Vox Romanica
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0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniAlberto Vàrvaro, Apparizioni fantastiche. Tradizioni folcloriche e letteratura nel medioevo: Walter Map, Bologna (Il Mulino) 1994, 252 p.
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R. L.
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Umgekehrt kann auch die Nicht-Annahme von Latinismen beobachtet werden. Cf. z.B. blanditiae im Satz 9: 16 («les blandices» nur in der ersten fr. Übersetzung und zweimal in deren Druck von 1514; it. «blandizie» nur 1952); antistites im Satz 7: 14 (erste fr. Übersetzung «evesques et chappelains», die zweite von 1548 «Antistites», spätere «ministres du culte» und Ähnliches; die meisten it. Übersetzungen: «sacerdoti», aber die von 1952: «antistiti»); armillae in 11: 8 (erste fr. Übersetzung und deren Druck «armilles», imitiert von alt-kat. «armilles» und alt-sp. «armillas»; später in sp., port. und it. Übersetzungen: «manillas, manilhas» oder «maniglie», aber it. 1952: «armille»); incolume in den Sätzen 3: 1 und 3: 2 (nur sp. 1982 wiederholt «incólume»; port. 1902 nur im ersten Satz «incolume»; it. 1952, 1982 und 1984: «incòlume» jeweils nur im zweiten Satz). Dank Steins Materialfülle kann man sich darin üben zu untersuchen, welche früheren, auch anderssprachigen, Übersetzungen gewisse denkfaule Übersetzer beeinflußt haben. Satzkonstruktionen (Syntax! ) bieten hier sicherere Indizien als die Wortwahl, da Übersetzer gerne ihre «Plagiate» durch Auswechseln von Synonymen vertuschen. Hier Beispiele zu geben, ist nicht möglich, eben weil Beobachtungen zum Satzbau viel Platz beanspruchen; gewiß einer der Hauptgründe, weshalb Syntax das Stiefkind der historisch-vergleichenden Philologie ist und - trotz elektronischer Datenspeicherung und -verarbeitung - bleiben wird. Weiter auf dieses Thema einzugehen, wäre auch unangebracht: Es würde von der Arbeit Steins ablenken. Es möge ihn aber freuen zu sehen, daß sein beeindruckendes und wertbeständiges Buch weit über das Thema der Verbalsyntax hinaus Anregungen geben kann. C. Wittlin H Alberto Vàrvaro, Apparizioni fantastiche. Tradizioni folcloriche e letteratura nel medioevo: Walter Map, Bologna (Il Mulino) 1994, 252 p. Alberto Vàrvaro gehört zu den immer seltener werdenden Romanisten, deren Interesse gleichermaßen der Linguistik, der Philologie und der mittelalterlichen Literatur gilt. Das hier anzuzeigende Buch ist mit dem letzten dieser Bereiche befaßt, genauer mit der literarischen Gestaltung von volkstümlichen Stoffen, die das Hereinragen von Übernatürlichem in die reale Welt zum Thema haben, bei Autoren des 12. Jh. Im Zentrum steht die Sammlung von Erzählungen und Anekdoten, die den Titel De nugis curialium (= DNC) trägt, das nicht zu einer definitiven Redaktion verarbeitete Werk des englischen (genauer: walisischen) Hofmanns Walter Map, der 1209 oder 1210 gestorben ist. Ein Anhang («Appendice», 217- 27) gibt Auskunft über alles, was zu Person, Werken und Umfeld dieses Autors bekannt ist. Das Anliegen des Buches, das aus einer Vorlesung entstanden ist, die der Autor im akademischen Jahr 1991/ 92 an der Universität Neapel gehalten hatte, ist in erster Linie ein kulturhistorisches: Anhand der Erzählungen Walters, die Begegnungen mit Übernatürlichem enthalten, soll der Übergang von volkstümlichem Erzählgut aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit illustriert werden, ein kulturgeschichtlicher Prozeß, den Verf. wesentlich im 12. Jh. angesiedelt sieht. In acht Kapiteln, eingerahmt von einer «Introduzione» (7-19) und einer «Conclusione» (195-213), geht Verf. dem Thema der literarischen Verarbeitung mündlich überlieferter Stoffe durch Walter Map nach. Die Verknüpfung von Geschichte und Legende, von Realem und Irrealem oder Übernatürlichem, von Christlichem und Heidnischem, von Antikem und Zeitgenössischem wird anhand der interpretierten Texte von Walter Map, zuweilen auch solcher anderer Autoren des 12. Jh. (etwa Johannes de Alta Silva,Autor des Dolopathos), analysiert. Bei der Fülle der besprochenen Episoden ist eine detaillierte Behandlung der einzelnen Kapitel im Rahmen einer Rezension nicht möglich. Wir greifen nur Einzelnes heraus. 243 Besprechungen - Comptes rendus Die Kapitel 3 bis 6 handeln von Kontakten lebender Menschen mit übernatürlichen Wesen, Dämonen und Toten. Besonders stark vertreten sind die Geschichten von sexuellen Beziehungen zwischen irdischen Männern und geheimnisvollen Frauen, die einer anderen Welt angehören (Kap. 3, «Le spose soprannaturali», 69-90). In diesen Zusammenhang gehört auch der erst um 1400 literarisch verarbeitete Melusine-Stoff, der mit der Geschichte des Hauses von Lusignan verknüpft wird. Ebenso wurde die Geschichte von den Schwanenkindern, die Ende 12. Jh. der Autor des Dolopathos erzählt hatte, wenig später in die Chronik der Familie von Bouillon eingebaut (106). Neben diesen Beispielen von «Historisierung» wunderbarer Erzählstoffe verdient der Fall der Geschichte des Goufre de Satilie Erwähnung, dem Vàrvaro eine ausführliche Analyse widmet. Die ziemlich grausige Geschichte des Schusters von Konstantinopel, der zum Kaiser wird, ist in verschiedenen Versionen überliefert, am ausführlichsten bei Walter Map (DNC iv.12). Ein geschickter junger Schuster verliebt sich in ein Mädchen höheren Standes, wird aber, obschon er sich als Soldat ausgezeichnet hat, von ihrem Vater abgewiesen. Darauf versucht er, sich als Pirat Ruhm zu erwerben. Die Geliebte stirbt. Nach dem Begräbnis gräbt er sie wieder aus und besitzt sie. Eine Stimme befiehlt ihm, sich nach der Geburt das zu holen, was er gezeugt hat. Die Tote übergibt ihm ein menschliches Haupt, das jeden tötet, der es anschaut. Mit Hilfe dieses Gorgonenhauptes, das er in einen Schrein einschließt, setzt er sich überall als Sieger durch. Nach dem Tod des Kaisers von Konstantinopel wird er der Gatte von dessen Tochter und als Kaiser dessen Nachfolger. Seine Frau entlockt ihm die Wahrheit über den Inhalt des Schreins. Sie tötet ihn durch den Anblick des Hauptes und läßt ihn, zusammen mit dem monströsen Ding, ins Meer werfen. An der Stelle, wo er versenkt wurde, entsteht ein Strudel, der nach dem Namen der mißbrauchten Toten, Satalia, vorago Satilie heißt, in der Volkssprache Goufre de Satilie. Vàrvaro sieht in der Wortgeschichte von fr. goufre, das (anders als it. golfo, das auf dasselbe spätlat. Etymon colpus/ colfus von griech. κ λπ ς zurückgeht) die Bedeutung Abgrund, Hölle, Schlund erhalten hat, eine Bestätigung für seine Auffassung, daß die Geschichte vom goufre de Satilie, die zweifellos orientalischen Ursprungs ist und durch die Kreuzfahrer nach Europa gebracht wurde, auf mündlichem Weg überliefert wurde (147-51). Die Bedeutungsentwicklung von fr. goufre ist nach Vàrvaro direkt durch die besprochene Geschichte bedingt. Verf. geht in der Folge der Literarisierung desselben Erzählstoffes nach, wie sie im französischen Prosaroman Livre d’Artus (ca. 1240) vorliegt: Im Zentrum steht neu die aventure eines Ritters, das Monströs-Übernatürliche wird abgeschwächt (1151-56) 1 . In der in 6 Abschnitte gegliederten «Conclusione» (195-213) faßt Vàrvaro die wichtigsten Resultate seiner vorgängigen Untersuchungen zusammen. Daraus einige Feststellungen. Im Unterschied zu zeitgenössischen Autoren wie Johannes de Alta Silva und Gervasius von Tilbury, die ihre Erzählungen durch die Berufung auf Autoritäten (Antike, Bibel) als wahrscheinlich zu erweisen suchen, gibt Walter Map folkloristisches Material in unveränderter Form («vergine», p. 198) wieder. - Entgegen Duby, Le Goff und Schmitt glaubt Vàrvaro, daß die Mentalitätsveränderungen des 12./ 13. Jh. das volkstümliche Erzählgut nicht wesentlich beeinflußt haben (199-202). - Verf. plädiert, anstelle einer Opposition zwischen «hoher» und «niederer» Kultur, für den «carattere inclusivo dei livelli culturali» (203). - Es muß zwischen professionellen und nichtprofessionellen Erzählern unterschieden werden. Walter gehört zu den letzteren, wogegen die Aktivitäten der professionellen giullari enger an die Schrifttradition gebunden sind (204-07). - Im 12. Jh. dringen folkloristische Stoffe in 244 Besprechungen - Comptes rendus 1 Da Vàrvaro kaum eine Gelegenheit ausläßt, auf Parallelen und Querverbindungen hinzuweisen, erstaunt es, daß im Zusammenhang mit dem Motiv der Totenschändung die zwei Strophen aus dem Contrasto von Cielo d’Alcamo, die dieses Motiv aufgreifen (v. 121-30), unerwähnt bleiben. die vorher weitgehend von klassischen und christlichen Normen geprägte Schriftlichkeit ein. Aus dem DNC wird klar, daß es für Walter und seine Zeitgenossen keine scharfe Grenze zwischen Realität und Imaginärem gibt (207-10). - Der letzte Abschnitt, «La legittimazione letteraria» (210-13), betont die entscheidende Rolle der vulgärsprachlichen, vor allem der altfranzösischen, Literatur für die Öffnung der Schriftlichkeit gegenüber volkstümlichen und phantastischen Inhalten. Das Buch von Vàrvaro ist in mancher Hinsicht anregend, originell und lesenswert. Die übergeordnete Problemstellung (Einführung volkstümlicher Erzählstoffe in die Literatur des 12. Jh.) und die exemplarische Analyse des Umgangs von Walter Map mit Irrealem und Übersinnlichem verdienen gleichermaßen Anerkennung. Zentral wird die Andersartigkeit des mittelalterlichen Verständnisses des Phantastischen gegenüber dem der Moderne herausgearbeitet: für das Mittelalter ist das Phantastische dem Realen nicht entgegengesetzt, sondern vielmehr, als eine Dimension des Übernatürlichen, darin enthalten (cf. u.a. p. 93- 99). Zudem besticht die Darstellung durch ihren flüssigen Stil und die verständliche, dabei differenzierte Sprache. Allerdings stellt sich die Frage, an welche Art von Publikum sich das Buch richte: an Studenten, Spezialisten oder an ein breiteres Publikum? Die Reihe Ricerche des Verlags Il Mulino, in der die Studie erschienen ist, verweist auf die zweite Gruppe. Die breite Darstellung des Stoffs und die eher zurückhaltende Diskussion der in Einleitung und Zusammenfassung angesprochenen Grundprobleme lassen jedoch die ursprüngliche Vorlesung noch deutlich erkennen. Für den Mediävisten, der zwar im Buch reiche Anregung und wertvolle bibliographische Hinweise (vielfach auf geschichtstheoretische und kulturhistorische Literatur) findet, bleiben dennoch einige Fragen offen. So würde man gerne Genaueres erfahren über die Argumente, die Vàrvaro zur Ablehnung der p. 199 angesprochenen, aber nicht referierten Thesen von Le Goff und Jean-Claude Schmitt führen. Die Diskussion p. 198-202 bleibt sehr summarisch. - Da die Spannung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wiederholt angesprochen wird und tatsächlich ein Grundproblem in der behandelten Thematik darstellt, erstaunt das Fehlen von P. Zumthor, La lettre et la voix, Paris 1987, in der Diskussion und in der Bibliographie, umso mehr, als Verf. p. 226 auf dieses Werk anspielt. - Ferner dürfte es sich lohnen, das Problem der Präsenz folkloristischer Erzählstoffe in der älteren mittellateinischen Literatur (vor dem 12. Jh.) zu vertiefen. Man hat den Eindruck, daß Verf. die Informationen zu diesem Thema aus zweiter Hand bezieht (cf. p. 13s.). Andernfalls könnte die Präsenz folkloristischer Züge im Ruodlieb (der p. 14 fälschlich ins 10. statt ins 11. Jh. datiert wird) nicht als marginal abgetan werden. Das sogenannte «Ratschlagmärchen», auf das allein hier verwiesen wird, ist durchaus nicht das einzige volkstümliche Element im Ruodlieb; vielmehr bestimmen märchenhafte Züge (das menschenähnliche Verhalten von Tieren, die Träume der Mutter, die Zwergenszene am Schluß) dieses singuläre Beipiel mittellateinischer Dichtung durchweg 2 . Dem Verf. ist allerdings zuzustimmen, wenn er eine durchschlagende Verbreitung volkstümlicher Stoffe durch die Literatur erst der altfranzösischen Dichtung zuschreibt. Das hängt wesentlich mit den Rezeptionsbedingungen mittellateinischer Literatur zusammen. Unbeschadet dieser Einwände, die sich eher als eine Aufforderung zur weiteren Vertiefung der Problematik denn als Kritik des vorliegenden Buches verstehen, stellen die Apparizioni fantastiche eine willkommene Bereicherung der mediävistischen Diskussion dar. R. L. H 245 Besprechungen - Comptes rendus 2 Cf. B. K. Vollmann 1993: Ruodlieb, Darmstadt: bes. p. 42-45, 62-64.