eJournals Vox Romanica 58/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1999
581 Kristol De Stefani

Edeltraud Werner/Ricarda Liver/Yvonne Stork/Martina Nicklaus (ed.), et multum et multa. Festschrift für Peter Wunderli zum 60. Geburtstag, Tübingen (Narr) 1998, xiv + 447 p.

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P.  W.
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Edeltraud Werner/ Ricarda Liver/ Yvonne Stork/ Martina Nicklaus (ed.), et multum et multa. Festschrift für Peter Wunderli zum 60. Geburtstag, Tübingen (Narr) 1998, xiv + 447 p. Eine Festschrift zu bekommen, ist eine zweischneidige Geschichte: Es ist sicher einerseits eine große Freude und Ehre, man fühlt sich von Kollegen und Schülern anerkannt, und diese Anerkennung schmeichelt der eigenen Eitelkeit nicht wenig. Andererseits setzt ein derartiges Ereignis auch ein Zeichen, ein Signal: Man ist nicht mehr der Jüngste, der größte Teil des Lebens und vor allem der Karriere sind vorbei; man ist nicht mehr nel mezzo del cammin, man hat diesen Punkt vielmehr bereits deutlich hinter sich gelassen und eine Lebensphase erreicht, wo man fast schon Rückschau halten kann - zum Teil freudig über das Geleistete, zum Teil aber auch bedauernd und traurig über das nicht rechtzeitig Verwirklichte, das Übersehene, das Versäumte. Dann kommt aber auch noch als Last hinzu, daß man nun allen, die sich in irgendeiner Weise an dem Unternehmen Festschrift beteiligt haben, Dank schuldet, und diese Dankesschuld nun auch abtragen muß. Und schließlich will eine gute alte, allerdings weitgehend in Vergessenheit geratene Tradition auch noch, daß man die einem gewidmete Festgabe auch noch selbst bespreche . . . Ich will mich all diesen Verpflichtungen nicht entziehen, ja in vielerlei Hinsicht nehme ich sie sogar freudig auf mich. Danken möchte ich zuerst vor allem den vier Herausgeberinnen 1 für die große Mühe, die sie mit der Organisation und Realisierung dieser Festschrift auf sich genommen haben; ich hoffe, daß das gelungene, in jeder Hinsicht schöne Endprodukt sie für den großen Arbeitsaufwand und den oft (aus allen möglichen Gründen) sicher nicht geringen Ärger einigermaßen entschädigt. Dank gebührt dann allen Kolleginnen und Kollegen, die mich eines mir persönlich gewidmeten Beitrags für würdig hielten und die sich trotz der Last von Forschung und Lehre, von Prüfungen und Gremienarbeit die Zeit genommen haben, mir einige Früchte aus ihrem Forschungsfeld zu präsentieren; einbezogen seien an dieser Stelle auch all die, die gerne einen Beitrag beigesteuert hätten, durch die Last der Alltagsverpflichtungen aber an seiner Fertigstellung gehindert wurden. Zu Dank verpflichtet bin ich Gunter Narr nicht nur dafür, daß er diesen Band in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat, obwohl man sich damit weiß Gott keine goldene Nase verdienen kann, sondern v. a. auch für eine fünfundzwanzigjährige harmonische Zusammenarbeit. Und danken möchte ich insbesondere den großzügigen Sponsoren: der Alfred Toepfer Stiftung F. V. S. in Hamburg, der Anton-Betz-Stiftung der Rheinischen Post in Düsseldorf, dem Institut für Internationale Kommunikation in Düsseldorf und der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften in Bern, denen ich allen seit langen Jahren in der einen oder anderen Weise verbunden bin und ohne deren Mäzenatentum das Projekt «et multum et multa» nie hätte verwirklicht werden können. Festschriften haben - ebenso wie Kongreßakten - die Tendenz, in der thematischen Unverbindlichkeit bzw. Beliebigkeit zu versinken: Jeder Beiträger legt einfach etwas aus dem Bereich vor, der ihn gerade besonders beschäftigt oder interessiert, und was dabei herauskommt, ist ein diffuses Sammelsurium. Diese Gefahr ist nie wirklich zu beseitigen, denn man kann nicht thematisch zu enge Vorgaben machen, wenn man nicht viele, u. U. so- 207 Besprechungen - Comptes rendus 1 Daß sich kein einziger Mann unter den Herausgebern befindet, ist bezeichnend für die Situation in unserem Fach (die in Deutschland noch viel ausgeprägter ist als in der Schweiz): Obwohl die Professuren nach wie vor überwiegend von Männern besetzt sind, ist die Romanistik zu einem «Frauenfach» geworden. Hielten sich während meiner Studienzeit in Zürich männliche und weibliche Studierende noch ungefähr die Waage, komme ich gegenwärtig in meinen Lehrveranstaltungen auf einen Frauenanteil von 92 bis 95 %! gar die Mehrzahl der möglichen Mitarbeiter im vornherein ausschließen will. Es bleibt so nur der Kompromiß über eine Mehrzahl von nicht allzu eng definierten Sektionen - ein Weg, den auch die Herausgeberinnen mit recht gutem Erfolg beschritten haben. Allerdings sind die drei von ihnen vorgegebenen Sektionen umfangmäßig sehr unterschiedlich ausgefallen: Sprachtheorie und Sprachwissenschaftsgeschichte umfaßt siebzehn 2 , Synchronische und diachronische Beschreibung romanischer Sprachen dreizehn, und Mittelalterliche Philologie fünf Beiträge. Daß die mittelalterliche Philologie gewissermaßen das Schlußlicht bildet, hat mich etwas betrübt: Schließlich komme ich von der Mittelalterphilologie her, sie hat mich während meiner ganzen Karriere begleitet und in höchstem Maße interessiert, und sie wird auch im Zentrum meiner noch geplanten Aktivitäten stehen 3 . Dieses Faktum hat aber indikatorischen Charakter für die Lage der (romanischen) Mittelalterphilologie v. a. in den deutschsprachigen Ländern: Sie ist nicht nur auf einem «ungeordneten» Rückzug, sie existiert bereits fast nicht mehr - es gibt nur noch einige «Unbelehrbare», «ewig Gestrige», die an ihr festhalten. Ich schäme mich nicht, zu ihnen zu zählen. Der Band beginnt sinnigerweise mit dem Indovinello veronese als Motto. Darauf folgen das Inhaltsverzeichnis, eine Tabula gratulatoria, ein Vorwort der Herausgeberinnen sowie eine kurze Würdigung des Jubilars als Forscher und Universitätslehrer (xv-xviii). Daran schließt eine Bibliographie (xix-xliv) an, die in die Sektionen Monographien, Editionen, Artikel 4 und Rezensionen gegliedert ist. Nicht verzeichnet sind die Mitherausgeberschaften für die Zeitschrift Travaux de linguistique seit Band 6 (1979) sowie die Reihen Studia humaniora (Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance der Universität Düsseldorf) 5 und Kultur und Erkenntnis (Schriften der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf) 6 , die zwar im Vergleich zu den übrigen Aktivitäten marginalen Status haben, gleichwohl aber in den letzten zwei Jahrzehnten einen erheblichen Arbeits- und Zeitaufwand erforderten. Die Sektion 1, «Sprachtheorie und Sprachwissenschaftsgeschichte», beginnt mit einem Beitrag von Michel Arrivé, «Trois paradoxes relatifs à la linguistique de la parole » (3-15) 7 . Verf. befaßt sich damit mit einem der zentralen und immer wieder neue Stellungnahmen herausfordernden Themen der Saussure-Forschung. Das erste Paradox ist die Tatsache, daß der berühmte Schlußsatz des Cours die Linguistik radikal auf eine linguistique de la langue beschränken will 8 ; gleichwohl faßt Saussure die Möglichkeit einer linguistique de la parole in seinen Vorlesungen und in den übrigen Quellen durchaus ins Auge. Wenn Arrivé allerdings die faculté du langage mehr oder weniger auf die parole beschränken, ja 208 Besprechungen - Comptes rendus 2 Diese Sektion hätte leicht aufgeteilt werden können in Sprachtheorie und Sprachwissenschaftsgeschichte; dies hätte zu etwas ausgewogeneren Proportionen zwischen den einzelnen Sektionen geführt. 3 Es handelt sich hierbei um den Kommentarband zum Aquilon de Bavière (vol. 3 der Edition), in dem allerdings auch die Phänomene Interferenz, Entlehnung, Mischsprache, (literarische) Kreolisierung usw. eine wichtige Rolle spielen werden, sowie um die Edition der ersten altokzitanischen Übersetzung des Neuen Testaments («Lyoner Manuskript»). 4 Nicht uninteressant, daß hier der aus meinen Aufzeichnungen stammende Helvetismus Artikel für Aufsätze stehen geblieben ist! 5 Seit vol. 1 (1985). 6 Ab vol. 5 (1989). 7 Sofern ich im folgenden auf eigene und auf fremde Arbeiten verweise/ verweisen muß, verzichte ich aus Platzgründen auf detaillierte Literaturangaben. Diese finden sich entweder in der Bibliographie des besprochenen Beitrags oder im Schriftenverzeichnis der Festschrift. 8 Obwohl dieser Schlußsatz von den Herausgebern stammt und in den Quellen keine direkte Entsprechung findet, ist er durchaus im Einklang mit Saussures Intentionen. sie fast mit dieser gleichsetzen will, muß ich ihm entschieden widersprechen: Wie ich in meinen Saussure-Studien gezeigt habe 9 , ist die faculté du langage eine anthropologische Konstante, auf der sowohl die langue als auch die parole, sowohl der Sprachgebrauch als auch der Sprachwandel beruhen. Einen ähnlichen Widerspruch fordert auch das zweite Paradox heraus, das nach Arrivé darin besteht, daß der lineare Charakter des signifiant bei Saussure von der parole in die langue transferiert wird. Dies ist nur teilweise richtig, denn beim Übergang parole langue wird die lineare in eine hierarchische Ordnung gewandelt 10 . Bleibt das dritte Paradox, nämlich daß die diachronischen Veränderungen des Systems synchronisch in der parole wurzeln 11 . Dies ist sicher richtig, und richtig ist auch, daß es (wie auch Coseriu immer wieder betont hat) keine transformation phonétique gibt. Nur: Warum ist dies ein Paradox? Ist es nicht immer der Gebrauch von Dingen, Gegenständen, Werkzeugen usw., der zu ihrer Veränderung (bis hin zur Zerstörung) führt? - Gaetano Berruto legt einige «Noterelle di teoria della variazione sociolinguistica» vor (17-29), die als außerordentlich wichtiger Beitrag zur Theoriebildung in der Soziolinguistik einzustufen sind. Einleitend werden die Gegenstände der Soziolinguistik als «oggetti linguistici dotati di significato sociale» definiert (21), was vorerst etwas vage erscheint, dann aber im Hinblick auf Konnotation, die Relation Sprecher-Sprache und die Intentionalität des Sprechers präzisiert wird 12 . Des weiteren führt Verf. überzeugend aus, daß die Soziolinguistik über vier Analyse-Ebenen operiert: derjenigen der variabili sociolinguistiche, der der varietà di lingua, der der lingua und der des repertorio linguistico, wobei diese Ebenen in ansteigender Ordnung bezüglich umfassendem Charakter und Komplexität angeordnet sind (22). Daraus ergibt sich eine Hierarchie der Variablen bzw. Varianten, wobei auf der umfassendsten Ebene, derjenigen des repertorio linguistico, auch die Wahl der Sprache (Italienisch, Hochdeutsch, Schweizerdeutsch . . .) als soziolinguistisches Faktum zu gelten hat: Wir haben damit eine maximale Ausdehnung des Begriffs «soziolinguistische Variable» erreicht. Die Tatsache, daß die sprachliche Variabilität eines der wichtigsten Mittel ist, um soziale Ziele zu erreichen, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß es auch sprachliche Größen ohne soziale Bedeutung gibt. Die soziale Bedeutung hat somit sekundären und gewissermaßen fakultativen Charakter. In einem weiteren Schritt geht Berruto dann auf den Begriff des Kontinuums ein, der v. a. in Europa und der europäischen Linguistik von zentraler Bedeutung ist. Ausgehend von seinem Begriff des continuum con addensamenti (Berruto 1987) unterscheidet er daneben noch drei weitere Arten von Kontinua: ein continuum generico (insieme di varietà non discrete non orientato), ein continuum con polarizzazione (orientato; continua creoli) und ein gradatum (varietà discretizzabili) (24). Die verschiedenen Typen werden über die Parameter Linearität (Eindimensionalität), Polarisierung und Orientierung voneinander unterschieden: linear sind die Dialekte, polarisiert die Kreols (Basilekt/ Mesolekt/ Akrolekt) und die diaphasischen Varietäten einer Sprache, und orientiert wären die pluridimensionalen continua con addensamenti.All dies wird in einer Matrix (27) zusammengefaßt, die mich allerdings nicht überzeugt. Ich schlage vielmehr vor, das Kriterium der Orientierung fallenzulassen bzw. durch die Pluridimensionalität zu ersetzen und das Ganze in eine Arboreszenz umzuformen: 209 Besprechungen - Comptes rendus 9 Wunderli 1981: 50-74. - Die Saussure-Studien figurieren eigenartigerweise nicht in der Bibliographie von Arrivé. 10 Cf. Wunderli 1981: 93-115. 11 Cf. Wunderli 1981: 121-46. 12 Was die letzten beiden Punkte angeht, so sind sie nach meiner Auffassung unbestritten. Nicht ganz so eindeutig scheinen mir die Dinge hinsichtlich der Konnotation zu liegen, die in meiner Sicht von der Register-Gliederung der Sprache abhängt und nur über die Registerwahl an den Sprecher zurückgebunden ist. Dieser Punkt fällt somit im wesentlichen mit den Punkten 2 und 3 zusammen. Alle diese Kontinua haben jedoch prototypischen Charakter, so daß überall mit fließenden Übergängen zu rechnen ist. Ich denke, daß sich diese kleine Modifikation ebenso gut mit Berrutos Überlegungen verträgt wie meine Modifikationen seines Modells in Wunderli 1992. - Annie Boone, «La notion d’actualisation dans l’œuvre de Gustave Guillaume» (31- 43), befaßt sich mit einem Begriff, der auch in meinen eigenen Arbeiten zur Modusproblematik eine zentrale Rolle spielt; sie beschränkt sich allerdings auf die Ausprägung bei Guillaume und seinen Schülern und geht auf weitere Modifikationen nicht ein. Unter actualisation ist der Übergang von der langue zur parole bzw. dem discours zu verstehen, vom virtuel zum actuel, von der puissance zum effet, vom savoir dire über das dire zum dit. Die actualisation (dire) wird so gewissermaßen mit dem acte de langage gleichgesetzt, was aber nicht ohne Probleme ist. Vor allem stellt sich die Frage, wo denn die Virtualität endet und die Aktualität beginnt, was z. B. Joly dazu veranlaßt, ein dire puissanciel und ein dire effectif zu unterscheiden - eine der typisch guillaumistischen Endlosdifferenzierungen, die theoretisch keinen Fortschritt bringen, sondern nur dazu dienen, irgendwelche Kritiken abzuwehren. Da Guillaume selbst hinsichtlich dieses Aspekts geschwankt zu haben scheint, wäre es vielleicht besser, nicht eine scharfe Grenze zu postulieren, sondern von einem Kontinuum zwischen zwei prototypisch aufzufassenden Polen auszugehen. Die Opposition virtuel/ actuel findet sich bei Guillaume bereits in seinen Études de grammaire française logique von 1913, doch wird sie eigentlich erst 1929 in Temps et verbe in Verbindung mit dem Begriff der chronogenèse von zentraler Bedeutung. In diesem Bereich ist v. a. die Schwelle zwischen dem possible und dem probable von entscheidender Bedeutung, weil sie nach guillaumistischer Auffassung für den Wechsel Konjunktiv/ Indikativ verantwortlich wäre. Allerdings werden hier nach meiner Auffassung zwei Dinge in unzulässiger Weise amalgamiert: einerseits der Übergang langue parole (discours), und andererseits die modale Ausdifferenzierungshierarchie (Infinitiv-Partizipien-Konjunktiv-Indikativ), weshalb ich denn auch eine Unterscheidung zwischen Aktivierung (Sprechakt) und Aktualisierung (modale Hierarchie) eingeführt habe 13 . Die Opposition virtuel (inactuel)/ actuel findet sich bei Guillaume aber nicht nur im verbalen, sondern auch im nominalen Bereich, repräsentiert durch den Artikel. Im Artikelbuch von 1919 vertritt er noch die Auffassung, le repräsentiere das inactuel, un dagegen das actuel, wobei allerdings die Perspektive, der point de vue unklar bleiben 14 . Nach 1919 gibt Guillaume diese Auffassung allerdings auf: inaktuell ist nun das artikellose Substantiv, aktuell dagegen das mit einem (beliebigen) Artikel versehene Substan- Varietäten-Kontinuum eindimensional pluridimensional + linear - linear (polarisiert [orientiert]) 210 Besprechungen - Comptes rendus 13 Cf. Wunderli 1970 und 1976. 14 Diese Auffassung steht auch in krassem Widerspruch mit der modernen Forschung, die den «bestimmten» Artikel als Merkmal der Sättigung’, den «unbestimmten» Artikel dagegen als Merkmal der Nicht-Sättigung im Rahmen einer textlinguistischen Artikelkonzeption betrachten. Cf. hierzu z. B. A. Tschida, Kontinuität und Progression, Wilhelmsfeld 1995. tiv. Wenn dann aber aus dem Artikel ein Zeichen für den Übergang langue parole gemacht wird, dann werden ähnlich wie beim Verb zwei grundverschiedene Dinge amalgamiert. - Jean-Claude Chevalier, «Le prophète et le roi. Tourtelon devant G. Paris» (46- 55). In einer brillanten Studie untersucht Chevalier das Verhältnis des Pariser Machtklüngels (G. Paris, P. Meyer) und der Feldforscher aus der Provinz (L. Clédat, C. de Tourtelon usw. ). Ausgangspunkt ist der berühmte Vortrag/ Aufsatz «Les parlers de France» (1888) von Gaston Paris, in dem dieser in den großen Streit zwischen Ascoli und Meyer eingreift und sich auf die Seite seines Pariser Kollegen schlägt: Es gibt für ihn keine Dialekte, sondern nur ein Französisch, in dem sich einzig sprachliche Züge (traits linguistiques) von jeweils unterschiedlicher Ausdehnung ermitteln lassen. Demzufolge gibt es keine Dialektgrenzen und auch keine Grenze zwischen langue d’oc und langue d’oïl. Dies ist für ihn dann auch Anlaß dafür, die Vorläufer Tourtelon und Bringuier, die sich um die Erforschung der Grenze d’oc/ d’oïl bemüht haben, mit Verachtung zu überhäufen und als Amateure abzuqualifizieren. Tourtelon - in der Tat ein Amateur, gleichzeitig aber auch ein in der Feldarbeit erfahrener exzellenter Empiriker - antwortet Paris 1890 mit deutlicher Schärfe in einem Vortrag auf dem Congrès de Philologie romane in Montpellier. Er wirft ihm vor, linguistische Anatomie zu betreiben und nur an geschriebenen Texten, d. h. an toter Sprache zu arbeiten, während er selbst sich mit lebendiger, gesprochener Sprache befasse. Er betreibt Dialektklassifikation auch nicht aufgrund irgendwelcher abstrakter Reflexionen und Konstruktionen eines Schreibtischgelehrten, sondern vielmehr aufgrund von Sprecherurteilen, insbesondere einer als Amateurin eingesetzten Enquêteuse, die die Dialekte aufgrund ihrer Physiognomie beurteilt. Tourtelon plädiert so für eine letztlich pragmatisch fundierte Linguistik - leider ohne Erfolg: Das Gewicht des Pariser Machtklüngels walzt die aufmüpfigen Provinzforscher einfach platt. Und wie die Beispiele von Tesnière und Haudricourt im 20. Jh. zeigen 15 , hat sich daran bis heute nicht viel geändert. - Wolfgang Dahmen, «Die Anfänge der rumänischen Grammatikschreibung» (57-68). In einer wohldokumentierten und umsichtigen Studie befaßt sich Dahmen mit den Anfängen der rumänischen Grammatikographie, die mit mehr als 200 Jahren Verspätung gegenüber dem Italienischen, Spanischen und Französischen einsetzt. Dies hängt maßgeblich damit zusammen, daß es vorerst keine städtische Kultur gab; das ganze kulturelle Leben spielte sich vielmehr an den Bulgarisch sprechenden Bojarenhöfen ab. Erst mit der Herausbildung von größeren städtischen Agglomerationen gewinnt das (vorerst auf die Unterschicht beschränkte) Rumänisch an Bedeutung. Dies führt schließlich 1757 zur Entstehung der ersten (ursprünglich ungedruckten) rumänischen Grammatik, der Gramatic rumâneasc von D. E. Bra oveanul, genannt Eustatievici. Dahmen skizziert den historischen und soziokulturellen Hintergrund dieser Grammatik, ihre Entstehung, die Ziele und Quellen des Autors in überzeugender Weise. Leitsprache ist das Griechische, die Sprache der Phanarioten, dem der höchste Prestigewert zukommt. Folglich geht es auch in erster Linie um die Herausstellung der Unterschiede zum Griechischen. An zweiter Stelle ist dann das Slawische von Bedeutung, denn die Hauptquelle Eustatievicis ist die slawische Grammatik von Smotri ki. Das Lateinische spielt eine untergeordnete Rolle, und lateinische Einflüsse sind möglicherweise über Smotri ki vermittelt. Diese Annahme wird auch durch die Tatsache gestützt, daß die Grammatikterminologie von Eustatievici nicht lateinisch ist; vielmehr versucht er, eine eigene rumänische Terminologie zu schaffen, die Dahmen p. 63s. eindrücklich dokumentiert. Dies ändert allerdings nichts an der - für die Anfänge der Grammatikographie typischen - Tatsache, daß das Rumänische in das Korsett fremder Sprachen (hier: des Griechischen und Slawischen) ge- 211 Besprechungen - Comptes rendus 15 Das sind natürlich nicht die einzigen Namen, die man zitieren könnte, und es fallen jedem Kenner der Szene noch viele andere ein. zwängt wird. Elogen auf die lateinische Abstammung des Rumänischen fehlen bei Eustatievici; sie finden sich erst Ende des 18. Jh.s in der sog. Siebenbürger Schule (Samuil Micu, Gheorghe incai, Petru Maior), auf die Eustatievici mit Sicherheit über Kopien seines Werkes eingewirkt hat, die aber in einem ganz anderen geistigen Kontext arbeitet. Was die einzelsprachliche Beschreibung angeht, erweist sich Eustatievici oft als deutlich adäquater als seine am Latein orientierten Nachfolger. - Alexi Decurtins, «Rätoromanisch und Italienisch. Stichworte und Gedanken zu einem prekären Verhältnis» (69-78). Mit meinem Aufsatz «Zur Regression des Bündnerromanischen» 16 und der darin skizzierten düsteren Perspektive hatte ich seinerzeit in Graubünden erheblichen Staub aufgewirbelt, und selbst ein besonnener Verfechter der romanischen Sache wie Andrea Schorta drohte mir damals mit «Liebesentzug». Alexi Decurtins nimmt dieses traurige Thema wieder auf und gibt mir letztlich im nachhinein recht: Es gibt eben eine deutliche Diskrepanz zwischen den Wunschvorstellungen der Rätoromanen und einer objektiven Beurteilung von außen. Allerdings sind nach 1970 neue Stützen des Bündnerromanischen wie das Rumantsch Grischun, die Tageszeitung Quotidiana und die rätoromanische Nachrichtenagentur ANR dazugekommen; ob sie allerdings eine Trendwende auslösen können, ist mehr als fraglich - mehr als eine Verzögerung des Sprachentods werden sie kaum bewirken. An diese Analyse der aktuellen Situation schließt dann ein Überblick über die historische Entwicklung an: frühe Umorientierung von Gallien nach Italien; ständige Lockerung der Beziehungen zu Italien während fast 1000 Jahren; erfolgloser Versuch eines Zusammengehens von (Ober-) Italienisch und Rätoromanisch und die unselige Questione ladina, usw. Daran schließen dann noch Überlegungen zum «Frühitalienisch» (Italienischunterricht in der Grundschule) in deutschsprachigen Bündnerschulen an - ein Projekt, mit dem sich Graubünden zusammen mit Uri der deutsch-französischen Hegemonie in der übrigen Schweiz widersetzt. Dieses erst in den Anfängen steckende Projekt ist allerdings bereits bedroht: Die blindwütigen Verfechter des Englischen drohen ihm den Garaus zu machen 17 . - Udo L. Figge, «Tesnières Syntaxkonzeption in semiotischer Perspektive» (79-84). Figge geht der Frage nach, wie es um die Autonomie der Syntax und die regierende Funktion von Substantiv bzw. Verb in der Konstituenten- und der Dependenzgrammatik steht. In der Konstituentengrammatik ist die Syntax autonom (asemantisch), während sie in der Dependenzgrammatik der Semantik (v. a. des Verbs) untergeordnet ist. Dies hat zur Folge, daß es in der Beschreibung des Nominalsyntagmas in den beiden Ansätzen kaum Unterschiede gibt; dagegen leistet die Dependenzgrammatik bei der Beschreibung der Relation Verb-Substantiv eindeutig mehr, denn nur sie ist in der Lage, einer variierenden Aktantenzahl (aufgrund semantischer Differenzen) Rechnung zu tragen. - Klaus Hunnius, «Interferenz und Entlehnung in systematischer und wissenschaftsgeschichtlicher Sicht» (85-94), geht der Wissenschaftsgeschichte von Entlehnung und Interferenz nach und kommt dabei zu einigen recht überraschenden Ergebnissen. Während die Entlehnung im Zusammenhang mit der Lehnwortproblematik seit der Mitte des 19. Jh.s in der wissenschaftlichen Diskussion eine Rolle spielt, bekommt die Interferenz erst um die Mitte des 20. Jh.s mit U. Weinreich einen höheren Stellenwert, obwohl sie eine Vorgeschichte hat, die von der Sprachmischung Schuchardts über Meillet, Vendryès bis zum Strukturalismus reicht. Auch Weinreichs Languages in Contact ist letztlich ein strukturalistisches Werk, in dem zwischen der Entlehnung als nicht-strukturelles und der Interferenz als die Struktur beeinflussendes Phänomen unterschieden wird (88). Sprachkontakt findet nun immer im zwei- oder mehrsprachigen Sprecher statt 18 , womit Weinreich in die Nähe von H. Freis Grammaire des fautes und dessen Begriff der «transpo- 212 Besprechungen - Comptes rendus 16 Wunderli 1966. 17 Cf. zu dieser Problematik auch Wunderli 1991. 18 Was allerdings externe psychologische und soziale Faktoren nicht ausschließt. sition interlingue» rückt. Nun ist aber bei Weinreich die Interferenz rein passiv konzipiert; ein aktives Verhalten des Sprechers wird nicht in Rechnung gestellt. Hunnius plädiert zu Recht dafür, daß auch diese Option offengehalten werden müsse. Diese Diskussion führt dann zur Frage, was denn eigentlich Zweisprachigkeit sei. Hunnius zeigt, daß es hier von H. Paul über Bloomfield und Vendryès bis hin zu Forschern der Gegenwart eine breite Palette von Abstufungen gibt. Er trennt zu Recht eigentliche (politisch, sozial, topographisch bedingte) Zweisprachigkeit von rein kulturellem Kontakt und betont, daß rein schriftliche Berührung und Beeinflussung noch keine Zweisprachigkeit sei. Dies führt ihn dann dazu, die Interferenz als ungewollt und auf Unfähigkeit beruhend zu definieren, die Entlehnung dagegen als intendiert und kreativ. Diese scheinbar scharfe Grenze wird durch die Analyse des calque aber gleich wieder verwischt: An sich ein Fall von lexikalischer Interferenz, kann er auch willentlicher Natur sein (Lehnübersetzung, Lehnübertragung). Ob man da von einem Ineinandergreifen der beiden Prinzipien (92) sprechen soll, ist mir allerdings zweifelhaft; es scheint sich mir eher um zwei (prototypische) Pole eines Kontinuums zu handeln, das jede Zwischen- oder Mischposition zuläßt. - Georges Kleiber, «Des cerisiers, ça fleurit au printemps: une construction bien énigmatique» (95-111). In seiner üblichen brillanten und scharfsinnigen Art geht Kleiber der Frage nach, warum ein Satz wie Des cerisiers, ça fleurit au printemps möglich ist, sonst aber das Syntagma des N als generisches Subjekt nicht akzeptabel ist. Die Problematik wird in fünf Unterkapiteln erörtert. Im ersten zeigt Verf., daß des N einen Teil der Klasse N bezeichnet und deshalb keinen generischen Charakter haben kann. Nur: Warum gilt dies nicht bei extraponiertem des N und bei un N? Auf die Ähnlichkeit von des N mit den mass nouns abzuheben (cf. du pain), scheint mir hier wenig hilfreich zu sein (98) 19 . Richtig ist dagegen, daß un bei nicht-generischer Verwendung die Limitierung in sich trägt (= 1), des dagegen nicht; diese muß vielmehr über Situation, Kontext und insbesondere das Prädikat geliefert werden. Eine solche Limitierung entfällt dagegen bei generischem Gebrauch. Diese Spur wird nun im zweiten Unterkapitel weiterverfolgt. Des N SV ist nicht generisch, des N, ça SV dagegen wohl. Kleiber hat vollkommen recht, wenn er den generischen Charakter von des N in diesem Fall auf die Extraposition (dislocation) zurückführt: Dadurch (und durch die Einschiebung des Dummys ça) wird des N der limitierenden Funktion des Prädikats entzogen. Der Rest dieses Unterkapitels scheint mir dagegen überflüssig zu sein. Da Kleiber des als «partitiv» betrachtet, versucht er in einer trickreichen und gewundenen Erklärung zu rechtfertigen, warum ein Partitiv generisch verwendet werden könne. Betrachtet man des dagegen einfach als pluralisiertes un, gibt es kein Problem: Die (mögliche) Generizität erklärt sich genau gleich wie bei un. Unterkapitel 3 befaßt sich mit der Frage, wie es denn möglich sei, daß ça als indeterminiertes bzw. indefinites Pronomen für einen generischen Referenten (= determiniert) stehen könne. Kleiber versucht eine komplizierte Erklärungsskizze, die eine frühere Arbeit zusammenfaßt. Ich denke, daß es auch einfacher geht: Das indefinite ça ist eine Art Hyperonym für alle generischen Determinata, und genau in dieser Funktion fungiert es in Sätzen wie Des cerisiers, ça fleurit au printemps; es ist der Kontext (hier: das extraponierte Nominalsyntagma), der die indefinite Proform ça auf ein generisch verwendetes Nomen einengt. Der vierte Unterpunkt schließlich befaßt sich mit der Frage, warum ils bzw. il nach des/ un X das ça nicht ersetzen kann (*Des cerisiers, ils fleurissent au printemps). Nach Kleiber hängt dies davon ab, daß «le pronom personnel . . . ne peut comme ça gommer le caractère partitif du référent détaché . . . » (108). Nur: wenn des gar kein «Partitiv» ist? Ich denke, dieses Problem läßt sich in Verbindung mit unserem Vorschlag zu Punkt 3 klären: Eine definite 213 Besprechungen - Comptes rendus 19 Des N steht immer mit Substantiven, die Zählbares repräsentieren; des ist nichts anderes als ein Plural von un. Für die mass nouns qua mass nouns gibt es keinen Plural. und determinierte Proform ils (bzw. il) kann unmöglich als Hyperonym für ein unbestimmtes, generisch zu interpretierendes Syntagma fungieren. In diesem Sinne ist wohl auch der fünfte Punkt Kleibers zu beantworten, in dem es um die Frage nach der Funktion der hier diskutierten Konstruktion geht. - Peter Koch, «Saussures mouton und Hjelmlevs trae: zwei Schulbeispiele zwischen Semstruktur und Polysemie» (113-36). Koch geht aus von in der Linguistik berühmten Beispielen wie Saussures mouton und Hjelmslevs trae und fragt, ob ihre unterschiedlichen Bedeutungen über die Semstruktur oder als Fälle von Polysemie zu erklären sind 20 . Argumentiert wird im Rahmen der strukturellen Semantik, der Wortfeldtheorie und der kognitiven Semantik. Problematisch sind die beiden Leitbeispiele v. a. deshalb, weil sich ihre Konstituenten nicht ohne weiteres auf eine Taxonomie abbilden lassen: Sie gehören ganz (mouton) oder zumindest teilweise (trae) verschiedenen taxonomischen Feldern an und sind deshalb keine Kohyponyme. Die folgenden Überlegungen sind mehr theoretischer Natur. Er betont, daß die strukturelle Semantik nicht ohne die Referenzebene auskomme: Sie ermittelt zwar zuerst einmal einzelsprachliche Differenzen zwischen sprachlichen, einer bestimmten Taxonomie angehörenden Einheiten, muß die so ermittelten Seme dann aber über das Designatswissen, d. h. referentiell interpretieren. Bei metonymisch und metaphorisch basierter Polysemie gehören die verschiedenen Items nun aber nicht mehr der gleichen Taxonomie an (cf. mouton: Schaf und Hammelfleisch ). Während Taxonomien auf Hypo- und Hyperonymien beruhen, liegen hier Kontiguitätsrelationen vor, die nach Koch nicht in Taxonomien uminterpretiert werden dürfen; hilfreich ist hier vielmehr der Begriff des frame. Die strukturelle Semantik hätte nun mit diesen Phänomenen große Probleme, die sie entweder durch Integration in die Semanalyse oder aber durch Uminterpretation (Homonymie; effets de sens) mehr schlecht als recht in den Griff zu bekommen versuchte. Die Lösung von Schlieben-Lange (simplest semantics), die eine jeweils einzelsprachliche Kernbedeutung annimmt und daneben gewisse aufgrund universeller Verfahren (z. B. Metapher, Metonymie) generierte abgeleitete Lesarten postuliert, anerkennt Koch für ad-hoc-Bedeutungen, nicht aber für habitualisierte acceptions - worin ich ihm nur beipflichten kann 21 . Bei Habitualisierung hätten wir vielmehr eine ratifizierte Polysemie und damit Bedeutungswandel (oder vielleicht eher: Bedeutungsgenese oder -schöpfung). Die Studie schließt mit einigen Reflexionen zum Sprachvergleich: Da Sprachen nicht nur über ihre (taxonomisch basierten) Semstrukturen, sondern auch über ihre Polysemien charakterisiert wären, würde die Analyse der Polysemien auch ein wichtiges Verfahren im Sprachvergleich darstellen. Kochs Darstellung überzeugt im wesentlichen. Allerdings ist mir nicht einsichtig, warum Polysemien (qua lexikalisierte Metaphern, Metonymien usw.) nicht ebenfalls semisch interpretiert werden sollen - allerdings nicht innerhalb des gleichen Feldes bzw. der gleichen Taxonomie, sondern vielmehr feldübergreifend, d. h. auf einer höheren hierarchischen Ebene. Kochs Argumentation scheint mir zu sehr am einzelnen Zeichen zu haften und zu wenig die umfassenderen semantischen Strukturen ins Auge zu fassen. - Pierre Léon, «Statut de la phonostylistique (amicale chicane à Peter Wunderli)» (137-42). Léon befaßt sich mit meiner Besprechung seines Précis de phonostylistique 22 und skizziert hierfür zuerst einmal vollkommen klar und korrekt meine Position, um dann ausführlicher auf die Form/ Substanz-Problematik im Sinne Hjelmslevs einzugehen. Meine Kritik an seinem eigenen Formbegriff hält er für ein rein terminologisches Problem - und das ist sie gerade nicht. Formen sind im Anschluß an Saussure und Hjelmslev 214 Besprechungen - Comptes rendus 20 Im Gegensatz zu meiner eigenen Auffassung konstruiert er damit einen Gegensatz zwischen Semstruktur und Polysemie; cf. Wunderli 1989. 21 Schliebens Ansatz ist nach meiner Auffassung allerdings weit weniger von Coseriu, als vielmehr von Guillaume geprägt. 22 Wunderli 1995. rein oppositiv und differentiell bestimmte Größen oder müssen, wie Koch im vorhergehenden Beitrag zeigt, zumindest als solche beschrieben werden können. Davon ist Léon aber weit entfernt: Er nimmt immer wieder sehr schnell Formen und Systeme an, wo rein substanzgegebene Erscheinungen vorliegen und kontaminiert damit den linguistischen Formbegriff mit dem vorwissenschaftlichen «Wort» Form. Auch der Rekurs auf die Konnotation löst die Probleme von Léon nicht, zumal sein Konnotationsbegriff nicht registerbasiert ist, sondern in schwammig-literaturwissenschaftlicher Beliebigkeit verharrt. Abhilfe könnten - wenigstens bis zu einem gewissen Grade - der Begriff der (deskriptiven) Norm(en) im Sinne Coserius und Saussures Assoziationsbegriff 23 schaffen. - Brigitte Nerlich, «Saussure and Wittgenstein: The arbitrariness and autonomy of grammar» (143-56). In einer brillanten Studie führt Brigitte Nerlich ihren Vergleich von Saussure und Wittgenstein weiter. Hatte sie bisher das Identitätsproblem und die Innovations- und Wandelthematik bei den beiden Autoren analysiert, geht es nun um die Begriffe Grammatik, Arbitrarietät und Autonomie. Beide Autoren überwinden in ihren Arbeiten den traditionellen Grammatikbegriff. Für Saussure ist Grammatik die systematische Struktur eines synchronen Sprachzustands, für Wittgenstein die «condition of possibility of a language», wobei er zwischen einer Tiefengrammatik (Konzepte) und einer Oberflächengrammatik (Sätze) unterscheidet. Für beide gibt es eine enge Abhängigkeit von Grammatik und Bedeutung (Meinung), für beide sind die Regeln der Grammatik synchronisch verpflichtend, und für beide gibt es Wandel im Laufe der Zeit. «Grammatik» ist dabei nicht präskriptive Grammatik; sie hat vielmehr rein deskriptiven Charakter und erklärt oder begründet die Strukturen einer Sprache/ eines Sprachzustands nicht. In einem zweiten Schritt wird dann das Verhältnis von Grammatik und Bedeutung analysiert. Beide Autoren stehen in der Nachfolge von Kant: Der Mensch auferlegt der Welt die Strukturen seiner Sprache; die Grammatik ist somit gleichzeitig Struktur unserer Welterfahrung. Für Wittgenstein ist Grammatik v. a. das Regelinventar der Sprachspiele, für Saussure dagegen dasjenige der synchronischen (Oberflächen-)Grammatik. Bei beiden dominiert die Bedeutung die Grammatik, aber Saussure kennt keine Tiefengrammatik. Von hier führt der Weg dann zur Analyse von Synonymie und Polysemie. Sprachspiele überlappen, was eine polylektale Grammatik bedingt. Polysemie und Synonymie basieren auf unterschiedlichen Kontexten bzw. Sprachspielen (auch wenn es keine wirkliche Synonymie gibt): avoir peur, craindre, redouter usw. gehören verschiedenen Sprachspielen an und stehen somit in Opposition zueinander 24 . In einem letzten Unterkapitel wird dann auf die Autonomie der Grammatik(en) eingegangen: Sowohl die Tiefengrammatik (Regeln für die Sprachspiele) als auch die Oberflächengrammatik (Regeln für die korrekte Äußerung) sind je für sich genommen autonom. Diese Regeln müssen vollständig erfüllt sein, was scheinbar zu einem Problem bei den sog. Ellipsen führt; die Unvollständigkeit existiert aber jeweils nur aus der Sicht einer bestimmten, der konkreten Äußerung nicht angemessenen Norm, die die spezifischen situationellen Prämissen außer acht läßt. Die Darstellung schließt mit einer Schlußbetrachtung, in der nochmals der arbiträre Charakter und die jeweilige Autonomie von Tiefen- und Oberflächengrammatik unterstrichen, der Primat der Bedeutung über die Form herausgestellt und der Vorrang der Synchronie über die Diachronie betont wird. Phänomene des Wandels sind Regelverstöße in einem alten, aber Regelkonformitäten in einem neuen Kontext (Sprachspiel). - Renzo Raggiunti, «Sincronia e diacronia, lingua e atto linguistico: linguistica teorica e filosofia del linguaggio» (157-73). Raggiunti befaßt sich mit den Saussure’schen 215 Besprechungen - Comptes rendus 23 Cf. Wunderli 1972: 95ss. - Cf. auch Ballys effet par évocation. 24 Das heißt aber, daß sie nicht Elemente ein und derselben Taxonomie sind; damit tut sich auch hier der gleiche Widerspruch auf, den ich schon bei der Besprechung des Beitrags von Peter Koch artikuliert habe. Dichotomien Synchronie/ Diachronie, langue/ parole und fügt diesen die eigene Dichotomie theoretische Linguistik/ Sprachphilosophie hinzu. Er lehnt meine Auffassung, die Unterscheidung sei rein methodologischer Natur, ab, und gleiches gilt auch für den Gegensatz langue/ parole: Beide sind für ihn in re gegeben. Er räumt allerdings ein, daß seine Auffassung diejenige des Sprachphilosophen sei, und daß sich die Dinge aus der Sicht des Linguisten anders präsentieren. Dazu kann ich nur sagen: Dann bin ich lieber mit Saussure Linguist! Die weiteren Ausführungen befassen sich mit der zentralen Rolle der parole bzw. des atto linguistico, die/ der den Nexus zwischen Synchronie und Diachronie bildet, da alle Sprachwandelphänomene in ihm wurzeln - ganz gleichgültig, ob es sich um Lautwandel oder analogischen Wandel handelt 25 . Allerdings lehnt er Chomskys Auffassung, die Kompetenz sei der «Ort» des Wandels, mit Entschiedenheit ab: Kreativ wäre nur die parole. Das lehne ich nun meinerseits ab 26 : Zwar manifestieren sich Neuerungen zuerst in der parole, zu lokalisieren ist die Kreativität dagegen in der faculté de langage, die jenseits der Dichotomie langue/ parole anzusiedeln ist. Der Rest des Beitrags befaßt sich mit Croce, der die Dichotomie langue/ parole ignoriert und dabei übersieht, daß so der atto linguistico unerklärbar wird, da jeder Sprechakt auf der langue basiert und durch diese konditioniert wird. Croce hätte zwar die kreative Komponente des atto linguistico erkannt 27 , doch lasse sich seine Gleichsetzung linguaggio = arte nicht aufrechterhalten. Ein Beitrag, der bei aller Offenheit für linguistische Sichtweisen wieder einmal deutlich macht, wie tief der Graben zwischen Linguisten und Sprachphilosophen letztlich ist. - Simone Roggenbuck, «Zur Rolle des dépôt bei Saussure» (175-80). In ihrer gewohnt prägnanten und stringenten Art analysiert Simone Roggenbuck den Begriff des dépôt bei Saussure. Die Zuordnungen langue-société und paroleindividu würden nur allzu oft durchbrochen - u. a. auch dann, wenn die langue als Instrument des Individuums zum dépôt wird 28 . Die langue kennt so zwei Erscheinungsformen, nämlich als (überindividuelles) System und als (individuelles) dépôt, das man auch mit den Freudschen Erinnerungsspuren gleichsetzen kann 29 . Das dépôt ist somit (ontogenetisch und ontologisch) der Mittler zwischen (sozialer) langue und parole. Auch wenn es nicht zum Kernbereich der Linguistik und der linguistischen Reflexion gehört, liefert es doch die Basis für die analyse objective des Linguisten. - Pierre Swiggers, «Le statut du participe dans la grammaire française du seizième siècle» (181-95). Swiggers untersucht die Behandlung der Partizipien in 21 Grammatiken des 16. Jh.s, die von Palsgrave (1530) bis Wetzelius (1599) reichen. Es wird meist darauf hingewiesen, daß das Partizip einerseits zwar Diathesen und Valenzen kenne, andererseits aber Numerus und Genus zum Ausdruck bringe, d. h. sowohl verbale als auch nominale Charakteristika habe; definiert wird es trotzdem (oder gerade deswegen? ) meist nicht, und auch eine Behandlung als selbständiger Redeteil findet sich nur bei Meigret und Bosquet. Klassiert werden die Partizipien je nachdem nach flexivisch/ temporalen (présent/ passé) 30 oder semantischen (aktiv/ passiv) Gesichtspunkten. 216 Besprechungen - Comptes rendus 25 In diesem Punkt übernimmt Raggiunti die Auffassung Coserius, daß beim Lautwandel die neue Form die alte ersetze, beim analogischen Wandel dagegen neue und alte Form (zumindest für eine gewisse Zeit) koexistieren. 26 Cf. Wunderli 1981: 50ss. 27 Cf. aber meine Vorbehalte oben. 28 Ob man allerdings die faculté du langage so ohne weiteres dem individuellen Bereich zuweisen darf, scheint mir doch eher zweifelhaft: Es handelt sich hierbei um eine anthropologische Konstante, die sich als solche zwar im Individuum manifestiert, aber die nicht spezifisch individuell ist (cf. Wunderli 1981: 50ss.). 29 Daß es auch so etwas wie ein syntaktisches dépôt gibt, scheint mir nicht nur wahrscheinlich (178), sondern außer Zweifel zu stehen; cf. Wunderli 1981: 75ss. 30 Es handelt sich hierbei eigentlich um zwei verschiedene Gesichtspunkte, die in der Regel aber vermischt sind. Die Darstellung der Akzidenzien der Partizipien führt dann zum Schluß, daß ihre Behandlung noch stark in der lateinisch-humanistischen Tradition verhaftet und durch viele Zweifel und Unsicherheiten gekennzeichnet sei; es gibt kaum Überlegungen zum Status oder der Funktion der Partizipien, und es denkt niemand daran, in ihnen einen Modus des Verbs zu sehen. - Marc Wilmet, «La fin des classes» (197-206). Das Problem der Wortartenklassifikation verfolgt Grammatiker, Sprachphilosophen und Linguisten von der Antike bis heute. Dabei lassen sich zwei grundsätzliche Haltungen unterscheiden: die feste Zuweisung einer Einheit an eine Klasse und die variable Funktionszuweisung. Obwohl in der traditionellen Grammatik z. B. durch die dérivation impropre vertreten, hat die zweite Sehweise ihre Vertreter v. a. im 20. Jh.; hierher gehören z. B. Konzepte wie Ballys translation, Martinets transfert und Tesnières translation. Einen entscheidenden Fortschritt würde Guillaumes Begriff der Inzidenz bringen, die je nachdem interner (support im eigenen Semantismus) oder externer (support in einer «fremden» Einheit oder Relation) sein kann. Wilmet kombiniert nun diese beiden Inzidenzarten mit den Kategorien der unmittelbaren (Nomen) und mittelbaren (Adjektiv, Verb) Extension und erhält auf diese Weise vier Kategorien, denen er Substantiv, Adjektiv und Verb in jeweils unterschiedlichen Funktionen zuweist - womit die traditionelle Klassifikation obsolet wird. Pronomina und Adverbien werden eliminiert und den vier Hauptklassen zugewiesen. Probleme machen die Präposition und die Konjunktion; über die Funktionen ligature, translation und enchâssement werden sie als Konnektoren ebenfalls in die externe Inzidenz integriert. Die Interjektionen schließlich genießen als mots-phrases einen Sonderstatus. Ob mit diesem Versuch allerdings das Ende der Wortklassen besiegelt ist, scheint mir zweifelhaft; um dies zu entscheiden, müßten vielmehr auch die syntaktischen Leistungen und Möglichkeiten der einzelnen Kategorien noch genauer analysiert werden. - Gerd Wotjak, «Zu den Beziehungen zwischen Ausdrucks- und Inhaltsebene sprachlicher Zeichen (am Beispiel deutscher Verben)» (207-20). In der Forschung ist die Frage, ob es eine Isomorphie zwischen Inhalts- und Ausdrucksebene der sprachlichen Einheiten gibt, umstritten.Wotjak geht dieser Frage im Rahmen seines eigenen Ansatzes nach, wobei er v. a. darauf abhebt, daß die Semantik immer mehr an Bedeutung gewinnt - und dies selbst für den syntaktischen Bereich. Er beschreibt die allgemeinen Charakteristika der Relation zwischen den beiden Ebenen und skizziert die sich daraus ergebenden Themenbereiche, beschränkt sich in der Folge dann allerdings auf die Polysemie und Homonymie (auf deren Unterscheidung er allerdings verzichtet). Er plädiert dafür, semantische und morphosyntaktische Beschreibung möglichst unabhängig voneinander durchzuführen und unterstreicht, daß sich semantische Unterschiede nicht zwingend auf der Ausdrucksebene (= Syntax? ) niederschlagen. Nur schon dies spricht nach ihm gegen einen Isomorphismus, und diese Sicht wird durch weitere Beispiele aus dem Bereich der Komposita, der Derivativa, der Phraseolexeme (Idioms) sowie aufgrund der logischen Valenztheorie von Bondzio et al. gestützt. Ich denke allerdings, daß man die Dinge auch ganz anders angehen könnte, nämlich dadurch, daß man auch die syntaktischen Einheiten (Syntakteme) als zweiseitige Zeichen mit Inhalts- und Ausdruckskomponente auffassen würde. Wotjaks Forderung nach zwei getrennten Untersuchungsbereichen müßte dann in Lexik/ Syntax abgewandelt werden. Damit würde sein erstes Argument gegen die Isomorphie weitgehend hinfällig. Das Argument der Komposita, Derivativa und Phraseologismen ist es ohnehin, denn diese Einheiten dürfen, sobald sie lexikalisiert sind, nicht mehr in ihre Bausteine zerlegt werden, sondern sind als Ganzes als eine einzige lexikalische Einheit aufzufassen. Und was schließlich die logische Valenztheorie angeht: Sie ist außersprachlicher bzw. nicht-linguistischer Natur und kann deshalb bestenfalls als tertium comparationis fungieren, hat aber keine Aussagekraft bezüglich der einzelsprachlichen Gegebenheiten. Die zweite Sektion des Bandes ist der synchronischen und diachronischen Beschreibung romanischer Sprachen gewidmet und umfaßt dreizehn Beiträge. Sie beginnt mit einer Un- 217 Besprechungen - Comptes rendus tersuchung des Altmeisters Kurt Baldinger, «Die Reimverstärkung als volkstümliches stilistisches Mittel (Tu parles, Charles oder Alles in Butter, Frau Luther)» (223-40). Er liefert ein sehr schönes Belegmaterial für diesen von der Lexikologie und Lexikographie sehr wenig beachteten Typus, wobei im Zentrum die 105 Belege mit Personennamen oder -bezeichnung und Reim stehen; ergänzt wird dieses Korpus über die Nrn. 106-70, wo der Reim nicht über generalisierte Personennamen läuft. Das Ganze ist eingebettet in Betrachtungen zu reimlosen Konstruktionen, zur volkstümlichen Intensivierungstechnik mit Hilfe von Verdoppelungen und zur Rolle des Binnenreims in Redewendungen und sprichwörtlichen Redensarten. - Monica Berretta, «Causatività e diatesi: autocausativi come potenziali passivi in italiano» (241-51). In einer umsichtigen, sauberen und in jeder Hinsicht überzeugenden Untersuchung analysiert Monica Berretta die als «semipassivi» eingestuften Konstruktionen vom Typus farsi curare und lasciarsi accarezzare, die zwar in deutschen Grammatiken erwähnt werden, in italienischen Werken aber meist keine Beachtung finden. Sie arbeitet die folgenden Charakteristika heraus: Das Eintreten eines kausativen Subjekts senkt die übrigen Aktanten um eine Stufe ab (was seit Tesnière bekannt ist); der Infinitiv selbst kann nie passiv oder reflexiv sein, die Reflexivität bezieht sich immer auf das Subjekt der Einheit / kausatives Verb + Inf./ ; Autokausative unterscheiden sich z. T. erheblich von den Passivkonstruktionen, u. a. dann, wenn das Reflexivum für einen ethischen Dativ steht oder wenn das abhängige Verb intransitiv ist. Charakteristisch für die Konstruktionen mit transitiven Verben ist, daß das (ursprüngliche) Subjekt zwar verschoben, aber das Objekt nicht (wie beim Passiv) zum Subjekt wird. Statistisch interessant ist die Tatsache, daß Konstruktionen dieser Art meist mit einem Subjekt auftreten, das das Merkmal / + menschlich/ enthält; bei den seltenen Fällen mit / - menschlich/ liegt regelmäßig eine Personalisierung vor. - Germán Colón, «La antigua área aragonesa y valenciana de escaliar roturar » (253-58). Colón zeigt, daß die Form staliar in den Furs de València (Petition von 1342) verlesen ist für (e)scaliar, das er mit Diez und Meyer-Lübke aus lat. squalidare squalidus ableitet. Obwohl heute nur noch im Aragonesischen bezeugt, handelt es sich hierbei nicht um einen juristischen Aragonesismus, sondern um eine autochthone Form, die typisch für eine alte Reliktzone ist und zu der auch Formen wie vaso, gassó, gobanella und esvarar gehören. Die Form esquallar wird gegen Corominas aus semantischen Gründen nicht zu escaliar gestellt. - Robert de Dardel, «Réflexions sur la genèse du futur roman» (259-67). Verf. beruft sich v. a. auf Fleischmann 1982 und will die «Grauzonen» dieser Arbeit aufhellen helfen; vor allem geht es ihm um die Fragen: Wann verschwindet cantabo? Warum verschwindet es? Wieso setzt sich in cantare habeo die Ordnung OV durch 31 ? Leider tut er es Suzanne Fleischmann in der Mißachtung der europäischen Forschung gleich: Er kennt Müller 1964, 1969 und 1970 ebenso wenig wie Wunderli 1969 und 1970a/ b 32 . Zudem läßt er die Konkurrenzformen zu cantare habeo weitestgehend außer acht, spricht von einem «ordre rigide» bei cantare habeo (und was ist mit habeo cantare, das sehr wohl belegt ist? ) und tut weiterhin so, als gebe es so etwas wie ein einheitliches Vulgärlatein oder Protoromanisch 33 . Bei der Diskussion von cantavero, das eine Zeit lang in Konkurrenz zu cantabo tritt, werden Aktionsstand und Aspekt nicht auseinandergehalten, und auch der Begriff der Tempusmetapher fehlt; nur mit diesem läßt sich die spätere «konjunktivische» Entwicklung auf der Iberischen Halbinsel erklären 34 . - Horst Geckeler, «Überlegungen zum Verhältnis von Basislexem und seinen Ableitungen aus semantischer Sicht» (269-78). Geckeler geht der Frage nach, ob das Vor- 218 Besprechungen - Comptes rendus 31 Ob man hier allerdings von einer Wortordnung OV sprechen kann, scheint mir doch mehr als zweifelhaft. 32 Cf. hierzu auch Wunderli 1976: 298ss. und die dortige Bibliographie. 33 Cf. hierzu Liver/ Wunderli 1994. 34 Cf. Wunderli 1976: 52ss., v. a. 68-73. liegen unterschiedlicher Ableitungsreihen ein Beweis für Homonymie der Basislexien bzw. -lexeme sei, wobei er sich auf Godels Unterscheidung von homonymie und identité (Polysemie) stützt und ähnliche Ansätze auch bei Benveniste und Henri Frei mit einbezieht. Die Argumentation kreist um Beispiele wie bois Wald/ Holz , bouton Knospe/ Knopf/ Pickel , aber es werden auch charger, défendre, détacher, homme, culture u. v. a. m. mit einbezogen. Das Ergebnis ist sicher richtig: Homonyme und polyseme Ableitungsreihen verhalten sich nicht prinzipiell verschieden, d. h. in beiden Bereichen sind unterschiedliche Ableitungsreihen möglich; das von Godel vorgeschlagene Unterscheidungsverfahren ist somit nicht in der Lage, ein Unterscheidungswerkzeug für die beiden Bereiche zu liefern. Zwei Punkte scheinen mir aber verbesserungsbedürftig zu sein. Zum einen gibt Verf. keine Defintion dessen, was er unter Homonymie und Polysemie versteht, und ich kann nicht glauben, daß er diese Frage für trivial oder einem allgemeinen Konsens unterliegend hält. Zum anderen hält er sich bei der Zuordnung zu den Bereichen einfach daran, ob Wörterbücher wie der DFV, der DFC, Lexis, der RobMéth. ein oder zwei Lemmata ansetzen. Aber es ist doch bekannt, daß die Wörterbücher dabei keine operationalen Kriterien einsetzen, sondern mehr oder weniger «frei Schnauze» entscheiden. Trotz dieser Schwächen dürfte aber Geckelers Resultat Bestand haben. - Hans Geisler, «Wortstellung und Informationswert im altfranzösischen Relativsatz mit qui» (279-92). In einer außerordentlich schönen und soliden Studie untersucht mein Kollege Hans Geisler die funktionale Nutzung der Verbstellung im Relativsatz vom 12. bis zum 15. Jh. Während im Hauptsatz die Entwicklung X T OV X T VO (später S T VO/ SVO) im 12. Jh. abgeschlossen ist, bleibt im Relativsatz die alte Ordnung bis gegen Ende der mittelfranzösischen Epoche möglich. Geisler zeigt nun anhand von Beispielen aus La mort le roi Artu, daß in dieser Übergangsphase die Konstruktion qui-VX v. a. bei hohem, die Konstruktion qui-XV v. a. bei geringem Informationswert des Relativsatzes zum Zuge kommt. Dabei nimmt er v. a. Überlegungen von Rychner 1970/ 71 wieder auf und analysiert die Wirkung von Faktoren wie: Protagonist/ Nebenfigur als Antezedens, Einbettung in die Erzählebene/ Kommentarebene, Einbettung in einen temporalen Nebensatz, Einbettung in rhematische Textabschnitte, Emphase/ Hervorhebung usw. Zwar ist eine Reihe von Beispielen schwer zu erklären; im wesentlichen bestätigt sich aber die Hypothese, daß ein höheres Gewicht des Nebensatzes eine Zweitstellung des Verbs fördert. - Hans Goebl, «Zu einer dialektometrischen Analyse der Daten des Dees-Atlasses von 1980» (293-309). Goebl wertet die Daten des Skripta-Atlasses von A. Dees (1980) dialektometrisch aus; die Daten sind ihm von P. van Reenen in maschinenlesbarer Form überlassen worden. In 2 Tabellen und 9 sehr eindrücklichen Karten (Ähnlichkeitskarten, Kennwertsynopse, Isoglossensynthese und Dendrogramm) kann er zeigen, daß seine Methode auch für die Skriptaforschung überzeugende Resultate bringt. - Matthias Grünert, «Der surselvische Konjunktiv: Die Nutzung im Kompletivsatz» (311-28). In einer sehr schönen Studie untersucht Grünert den Modusgebrauch im surselvischen Objektsatz. Sein Ausgangspunkt ist die Darstellung bei Gsell/ Wandruszka 1986, die in durchaus plausibler und angemessener Weise zwischen einer volitiven, einer dubitativen und einer thematischen Nutzung des Konjunktivs unterscheiden 35 , wobei die ersten beiden Verwendungen einschränkender Natur sind, die dritte dagegen nicht einschränkender Natur ist. Nachdem diese Grundgegebenheiten anhand des Französischen, Italienischen und Spanischen illustriert worden sind, wendet sich Verf. dem Surselvischen zu. Zuerst wird der einschränkende Gebrauch diskutiert (volitiv, faktitiv, dubitativ), in dem sich nur geringfügige Unterschiede zu den anderen romanischen Sprachen und insbesondere zum Italienischen ergeben 36 . Ganz anders liegen die Dinge im nicht ein- 219 Besprechungen - Comptes rendus 35 Cf. auch Wunderli 1989. 36 Auffällig ist allerdings, daß der Konjunktivgebrauch nach deklarativen Verben zu fehlen scheint. schränkenden Bereich. Obwohl hier der Indikativ dominiert, ergeben sich doch gerade in diesem Sektor die stärksten Abweichungen zur übrigen Romania. Einmal findet sich hier der Konjunktiv nach Ausdrücken der Beurteilung, die eine volitive Nuance transportieren (können), und darüber hinaus nach Ausdrücken des Staunens, wo die Nuance eher faktitivdubitativer Natur ist; in beiden Fällen haben wir einen Modusgebrauch, wie er auch in den anderen romanischen Sprachen auf einer älteren Entwicklungsstufe üblich war. Eindeutig nur thematisch ist der Konjunktiv im Fragesatz, wo er v. a. im Altsurselvischen öfters auftritt. Diese Feststellung leitet dann zur indirekten Redewiedergabe (Verben des Sagens, der Wahrnehmung, der affektischen Beurteilung) über, wo das Surselvische - vollkommen atypisch für die Romania - eine deutliche Neigung zur Konjunktivsetzung zeigt. Grünert stuft diese Konstruktionen (wohl zu Recht) als reliefgeberisch ein 37 . Die Arbeit schließt mit der kaum zu widerlegenden Feststellung, daß das Surselvische zwar die gleichen Kategorien der Konjunktivnutzung kennt wie die anderen romanischen Sprachen, daß die Anwendungsbereiche aber anders konturiert sind. Auffällig ist v.a., daß die indirekte Redewiedergabe und damit die Reliefgebung gewissermaßen das Zentrum der Konjunktivnutzung darstellt. Erstaunlich ist nur, daß Verf. - obwohl er sehr oft hart daran ist - nie ausdrücklich sagt, daß wir es hier ganz offensichtlich mit einem deutschen bzw. alemannischen Einfluß im syntaktischen Bereich zu tun haben. Dies ist insofern von großer Bedeutung, als die Syntax in der Regel viel weniger anfällig für Interferenzen ist als etwa das Lexikon. - Gerold Hilty, «Zur Stellung des attributiven Adjektivs im Französischen» (329-39). Mein Lehrer kreuzt mit mir die Klingen bezüglich der Positionierung des Adjektivs im Französischen 38 ; da wir auf eine bald vierzigjährige Streitkultur zurückblicken können, die unserer freundschaftlichen Verbundenheit nie Abbruch getan hat, spiele ich den Ball zurück. Hilty kritisiert vor allem, daß ich die Adjektive in zwei Klassen aufteile, nämlich in solche, die «normalerweise» nachgestellt, und solche, die «normalerweise» vorangestellt werden, und dies insbesondere mit dem Argument, rein statistisch sei dies ein unlösbares Problem, da die Zahlen je nach der Natur des Korpus stark variieren würden; zudem gebe es Probleme mit den Adjektiven, die zwei an unterschiedliche Positionen gebundene Bedeutungen kennen. Auf den ganzen Rest meines Ansatzes geht er überhaupt nicht ein. Hilty legt damit zwar mit sicherem Instinkt den Finger auf den Schwachpunkt meines Ansatzes - die Ermittlung der beiden Adjektivgruppen -, aber er wird ihm insofern nicht gerecht, als ich auch nie behauptet habe, dieses Problem könne rein statistisch gelöst werden. Vielmehr entscheidet sich die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Klasse aufgrund der absolut unmarkierten Verwendung: also ohne Emphase, übertragene Bedeutung, Metapher, usw. Natürlich sind auch in diesem Falle statistische Verfahren möglich, aber sie setzen eine semantische Interpretation des Einzelfalls voraus. Was schließlich die Adjektive mit zwei (oder mehr) Bedeutungen angeht, stellen sie für mich insofern kein Problem dar, als ich sie als homonymische Fälle betrachte 39 . Hiltys eigener Ansatz geht von zwei unterschiedlichen Syntagmenbauplänen mit je spezifischem Semantismus aus: SA = Reduktion der Extension des Substantivs und AS Aktualisierung der Intension des Substantivs . Seine Argumentation krankt aber v. a. daran, daß er von Possessivadjektiven, Demonstrativadjektiven, Zahladjektiven usw. spricht und dabei übersieht, daß es sich hierbei nicht um Adjektive, sondern um mit dem Artikel kommutierende Formen, d. h. um Artikel handelt. Seine «rein morphematischen Adjektive» (334) sind gar keine Adjektive, sondern vielmehr Artikel! In diesem Sündenfall befindet er sich leider in Ge- 220 Besprechungen - Comptes rendus 37 «Thematisch» ist bei der Redewiedergabe nicht angemessen, da keine Wiederaufnahme vorliegt. 38 Cf. Wunderli 1987. 39 Daß diesen Homonymien ursprünglich eine Metapher und damit eine Polysemie zugrunde liegt, ist ein historisches Faktum, das für die synchronische Interpretation irrelevant ist. meinschaft mit Weinrich, an den er sich übrigens explizit anschließt. Zwar ist es wohl richtig, daß bei (okkasionell) vorangestellten Adjektiven eine Intensionsreduktion stattfindet. Aber dann muß natürlich gefragt werden: Was wird denn bei den «adjectifs essentiellement antéposés» reduziert? Die Reduktionsaussage kann doch nur normalerweise nachgestellte Adjektive betreffen.Auch die Behauptung, vorangestellte Adjektive müßten als Morpheme bzw. Aktualisatoren betrachtet werden (335) ist unhaltbar: Alle angeführten Beispiele sind nicht deiktischer, sondern definitorischer Natur! Und was soll ich davon halten, daß Hilty schließlich selbst zwei Klassen von Adjektiven annimmt, von denen die einen (normalerweise) vor-, die anderen nachgestellt werden? Entzieht er damit nicht der Kritik an meinem Ansatz jegliche Basis? - Günter Holtus, «Brevi osservazioni sull’indicazione dei prestiti nel LEI» (342-46). Im LEI wird das Material normalerweise in drei Sektionen präsentiert und interpretiert; Holtus befaßt sich mit der dritten Sektion, die den Entlehnungen gewidmet ist. Er kann dabei zweierlei zeigen. Einmal sind die Entlehnungen aus dem Galloromanischen rund neunmal so häufig wie diejenigen aus dem Iberoromanischen. Dann zeigt sich aber auch, daß die Kennzeichnung der Entlehnungen oft problematisch ist, und dies v. a. wegen einer zweifelhaften Systematik. Seiner Forderung nach einer gründlichen Reorganisation und Restrukturierung der Sektion 3 kann man nur zustimmen. - Georges Lüdi, « Zweisprachige Rede in literarischen Texten» (347-57). Zweibzw. mehrsprachige Rede liegt nach Lüdi am Schnittpunkt zwischen individueller und sozialer Mehrsprachigkeit. Meist wird das Phänomen als typisch für die Oralität angesehen und den Bereichen «informell» und «kommunikative Nähe» zugewiesen, oft auch mit einem Mangel an Kompetenz in Verbindung gebracht - und dies, obwohl es eine lange Tradition von literarischen Beispielen gibt, wo die mehrsprachige Rede als besonderes Stilmerkmal zu gelten hat. Unter diesen Prämissen werden die Sprachenwahl bei Mehrsprachigen, ihre Funktion bei der Identitätsmarkierung, die Wahl der ein- und der mehrsprachigen Rede, die exolinguale und die bilinguale Perspektive 40 bei der Untersuchung der Phänomene und mythisierte Einsprachigkeitsideologie diskutiert. Es folgen dann (literarische) Beispiele für «exolinguale» transkodische Markierungen, die sorgfältig analysiert werden: Balzac, Le Cousin Pons, Molière, Le Bourgeois Gentilhomme und Le Malade imaginaire, sowie Belege aus der Migrantenliteratur (François Cavanna, Dragica Raj i ); entsprechend wird auch für die «bilinguale» transkodische Markierung mit Texten von Pedro Ortiz Vasquez und Immacolata Amodeo verfahren. Die abschließende Diskussion macht deutlich, daß wir es heute in der Literatur mit einem Kontinuum zwischen rein exo- und rein bilingualen Phänomenen zu tun haben, in dem alle Mischformen möglich sind; die Wahl jeder der möglichen Formen stellt einen Identitätsakt dar und hat als Stellungnahme im Konflikt zwischen verschiedenen Sprachwertsystemen zu gelten. - Max Pfister, «Romanische Entlehnungen im Band 6 des Wortatlasses der kontinentalgermanischen Winzerterminologie (WKW)» (359-64). Mein Freund Max Pfister stellt mit großer Sorgfalt die romanistisch interessanten Weinbautermini aus dem 6. Band des WKW von Wolfgang Kleiber zusammen und interpretiert sie überzeugend. Es ergibt sich dabei, daß bezüglich der Häufigkeit von Interferenzen folgende Hierarchie angesetzt werden kann: 1. Südtirol, 2. Wallis, 3. Mosel, 4. Elsaß. Interessant sind auch die Entlehnungswege. Der Moselraum (und das Rheinland) sind natürlicherweise v. a. Richtung Ostrand der Galloromania orientiert. Es gibt aber auch eine Reihe von Ausdrücken, die in der Galloromania unbekannt sind; hier haben wir es mit Wanderwörtern aus Oberitalien zu tun, die über die Raetia Prima und Secunda nach Süddeutschland und von dort bis an die Mosel gelangt sind. - Wolfgang Schweickard, «dabul(l)i zenzero di Dabul » (365-70). Schweickard geht der in den Briefen des Venezianers Andrea Berengo belegten 221 Besprechungen - Comptes rendus 40 In etwa: Spracherwerbsforschung vs. Zweisprachigkeitsforschung. Form dabul(l)i Ingwer aus Dabul nach. Dabul ( Dabhol) selbst liegt in der Nähe von Bombay und wird in Texten des 15. und 16. Jh.s öfters als Städtenamen aufgeführt; die Form dabul(l)i dürfte mit der sog. Nisben-Endung -i gebildet sein und die Zugehörigkeit bzw. Herkunft bezeichnen. Es ist an eine Entwicklung zenzari dabulli dabulli dabulli veneziani zu denken. Der letzte Beleg dürfte allerdings deutlich machen, daß die Bedeutung zenzero di Dabul am Ende der Entwicklungskette zu schlichtem zenzero reduziert wurde; der Übergang muß im Rahmen von Stufe 2 (dabulli) stattgefunden haben. Aus den eingangs genannten Gründen ist die 3. Sektion (Mittelalterliche Philologie) mit nur fünf Beiträgen am kleinsten geraten. Dies ist für mich umso bedauerlicher, als es sich hierbei eigentlich um meine «Hausdomäne» handelt, in der ich meine wissenschaftliche Karriere begonnen habe und in der ich sie auch zu beenden gedenke. Umso mehr freue ich mich darüber, daß dieser Teil mit einem sehr schönen und in jeder Hinsicht herausragenden Beitrag beginnt: Michel Burger, «La langue et les graphies du manuscrit V de la Vie de Saint Alexis» (373-86). Pio Rajna hatte 1929 die Version V des Alexiuslieds auf das 12. Jh. datiert und im wallonischen Raum lokalisiert. Erst 1963 zog Helmut Stimm die Richtigkeit von Rajnas Auffassung in Zweifel, v. a. aufgrund folgender Züge: Endung -em für die 1. Pers.pl., Imp. faides (von faire) für die 2. Pers.pl., Nachfolgeformen des lat. Plq.perf. Ind. für den Ausdruck des Irrealis 41 . Diese Züge würden sich nicht im Norden der langue d’oïl finden, wären dagegen charakteristisch für den frankoprovenzalischen (z. T. auch den provenzalischen) Raum. Dazu kommen weitere Züge: mune/ munere munera bijoux, présents de noces , end inde, attende statt attente, pediez für pitié, anz antius (statt ainz), gleise für église usw. Diese Beweise hatten Gerhard Rohlfs dazu veranlaßt, seine Meinung über die Herkunft von V zu revidieren, nicht aber Gianfranco Contini, der auf eine Reihe von Zügen hinwies, die wohl im Wallonischen, nicht aber im Frankoprovenzalischen nachzuweisen sind: die Graphie ke für que, lh für [ λ ], nh für [ñ], ei Á[, i É[, u Ó[, auisses für aüsses usw. Es gibt also einen eindeutigen Widerspruch zwischen frankoprovenzalischen und wallonischen Zügen, und man muß sich fragen, ob eine frankoprovenzalische Vorlage von einem wallonischen Kopisten abgeschrieben wurde oder umgekehrt. Nachdem er sorgfältig noch einige weitere Züge und v. a. die Textüberlieferung analysiert hat, kommt Burger zu dem schwer zu widerlegenden Schluß, daß V auf einer frankoprovenzalischen Vorlage beruht und gegen die Mitte des 12. Jh.s im wallonischen Raum kopiert wurde; in den andern Mss wäre das frprov. Element viel stärker, z. T. sogar ganz eliminiert worden. Dieses Szenario paßt auch gut zu der Tatsache, daß die lat. Fassung des Alexius aus Italien stammt: Der frankoprovenzalische Raum liegt damit ebenso wie Wallonien auf dem Weg nach England . . . - Marc-René Jung, «Les formes strophiques des jeux-partis autour de Rolant (chansonnier d’Oxford, Bodleian Library, Douce 308)» (387-98). Marc-René Jung analysiert die Liederhandschrift I, in der die Gedichte nach Genera klassiert sind, in metrischer Hinsicht. Dies ist v. a. auch deshalb wichtig, weil dieses Chansonnier eine außerordentlich große Zahl von Unica enthält: Bei den Grans chans sind es 39 von 91 Texten, bei den Estampies 19 von 19, bei den Chansons contre amour 22 von 22 usw. Jung untersucht hier die Jeux partis, die 27 Unica enthalten. Die Texte sind wohl zwischen 1305 und September 1310 entstanden, die Autoren stammen fast alle aus der Region von Bar. Es finden sich Strophen mit sieben bis fünfzehn Versen, wobei sich eine deutliche Präferenz von I für lange Strophen herausschält; zudem finden sich die langen Strophen bevorzugt im Roland-Kontext. Die Hs. scheint nach möglichst ausgedehnter Strophenvariation zu streben und in diesem Punkt dezidiert modern sein zu wollen. - Grazia Lindt, «Die altokzitanische Gattungssemantik von Friedrich Diez und Peter Wunderli, oder: Wer auf das richtige Pferd setzt» (399-416). In einem fast schon panegyrischen Beitrag, 222 Besprechungen - Comptes rendus 41 Cf. hierfür auch Wunderli 1976: 68-71 und die dort in N50 zitierte Literatur. der in mir an verschiedenen Stellen Gefühle der Verlegenheit weckt, will Grazia Lindt die aokz. Gattungsgeschichtsschreibung von «Diez bis Wunderli» nachzeichnen, wobei sie allerdings mit Ausnahme der Köhlerschule fast alles, was dazwischen liegt, überspringt. Sie betrachtet meinen eigenen Versuch (Wunderli 1991) als eine «Rückkehr zu Diez»; wenn dem so ist, dann ist es eine ungewollte Rückkehr, denn mein Ausgangspunkt war das Gattungssystem von Erich Köhler und Dietmar Rieger, wie es im GRLMA dokumentiert ist. Im ersten Teil des Beitrags werden die Gattungsnamen analysiert, wobei Verf. (nicht zu Unrecht) bei Diez einen vorsemiologischen Zeichen- und Gattungsbegriff feststellt, der ihm ausgezeichnete semantische Einsichten erlaubt, wenn ihm auch eine strenge Strukturierungsfähigkeit noch abgeht; seine Aussagen bewegen sich auf Normebene und stoßen kaum je auf Systemebene vor. Der zweite Teil ist den Gattungsinhalten gewidmet 42 , wobei die Hauptstränge Minnelied, Sirventes und Tenzone analysiert und in ihrer weiteren Ausdifferenzierung dargestellt werden. Für die Kanzone findet sich bei Diez sogar eine Art Merkmalanalyse mit einem Bündel von zwölf charakteristischen Zügen. Diese sind allerdings immer positiv definiert; negative oder indifferente Merkmale kennt Diez noch nicht. Gleichwohl macht die Analyse deutlich, daß sein Vorgehen schon außerordentlich modern und den Ansätzen seiner Nachfolger deutlich überlegen ist. - André de Mandach (†), «Les Tapisseries de la Dame à la Licorne. Quelques observations littéraires, linguistiques, historiques et héraldiques» (417-30). Leider kann André de Mandach, der mir immer freundschaftlich verbunden war, diesen meinen Dank für seinen Beitrag nicht mehr entgegennehmen; ich kann nur seinen Angehörigen und seinen Freunden versichern, wie hoch ich diese Studie schätze, die wieder einmal das immense Wissen und den alle disziplinären Grenzen ignorierenden Interpretationszugriff des Verstorbenen illustriert. Der Beitrag gliedert sich in drei auf den ersten Blick voneinander unabhängige Teile, zwischen denen es aber sehr wohl ein tieferes Band, nämlich den Rommans de la dame a la lycorne et du biau chevalier au lyon gibt. Im ersten Teil werden die sechs Wandteppiche im Musée de Cluny untersucht, die das Wappen der Lyoner Familie Le Viste tragen. De Mandach gibt einen Überblick über die wichtigsten Vertreter dieser Familie, um dann ausführlicher auf Aubert und Jeanne Le Viste-Baillet einzugehen. Aubert ist der Auftraggeber der Teppiche, die wohl sein Hochzeitsgeschenk für Jeanne darstellten. Der Rommans ist die Hauptinspirationsquelle für die Teppiche, wobei Aubert mit dem Chevalier, Jeanne mit der Lycorne zu identifizieren sind. Gleichzeitig kann De Mandach nicht weniger überzeugend nachweisen, daß die Tapisseries auch eine Referenz an Louis xi und seine Tocher Anne de Beaujeu darstellen: Aubert stand im Dienst von Ludwig und siedelte deswegen sogar nach Paris über. Der zweite Teil befaßt sich mit Jean le Bon, Blanche de Navarre und Philippe vi, wobei der Anlaß sechs Wappen auf fol. 14v des Ms. des Rommans sind (Ms. BN fr. 12 562). Aufgrund von Inkohärenzen in der Blasonnerie kann De Mandach glaubhaft machen, daß Jean le Bon Auftraggeber der Handschrift war, daß diese für seine Verlobte Blanche de Navarre bestimmt war, daß die Hochzeit aber nie zustande kam, weil Philippe vi, Witwer geworden, Jean die Verlobte ausspannte. Die dritte Sektion schließlich befaßt sich mit den Malterer-Wandteppichen in Freiburg i.Br. Auch hier handelt es sich um ein Hochzeitsgeschenk, dessen letzte drei Bilder sich mit dem Löwen bzw. dem Löwenritter (Yvain und Esclados; Yvain, Lunete und Laudine) und der Dame mit dem Einhorn befassen. De Mandach kann zeigen, daß es im Breisgau ganz generell über die Figur des Löwen zu einer Amalgamierung zwischen Yvain und der Dame à la Licorne gekommen ist. Alles in allem: Ein außerordentlich kenntnisreicher Beitrag, der für den Leser ein Feuerwerk von Überraschungen bereithält. - Wolfgang Rettig, «Dantes Inferno bei Buzzati» 223 Besprechungen - Comptes rendus 42 Ich bezweifle allerdings, daß man Namen und Inhalt so trennen kann: Es handelt sich um zweiseitige Zeichen im Sinne Saussures. (431-47). In einem sehr schönen und wohldokumentierten Beitrag geht mein Düsseldorfer Kollege Wolfgang Rettig den Reflexen von Dantes Inferno bei Buzzati nach, insbesondere in den Viaggi agli inferni del secolo und in Poemi a fumetti. Er liest diese drei Texte parallel und diskutiert ausführlich Motive wie: das aufgeschlagene Buch, der Einstieg in die Unterwelt, der Höllenlärm, säkulare Dämonologien (Teufel, Teufelinnen, Signora Belzebuth usw.), die Lokalisierung der Hölle an vielen Orten (Ubiquität), die Millionen von Eingängen, die Säkularisierung der Hölle usw. Zu Recht weist er darauf hin, daß Buzzati trotz allen Echos von Dante im Rahmen der Moderne und v. a. im Gefolge von Kafka gesehen werden müsse. Sicher wäre aber auch an Huis clos von Sartre zu erinnern, v. a. wenn (443 u. passim) darauf hingewiesen wird, daß jeder die Welt und die Hölle mit sich und in sich trägt. Die eigene Festschrift zu besprechen ist eine außerordentlich schwierige und delikate Aufgabe. Will man nicht in kritiklose Dankbarkeit und Aquieszenz verfallen, läuft man immer wieder Gefahr, bei abweichender Sicht den einen oder anderen Beiträger zu verletzen. Ich habe mich trotzdem dazu entschlossen, auf unterschiedliche Auffassungen hinzuweisen, denn dies ist letztlich die einzige Möglichkeit, eine fruchtbare wissenschaftliche Diskussion zu führen. Eine kritische Stellungnahme zur einen oder anderen Problembehandlung bedeutet überdies keineswegs, daß ich den entsprechenden Beitrag geringschätzen würde - ganz im Gegenteil: Schließlich lebt unsere Wissenschaft von der kreativen Auseinandersetzung. Deshalb ist auch hier nochmals der Ort, allen von ganzem Herzen zu danken, die an dieser Festschrift mitgewirkt haben, ganz gleichgültig, ob sie meinen eigenen Sehweisen konforme oder diesen widersprechende Auffassungen vertreten haben. P. W. H Ensi firent li ancessor. Mélanges de philologie médiévale offerts à Marc-René Jung, publiés par Luciano Rossi avec la collaboration de Christine Jacob-Hugon et Ursula Bähler, 2 vol., Alessandria (Dell’Orso) 1996, xxiv + 849 p. I due volumi pubblicati in onore di Marc-René Jung sono suddivisi in quattro sezioni: «section latine médiévale», «section occitane », «section française» (la più ricca) e «section italienne». Precedono un «Avant-propos» firmato da L. Rossi, la «Tabula gratulatoria» (xiii-xiv) e la «Bibliographie de Marc-René Jung» (xv-xxiv), che mostra, senza bisogno di commenti aggiuntivi, l’importanza del lavoro svolto fin qui dallo studioso. L’elevato numero dei contributi (51) e la ricchezza degli argomenti trattati, che vanno ben al di là delle sue competenze, costringono il recensore a un rendiconto settoriale: l’elusione non implica dunque un giudizio di valore, bensì, semmai, un’ammissione d’incapacità da parte di chi scrive. Gerold Hilty, «Encore un fois le prologue de la Chanson de Sainte Foy» (33-45), si sofferma su alcuni particolari che hanno fatto discutere. La «canczon» citata al v. 14, ad es., non sarebbe, secondo lo studioso, e contro il parere di M. Burger, una sorta di autocitazione della Chanson de Sainte Foy, ma « . . . une chanson latine qui forme la base d’une traduction, d’une adaptation en occitan . . . » (35). La lingua, dunque, di questa canzone citata dall’anonimo cantore di Santa Fede sarebbe il latino, non già l’occitanico, come ha sostenuto R. Lafont. Interessante è anche l’espressione del v. 15 «razon espanesca»: ci si chiede, infatti, come mai si parli di argomento spagnolo, quando il martirio di Santa Fede è avvenuto ad Agen. Probabilmente si tratta di un legame simbolico, dato che la Spagna è il luogo ove si combatte, più che altrove, il paganesimo. A questo proposito non è privo di significato il comparire sulla scena, fin dal primo verso, del pino («Legir audi sotz eiss un pin . . . »), che rinvia, senza nemmeno troppo mistero, alla Chanson de Roland: il richiamo alla Spagna, luogo del martirio di Rolando, con ciò è rafforzato. 224 Besprechungen - Comptes rendus