aus moderner Sicht den Bereichen Metasprache und Sprache zuordnen könnte. - Das folgende Kapitel trägt den Titel Giudizio storico e i suoi predicati (91-103). Raggiunti macht deutlich, daß ein racconto storico nicht nur die Existenz eines Ereignisses (etwas) umfaßt, sondern auch ein individuelles Urteil (was): Wir haben eine Repräsentation als Subjekt, das über Konzepte prädiziert wird. Da die narrazione dell’accaduto mit sprachlichen Mitteln erfolgt, ist sie intuizione-espressione und damit arte; gleichwohl ist sie aber verschieden von der narrazione fantastica-poetica. Raggiunti geht seinem Verdacht ausführlich nach, daß die beiden rappresentazioni nicht von gleicher Qualität sind, illustriert dies an einer Reihe von Beispielen und weist so einen inneren Widerspruch in Croces Argumentation nach. Auch der spätere Versuch Croces, zwischen espressione prosastica und espressione poetica zu differenzieren, führt in eine Sackgasse, denn damit gibt er die Einheit der intuizione-espressione auf bzw. verzichtet auf den arte-Charakter der historischen Darstellung. Das Kapitel schließt mit einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der logisch basierten Croce-Interpretation von Gennaro Sasso, die dezidiert abgelehnt wird. - Das nächste Kapitel, Espressione e grammatica (105-23), ist ein brillantes Kernstück des Bandes. Raggiunti geht von den (nach Croce) empirischen Konzepten aus, die für die Naturwissenschaften typisch wären und keine philosophischen Weiterungen hätten; sie wären pura intuizione und hätten den Charakter von rein praktischen Hilfen. Diese Auffassung ist an sich schon problematisch, und die Problematik wird noch verschärft durch die Tatsache, daß für Croce die sprachwissenschaftlichen Disziplinen nichts anderes als scienze «naturalistiche» del linguaggio sind: Es gibt für ihn keine Beziehung zwischen Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie, und die sprachwissenschaftlichen Disziplinen hätten bestenfalls eine mnemotechnische Funktion; die Sprache der Linguisten und die Sprache qua «intuizione-espressione» müßten deshalb radikal voneinander getrennt werden, die letztere wäre gewissermaßen «freischwebend». Hier hakt nun Raggiunti ein. Für ihn ist die Grammatik nicht nur utile (wie Croce behauptet), sondern assolutamente necessaria, denn der Sprechakt ist nicht und kann nicht eine creatio ex nihilo sein. Ganz im Gegenteil: Für ihn sind die linguistischen Disziplinen in hohem Maße theoretisch (und nicht nur praktisch), und ohne sie gäbe es keine 196 Besprechungen - Comptes rendus Erklärung des Sprechakts. Er leugnet zwar nicht, daß jede espressione einmalig und nicht wiederholbar sei; auch bestreitet er nicht, daß die grammatischen Regeln keinen «Wahrheitsanspruch» erheben können - aber das ändert nichts an ihrer Notwendigkeit. Die Sprache ist das unerläßliche Instrument der espressione. Dies ist von Croce übersehen worden. Positiv ist allerdings zu bewerten, daß er den kreativen Aspekt des Sprechakts erkannt hat - allerdings bei gleichzeitiger Verabsolutierung dieses Elements, was unweigerlich in Aporien führt. Raggiunti insistiert darauf, daß eine logisch-mathematische Deduktion keine kreative Komponente enthalte, eine Umsetzung von lingua in einen atto linguistico aber sehr wohl. Croce scheitert letztlich an zwei willkürlichen und unhaltbaren Setzungen: Er identifiziert linguaggio mit arte (weil der Sprechakt kreativ ist), und er leugnet die lingua (grammatica) als Basis der espressione, weil bei ihm Kreativität immer Kreativität ex nihilo ist. Positiv bleibt, daß er den kreativen Charakter des Sprechakts erkannt hat, wenn er auch leider diese Einsicht auf den poetischen Bereich zu beschränken versucht. - Das folgende Kapitel, Il problema «filosofico» dell’origine del linguaggio verbale (125-82), ist das mit Abstand längste des Bandes; und dies, obwohl seinerzeit die Société linguistique de Paris die Behandlung dieser Frage unter Ausschlußandrohung verboten hatte. Raggiunti hält jedoch dagegen, daß diese Frage für den Linguisten vielleicht obsolet sei, für den Philosophen aber sei ihre Behandlung unerläßlich (136, 143). Für Croce allerdings stellt sich diese Frage nicht, denn für ihn gilt die Gleichung linguaggio = arte = intuizione-espressione; die Sprache wäre eine ewige Kategorie des Geistes und hätte einen phantastisch-poetischen Ursprung ohne wesensmäßige Beziehungen zum Intellekt. Dieser auf Vico zurückgehende Mythos steht in krassem Gegensatz zu Saussure, Husserl, Gadamer, Chomsky und vielen andern, für die die Sprache intellektuell-kommunikative Wurzeln hat, und auch Raggiunti schließt sich dieser Auffassung an. Er wirft Croce vor, die Konzepte 3 aus der Sprache verbannen zu wollen und den konventionell-instrumentalen Charakter der Sprache zu verkennen, und hält dagegen, daß die Arbitrarität bzw. Unmotiviertheit gar keine andere Auffassung zulasse. Deshalb kann er Croces Auffassung, die espressione gehe immer der lingua voran (die schließlich nichts anderes als eine Abstraktion der Grammatiker sei), und die intuizione-espressione sei «rein», d. h. nicht durch Konzepte verunreinigt, nicht zustimmen. Für Raggiunti ist der Mensch «sprachlos», aber «sprachfähig» geboren, und muß sich zuerst ein Kommunikationsinstrument schaffen, dieses anschließend perfektionieren. In dieser Phase der intersoggettività trascendentale (Husserl) kann man die Behauptung, die espressione gehe der lingua voran, hinnehmen; in der Phase der «Reife» dagegen würde jede intuizione-espressione auf Konzepte zurückgreifen. Croces Haltung wäre dogmatisch und irrational und würde in einen infiniten Regreß führen; sie würde auf zwei grundlegenden Fehlern beruhen: 1. der Identifikation linguaggio-arte und 2. auf dem Verkennen der Tatsache, daß der linguaggio (langage) sowohl die lingua (langue) als auch den atto linguistico (parole) umschließt. Darüber hinaus betont Raggiunti (mehr oder weniger direkt gegen Croce) die Arbitrarität des zweiseitigen Zeichens, die Arbirarität der Signifikate 4 , sowie die Arbitrarität der morpho-syntaktischen Regeln; aufgefangen würde die Arbitrarität durch die Systematizität der Sprache und den konventionellen Charakter ihrer Einheiten jeglichen Ranges. Die Kreativität selbst wäre nicht Teil der Sprache (langue), was aber keineswegs bedeute, daß nicht jeder Sprechakt durch die langue konditioniert sei. In einem zweiten Teil des Kapitels (138ss.) widmet sich Raggiunti dann den Auseinandersetzungen mit Croces Sprachtheorie von Guido Calogero, Antonio Pagliaro und Giovanni Nencioni, die sukzessive Annäherun- 197 Besprechungen - Comptes rendus 3 Raggiunti setzt die Konzepte allerdings mit dem Signifikat gleich (z. B. 131, 143 u. passim), was für Saussure gerade nicht gilt: Signifikate sind für diesen einzelsprachlich, Konzepte dagegen außereinzelsprachlich. 4 Dieser Punkt entspricht im wesentlichen dem arbitraire radical von René Amacker. gen an seine eigene Sichtweise markieren. Allerdings tritt die Frage nach dem Sprachursprung hier noch stärker in den Hintergrund, als schon im ersten Teil des Kapitels. Bei Calogero geht es v. a. um die Frage, ob es Denken ohne Sprache gebe oder nicht, sowie um die Relation zwischen individuellen und universalen Erscheinungen. Bei Pagliaro geht es ebenfalls um die Frage, ob Teile des Geistes ohne Sprache auskommen können oder nicht, sowie um die (von Raggiunti bestrittene) Identität von Kognition und Handlung im Rahmen der atti dell’intendere pratico und die Behauptung, es gebe praktisches Handeln ohne Sprache (was von Raggiunti ebenfalls abgelehnt wird).Abgesehen davon werden aber zahlreiche Punkte herausgearbeitet, in denen sich Pagliaros Position wesentlich an diejenige Saussures (und Raggiuntis) annähert. Diese Entwicklung kulminiert gewissermaßen bei Nencioni, der die Gleichung linguaggio = arte (und damit auch linguistica = estetica) mit Entschiedenheit ablehnt und Sprache qua Institution mit der Jurisprudenz 5 vergleicht. Der Redeakt wird in das Spannungsgefüge langue-parole und Synchronie-Diachronie eingebettet, allerdings unter Zuhilfenahme einer lingua individuale 6 , so daß für den Redeakt gewissermaßen eine Konditionierungshierarchie vom Typus lingua collettiva lingua indivuale atto linguistico entsteht, die auch für den Dichter gültig bleibt, wenn er verstanden werden will. - Das anschließende Kapitel ist mit Verso la seconda fase della filosofia crociana del linguaggio überschrieben (183-96) und befaßt sich zuerst (183-89) mit der Position des wohl bedeutendsten Croce-Epigonen, Karl Vossler. Auch Vossler lehnt zuerst jede Bedeutung einer kollektiv-objektiven lingua ab, um ihr dann aber später doch eine aktive und progressive Funktion zuzugestehen (bei gleichzeitiger Negierung jeder theoretischen Aktivität); überdies räumt er ein, daß Sprache (auch die dichterische) erworben werden müsse. Die Widersprüche werden aber offensichtlich, wenn er drei Seinsweisen der Sprache einander gegenüberstellt: den absoluten Fortschritt (individuell, aktiv, theoretisch) 7 , die Immobilität (kollektiv, passiv, praktisch) und den relativen Fortschritt (theoretisch-praktisch [? ], kollektiv) 8 . Die Zuweisungen individuell/ kollektiv bleiben aber problematisch, und zudem erfordert der progresso relativo die Annahme einer Sprache als System bzw. als Technik der Rede. Vossler erweist sich gleichwohl als offener und bedeutend weniger dogmatisch als der frühe Croce, der sich in seinen Conversazioni critiche (1931) auch etwas zu bewegen scheint. Zwar leugnet er nach wie vor jeden Einfluß der Grammatik auf den sprachlich-poetischen Akt, aber er gesteht immerhin zu, daß es neben der poetischen Sprache auch eine «praktische Sprache» gebe, was aber ebenfalls neue Widersprüche zur Folge hat. Wie kann z. B. ein und dasselbe Wort einmal poetisch («autonom») und einmal nicht poetisch («nicht autonom»), d. h. praktisch sein, wenn es nicht eine über den Gebrauchsweisen stehende lingua, gewissermaßen eine lingua per se gibt? Raggiunti arbeitet alle diese Widersprüche und Aporien in subtiler und überzeugender Weise heraus, wobei er immer wieder auf geschickt gewählte Bilder, Vergleiche usw. zurückgreift. - Die Beschäftigung mit dem späteren Croce wird im folgenden Kapitel, La distinzione di La Poesia a confronto con la tesi della identità di linguaggio e arte (197-204), fortgesetzt. In La Poesia (1937) hat sich Croce insofern etwas bewegt, als er nun verschiedene Kategorien von espressione zuläßt: espressione sentimentale (immediata), poetica, prosastica, oratoria usw. Wenn es nun aber plötzlich verschiedene linguaggi gibt, wie läßt sich das mit der Grundthese, daß linguaggio = poesia sei, vereinbaren? Raggiunti weist zu Recht darauf hin, daß Croce eigentlich seine 198 Besprechungen - Comptes rendus 5 Besser wäre vielleicht Gesetzgebung (legislazione). 6 Diese fehlt übrigens auch bei Saussure nicht, cf. dessen trésor individuel. 7 Raggiunti identifiziert den progresso assoluto mit dem Sprechakt (auch dem poetischen), doch könnte man sich auch fragen, ob damit nicht die Sprachschöpfung bzw. die Entstehung von Sprache gemeint ist - oder vielleicht sogar beides? 8 Identifizierbar mit der Sprachevolution. Grundthese zurücknehmen müßte - und genau das tut er nicht. Vielmehr koexistieren ab jetzt zwei an sich unvereinbare Thesen, die er mühselig zu harmonisieren versucht. Die espressione sentimentale wäre keine wirkliche espressione, denn - da unmittelbar - wäre sie weder aktiv noch kreativ; das Gefühl und sein Ausdruck wären vielmehr untrennbar. Allerdings werden auch an dieser Aussage Abstriche gemacht. Am Beispiel der Interjektion wird verdeutlicht, daß diese einerseits spontan sein kann (z. B. der Schrei eines Tieres), daß es aber auch kodierte Formen gibt, die hin bis zu ganzen Sätzen gehen; der Übergang wäre fließend. Nicht weniger widersprüchlich ist die Behandlung der espressione poetica (= espressione teoretica del sentimento), die zwar die espressione sentimentale nicht ausschließt, trotzdem (nach Raggiunti) aber Konzepte benutzt. Dies hindert Croce allerdings nicht daran zu behaupten, das Gefühl sei aus dem Bereich der Kognition und der Konzepte zu eliminieren. - Diese Diskussion wird im Kapitel Espressione prosastica ed espressione oratoria (205-18) fortgeführt. Während die espressione poetica in den Bereich der Phantasie und des poetare gehört, ist für Croce die espressione prosastica dem Bereich des Denkens und des filosofare zuzuweisen; sie hätte rein instrumentalen Charakter. Zu diesem Unterschied kommt noch hinzu, daß er nur die espressione prosastica für übersetzbar hält, und dies, obwohl die Signifikanten in den beiden Bereichen identisch sind. Erstaunlicherweise übersieht Croce, daß dies ein eindeutiger Hinweis dafür ist, daß die den beiden Verwendungen zugrundeliegende lingua dieselbe ist. Vielmehr versucht er erneut, seine Grundthese zu retten. Während die Prosa konzeptuell basiert wäre, würde die Poesie auf immagini basieren und wäre nicht-kognitiver Natur, wenngleich er die «Bilder» für concetti realizzati, für immagini della realtà accaduta hält. Wie dies in einem konzeptlosen Bereich möglich sein soll, bleibt aber sein Geheimnis. Die Widersprüche setzen sich in der Aussage fort, nur der poetische Ausdruck verwende parole, der prosastische Ausdruck dagegen (konzeptuelle) segni, nur die Poesie sei spontan und genuin, die Prosa dagegen nicht spontan, nicht genuin, d. h. ein Artefakt. Daraus schließt Raggiunti süffisant, daß also auch Croces philosophische Prosa nicht genuin sei! Die espressione oratoria schließlich hätte rein praktische Ziele, nämlich zu überzeugen, zu erfreuen, kurz: «di suscitare particolari stati d’anima»; sie verwende auch keine parole, ebenso keine segni, sondern basiere einzig auf suoni articolati. Da sie überdies auch rein empirischen Charakter habe, gehe ihr auch jede theoretische und konzeptuelle Relevanz ab. Da Croce mit dem Beispiel des Imperativs operiert, macht er es Raggiunti leicht zu zeigen, daß auch dieser Ausdruck auf Zeichen ein und derselben lingua beruht. Darüber hinaus destruiert er genüßlich Croces Ansicht, die prosastische Sprache sei nichts als eine Perversion, ein Dekadenzprodukt der poetischen Sprache, die als originär anzusehen sei. - Der Argumentationsstrang wird mit dem Kapitel Espressione letteraria (219-30) abgeschlossen. Mit diesem Begriff versucht Croce in La Poesia, eine Art Harmonisierung von poetischer und nicht-poetischer espressione zu schaffen, eine Synthese von praktisch-konzeptuell-sentimentalem Inhalt und poetischem (schönem) Ausdruck zu institutionalisieren, wobei poetisch allerdings nur die bella veste, die bella espressione wäre. Auch hier insistiert Raggiunti wieder darauf, daß eine derartige Konzeption nur haltbar sei, wenn man gleichzeitig eine einheitliche, allen Verwendungstypen zugrundeliegende lingua annehme. In diesem Zusammenhang stellt sich auch erneut die Frage nach der Übersetzbarkeit, die überhaupt nur dann zum Thema wird, wenn die espressione zeichenbasiert ist. Soweit er eine Übersetzbarkeit ins Auge faßt, fordert Croce eine übereinzelsprachliche Identität der Signifikate. Dem widerspricht Raggiunti mit Entschiedenheit: Es gibt zwar derartige Übereinstimmungen, sie sind aber keineswegs eine conditio sine qua non. Prinzipiell sind Inhalte einzelsprachlicher Natur, und dort, wo es Abweichungen gibt, können diese durch Ersatzvornahmen wie die Kombination von Zeichen bzw. Signifikaten (Syntagmen, Propositionen, Sätze usw.) aufgefangen werden. Total nicht reproduzierbar in der Zielsprache wäre nach Raggiunti dagegen der aus- 199 Besprechungen - Comptes rendus drucksseitige Habitus des Ausgangstextes. - Das letzte Kapitel trägt den Titel La lingua come «istituzione»: Problematicità della sua definizione (231-48). In ihm setzt sich Raggiunti mit Croces lingua-Begriff auseinander. Er geht davon aus, daß Croce feststellt, es gebe auch in der espressione prosastica «qualcosa di irriducibile alla logicità», gleichwohl aber nicht in der Lage ist, dieses Etwas näher zu definieren. Es handelt sich offenbar um Reste seiner Eingangsthese, nach der der linguaggio nicht das Denken, sondern die Phantasie repräsentiert. Dazu paßt auch, daß für ihn die lingua dei linguisti nicht «lingua» ist, denn diese wäre nur Produktion, Kontemplation und Beurteilung der espressione; für sich genommen, wäre diese nur ein fatto pratico. Hier hakt nun Raggiunti ein. Eine lingua per sé gibt es nach ihm nicht, weil die lingua notwendigerweise und unauflöslich mit dem atto linguistico (parole) korreliert. Dieses Verkennen der Bedeutung von Saussures Dichotomie ist verantwortlich für seine entscheidenden Fehlleistungen: Er kann nicht sehen, daß Sprache nicht nur eine praktische Dimension, sondern immer auch «theoretischen» (gnoseologischen) Charakter hat und damit relevant für die kognitive Erfahrung ist; daß sie auch eine praktische Dimension hat, bleibt dabei unbestritten. Er verkennt den arbiträr-konventionellen Charakter der Sprache, ihren Status als soziale Institution und «individualisiert» das, was er als lingua bezeichnet. Er übersieht den Systemcharakter der lingua und die Tatsache, daß diese jeden atto linguistico konditioniert (auch den poetischen, der bei ihm als eine Art creatio ex nihilo erscheint). Die Vernachlässigung der gnoseologischen Komponente führt ferner dazu, daß das intersubjektive Verstehen für ihn «misterioso» bleiben muß und er vor der philosophischen Aufarbeitung dieses Problems letztlich kapituliert. Sein totales Unverständnis der Linguistik und ihrer Leistungen kann letztlich nur zu einer endlosen Kette von Aporien führen. Raggiuntis Buch ist eine sorgfältige, scharfsinnige Analyse von Croces Aussagen zur Sprache von den frühen Schriften bis in die letzten Lebensjahre. Er mutet einerseits dem Leser sehr viel zu, weil er ihn zwingt, sich auf diese «geballte Ladung von hochexplosivem Unsinn» einzulassen, entschädigt ihn andererseits aber dadurch, daß seine eigenen Kommentare leicht nachzuvollziehen und über weite Strecken pointiert und brillant sind. Immer wieder bewundert man auch die Leichtigkeit, mit der sich der Verfasser sowohl im philosophischen als auch im linguistischen Bereich bewegt und die beiden Domänen gewissermaßen nahtlos miteinander verzahnt. Was man vielleicht kritisieren könnte, ist eine gewisse Redundanz der vorgetragenen Argumente, doch läßt sich diese kaum vermeiden, wenn man die verschiedenen Phasen von Croces Denken in chronologischer Reihenfolge aufzuarbeiten versucht. P. W. H Annie Boone/ André Joly, Dictionnaire terminologique de la systématique du langage, Paris/ Montréal (L’Harmattan) 1996, 448 p. Ein Wörterbuch der Terminologie von Gustave Guillaume bzw. seiner Systématique du langage zu erstellen, ist ein gewaltiges Unternehmen, zu dem man die beiden Verfasser ohne Vorbehalt beglückwünschen muß; sie haben dieses Projekt über rund zwanzig Jahre hinweg mit einem wechselnden Stab von Mitarbeitern und z. T. sehr großen organisatorischen Schwierigkeiten zu einem glücklichen Ende gebracht. Wie sie in ihrem Vorwort unter Berufung auf Jean Stefanini betonen, liegt die Schwierigkeit der guillaumistischen Terminologie weniger in ihrem innovativen Charakter (wie z. B. bei Damourette/ Pichon), sondern vielmehr darin, daß traditionelle Termini mit neuen Inhalten versehen werden. Dies ist z. T. sicher richtig, spielt aber das Innovationspotential des Werkes von Guillaume im termino- 200 Besprechungen - Comptes rendus
