eJournals Vox Romanica 58/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1999
581 Kristol De Stefani

Heinrich Schmid (1921-1999)

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1999
Gerold  Hilty
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Heinrich Schmid (1921-1999) Heinrich Schmid wurde am 6. April 1921 in Zürich geboren. Bis zu seinem Tode lebte er in dem Haus am Kapfsteig, in dem er aufgewachsen war. Obwohl er viele Reisen unternahm und zahlreiche Sprach- und Studienaufenthalte im In- und Ausland verbrachte, verließ er sein Heim nie für einen zusammenhängenden Zeitraum von mehr als einem Vierteljahr. Trotz einer angeborenen Schwerhörigkeit konnte er die Schulen ohne Schwierigkeiten durchlaufen. Im Gymnasium erwachte seine große Liebe zu den Sprachen, von denen er als Gymnasiast neben den im Unterricht gebotenen (Französisch, Lateinisch, Griechisch) eine ganze Reihe auf eigene Faust autodidaktisch erlernte (neben Italienisch vor allem Spanisch und Rätoromanisch). Das leidenschaftliche Interesse für Sprachen konnte durch das defizitäre Gehör nicht gebremst werden. «Zur großen Bekümmernis meines Vaters», schrieb Heinrich Schmid 1991 in seinem Beitrag zur Festschrift Wandruszka, «und zum hellen Entsetzen des zu Rate gezogenen otologischen Fachmanns brannte der unbotmäßige Sohn darauf, Philologie - ausgerechnet Philologie! - zu studieren. Alle wohlge- 369 Heinrich Schmid (1921 - 1999) meinten Versuche, ihn zu anderem zu bewegen . . . waren angesichts der Entschlossenheit des frischgebackenen Abiturienten zum Scheitern verurteilt». Von 1940 bis 1946 studierte Heinrich Schmid an der Universität Zürich Romanistik (vor allem bei Jakob Jud und Arnald Steiger), Indogermanistik (bei Manu Leumann) und Slavistik (bei Ernst Dickenmann). 1946 schloß er das Studium in den Fächern «Vergleichende Geschichte der romanischen Sprachen», «Italienische Sprache» und «Slavistik» ab. Die Grundlage seiner bei Jakob Jud eingereichten Dissertation «Zur Formenbildung von dare und stare im Romanischen» wurde durch die umfassende Kenntnis sämtlicher romanischer Sprachen gebildet. In gesamtromanischer Perspektive vermochte Heinrich Schmid eine interessante - und weit über den konkreten Gegenstand hinausgehende - innerromanische Gliederung aufzuzeigen. Das hervorstechendste Merkmal der Dissertation, die Verbindung von präzisesten Detailkenntnissen mit weiträumigen Perspektiven, charakterisiert auch die weiteren Studien von Heinrich Schmid. Zum Teil allerdings zwang ihn die Arbeit, die er zur Sicherung seines Lebensunterhaltes übernehmen mußte, sich vor allem mit Details zu befassen. Nach vorübergehender Tätigkeit als Assistent am Romanischen Seminar der Universität Zürich und als Mitarbeiter am zweiten Band des Rätischen Namenbuches von Andrea Schorta war Heinrich Schmid während mehr als zehn Jahren Teilzeitredaktor am Dicziunari Rumantsch Grischun. In dieser Zeit hat er 138 Artikel mit einem Gesamtumfang von mehr als 300 Spalten redigiert und den wichtigen und wegweisenden sprachgeschichtlichen Abriß zu Band 3 verfaßt, nachdem er schon für Band 2 an den Indices mitgearbeitet hatte. Auch später ist Heinrich Schmid dem Dicziunari Rumantsch Grischun verbunden geblieben, von 1965 an als Mitglied der Philologischen Kommission und von 1969 bis 1984 als deren Präsident. Neben der Kleinarbeit als Wörterbuchredaktor hat Heinrich Schmid jedoch die großen Perspektiven nie aus den Augen verloren. Davon zeugen Studien wie «Zur Geschichte der rätoromanischen Deklination» (1952), «Über Randgebiete und Sprachgrenzen» (1957), «Eine lexikalische Besonderheit des Unterengadinischen» (1958), «Zur Entwicklungsgeschichte der romanischen Zahlwörter» (1964). In all diesen Studien spielen Sprachgrenzen eine wichtige Rolle, als Zonen der Trennung, aber auch als Zonen der Begegnung und gegenseitigen Beeinflussung. Zum Teil geht es um innerromanische Grenzen, wie diejenige, welche durch die Palatalisierung von C und G vor A geschaffen wurde und die Heinrich Schmid im dritten Abschnitt der Studie über «Randgebiete und Sprachgrenzen» durch die sprachliche Irradiation Oberitaliens im ausgehenden Altertum erklärt. Zum Teil geht es um Beeinflussungen und Gemeinsamkeiten über romanisch-germanische Sprachgrenzen hinweg, wie im Fall einer «lexikalischen Besonderheit des Unterengadinischen», der «rätoromanischen Deklination» oder der Entwicklung von sp, st, sk zu p, t, k «in romanischen und deutschen Mundarten» (zweiter Abschnitt der Studie über «Randgebiete und Sprachgrenzen»). Zum Teil geht es um europäische Grenzen und Sprachräume, wie im ersten Abschnitt der Studie über «Randgebie- 370 Gerold Hilty te und Sprachgrenzen» («Der Vokativ in den europäischen Sprachen») und dann ganz besonders in der - leider unveröffentlichten - Habilitationsschrift «Europäische Sprachräume». Darin zeigt Heinrich Schmid, unter Einbezug von 36 verschiedenen Sprachen, daß die traditionelle Einteilung der europäischen Sprachen in eine romanische, germanische, keltische, baltische, slawische und ugrofinnische Gruppe (nebst kleineren Sprachräumen) im Laufe der Geschichte überlagert worden ist durch eine neue Gruppierung, die mehr auf gemeinsamen geschichtlichen Schicksalen als auf gemeinsamem Ursprung beruht, wobei die drei großen westeuropäischen Kultursprachen Französisch, Italienisch und Deutsch vor allem auf den Balkan und in den skandinavischen Norden stark ausgestrahlt haben, bei der Rezeption von Kulturwörtern ein scharfer Gegensatz zwischen Osteuropa und Westeuropa besteht und der gegenseitige Kulturaustausch zur Herausbildung von kleineren Gemeinschaften von verschiedenartigen Sprachen geführt hat. Aufgrund dieser Schrift erhielt Heinrich Schmid auf das Sommersemester 1962 die venia legendi für romanische Sprachwissenschaft an der Universität Zürich. Auf das Wintersemester 1963/ 64 erfolgte die Wahl zum Assistenzprofessor, drei Jahre später die Beförderung zum Extraordinarius. Auch wenn Heinrich Schmid in seinen Lehrveranstaltungen vorwiegend die italienische Sprachwissenschaft und das Rätoromanische vertrat, bezog er doch häufig die Gesamtheit der romanischen Sprachen in seine Betrachtungen ein, und in einem Bereich ist die große romanische Sprachfamilie in Zürich erst durch Heinrich Schmid vervollständigt worden, im Bereich des Rumänischen. Nicht zuletzt seine Kenntnisse in Slavistik prädestinierten ihn dazu, auch dem Rumänischen als Lehr- und Forschungsgebiet die ihm gebührende Bedeutung zu verschaffen. So war Heinrich Schmid ein hervorragender Vertreter der heute leider von den Einzelphilologien her stark unter Druck geratenen vergleichenden romanischen Sprachwissenschaft. Als akademischer Lehrer war er sehr gewissenhaft und auch selbstkritisch. Den Studenten gegenüber war er anspruchsvoll, aber immer wohlwollend, und er nahm sich sehr viel Zeit für die Betreuung der Studierenden und die Besprechung von Arbeiten, die sie verfaßt hatten. Wie sehr die Studenten Heinrich Schmid in Bewunderung und Dankbarkeit verbunden waren, zeigte sich in eindrücklicher Weise bei der gediegenen Abschiedsfeier, die sie 1983 gestalteten, als Heinrich Schmid etwas vorzeitig von seiner Professur zurücktrat, weil er im immer hektischer werdenden Universitätsbetrieb zunehmend unter seinen Hörschwierigkeiten litt. Im gleichen Jahr heiratete Heinrich Schmid die Romanistin Veronica Bruppacher, mit der ihn schon eine lange Freundschaft verbunden hatte. Seine Frau hat ihn in seinem letzten Lebensabschnitt in Liebe begleitet und ihm auch diskret über seine Hörprobleme hinweggeholfen, wo es nötig war. Auch wenn sich Heinrich Schmid 1988 noch in einer interessanten Studie mit der Stellung des Frankoprovenzalischen gegenüber dem Französischen befaßte, auch wenn sein Beitrag zur Festschrift für Maria Iliescu (1993) nicht nur der Bezeichnung des Gerstenkorns und der lautlichen Berührung zwischen hordeolum und haediolum in Graubünden gewidmet war, sondern weit darüber hinausgriff, 371 Heinrich Schmid (1921 - 1999) so lag das Schwergewicht der Interessen von Heinrich Schmid seit der Mitte der siebziger Jahre doch noch ausschließlicher als früher auf dem Bündenerromanischen, seiner inneren Gliederung («Zur Gliederung des Bündnerromanischen», 1976; «Zwischen Chur und Chiavenna: die Mitte Romanischbündens», 1985) sowie seinen Grenzen («An der Westgrenze des Rätoromanischen. Verkappte Zeugen einstigen Romanentums im Linthgebiet und benachbarten Teilen der Innerschweiz», 1980; «Clariden, Probleme einer Namendeutung», 1987) und seiner Stellung im europäischen Raum («Romanischbünden zwischen Nord- und Südeuropa», 1993). Es war daher kein Zufall, daß das Bündnerromanische im letzten Lebensabschnitt recht eigentlich zum Schicksal von Heinrich Schmid wurde. Durch einen Anstoß von außen wurde der stille Forscher und gewissenhafte Lehrer, der stets in bescheidener Zurückgezogenheit gelebt und sich auch in universitären und forschungspolitischen Belangen nie in den Vordergrund gedrängt hatte, zu so etwas wie einem öffentlichen Gut. Daß er darob seine Bescheidenheit nicht verlor, braucht kaum gesagt zu werden. Seine Freunde aber freuten sich über die Entwicklung und mochten Heinrich Schmid von Herzen die Bekanntheit und die Ehrungen gönnen, die mit der Gestaltung der Standard-Schriftsprache Rumantsch Grischun verbunden waren, wie zum Beispiel die Zuerkennung des J. E. Brandenberger-Preises (1996). 1982 war die Lia Rumantscha mit der Bitte an Heinrich Schmid herangetreten, er möge die Grundlagen für eine gemeinsame bündnerromanische Schriftsprache schaffen. Da er wie kein zweiter die Entwicklung der verschiedenen bündnerromanischen Idiome und Mundarten kannte, war er ganz besonders geeignet für diese schwierige und heikle Aufgabe. In einem großen Wurf legte Heinrich Schmid seine «Richtlinien für die Gestaltung einer gesamtbündnerromanischen Schriftsprache Rumantsch Grischun» vor (1982). Er war auch bereit, an Orientierungsveranstaltungen seine Vorstellungen Kritikern und Zweiflern gegenüber zu erklären und zu verteidigen. Im übrigen aber sollten junge Forscher auf seinem Fundament das angestrebte Haus bauen. Dies ist auch geschehen. Heinrich Schmid war selbst überrascht über die im gesamten positive Aufnahme und über den sich abzeichnenden Erfolg seines Rumantsch Grischun, das heute als gemeinsame Koine in Verwaltung, Wirtschaft, Medien und Schule zunehmend anerkannt wird. Wenn auch noch nicht alle Vorbehalte ausgeräumt und alle Widerstände überwunden sind, eines ist sicher: Niemand hätte den Auftrag, eine einheitliche bündnerromanische Schriftsprache zu entwerfen, besser erfüllen können als Heinrich Schmid. Die Kunde vom Erfolg des Rumantsch Grischun drang auch nach Südtirol, und fortschrittliche Vertreter des Dolomitenladinischen baten Heinrich Schmid 1988, für Ladinisch-Südtirol eine analoge Standard-Schriftsprache zu entwerfen. Er nahm die Herausforderung an, in der Hoffnung - wie er 1991 schrieb - «das Ergebnis werde ebenfalls zur Überwindung innerer Gegensätze und damit zur Stärkung einer weiteren vom Untergang bedrohten Minderheit beitragen» (Festschrift Wandruszka). Auf dem Weg zu einem Ladin Dolomitan waren aber unvergleichlich viel größere Schwierigkeiten zu überwinden als bei der Gestaltung des 372 Gerold Hilty Rumantsch Grischun, Schwierigkeiten sprachlicher, kultureller, geographischer und politischer Art. Heinrich Schmid hat der übernommenen Aufgabe weitgehend die letzten zehn Jahre seines Lebens gewidmet. Vor kurzem ist seine «Wegleitung für den Aufbau einer gemeinsamen Schriftsprache der Dolomitenladiner» erschienen sowie ein an einer Tagung in Bozen gehaltenes Referat, in dem er Rechenschaft ablegt über seine Arbeit: «Dolomitenladinisch: Probleme und Lösungen». Es bleibt zu hoffen, daß dem Ladin Dolomitan die gleiche positive Wirkung beschieden sein wird wie dem Rumantsch Grischun. Im Hinblick auf seine Arbeiten zu den Standard-Schriftsprachen in Graubünden und in Südtirol schrieb Heinrich Schmid 1991 in seinem Beitrag zur Festschrift Wandruszka: «Diese auf praktische Erfordernisse ausgerichteten, zum Teil fast mehr diplomatischen als sprachwissenschaftlichen Aktivitäten vermochten den Wunsch nach erneuter Betätigung im Bereich der ‹zweckfreien› Forschung nicht zu verdrängen, im Gegenteil. So hoffe ich, nach Abschluß der Arbeiten für das ‹Ladin Dolomitan› diesem Verlangen wieder nachgeben zu können. Es locken neue Themen und alte, nie verwirklichte Pläne, und es wächst die Versuchung, noch das eine oder andere zu publizieren - obwohl ja der Markt (allerdings zum geringsten Teil durch meine Schuld) bereits hoffnungslos übersättigt ist: soviel Narrenfreiheit möchte ich mir trotzdem noch herausnehmen … ». Leider ist diese Hoffnung nicht mehr in Erfüllung gegangen. Ganz unerwartet hat uns Heinrich Schmid verlassen. Wir haben einen lieben und hilfsbereiten Freund, einen kritischen und vor allem auch selbstkritischen - gelegentlich sogar selbstironischen - Kollegen verloren, dem Romanisch-Bünden - und damit unser viersprachiges Land - zu besonderer Dankbarkeit verpflichtet ist und der die beste Tradition der Schweizer Romanistik verkörperte, als überzeugter und überzeugender Vertreter der vergleichenden romanischen Sprachwissenschaft. Zürich Gerold Hilty Publikationen von Heinrich Schmid seit 1987 (Publikationen von 1949-86 cf. VRom. 44 [1985]: 4s.) 1. «Clariden. Probleme einer Namendeutung», in: G. Lüdi/ H. Stricker/ J. Wüest (ed.), Romania ingeniosa. Festschrift für Prof. Dr. Gerold Hilty zum 60. Geburtstag, Bern etc. 1987: 43-67 2. «Le francoprovençal: français retardé ou français avancé? Remarques sur la syllabe dans un groupe de patois romands et savoyards», VRom. 47 (1987): 125-62 3. Eine einheitliche Schriftsprache: Luxus oder Notwendigkeit? Zum Problem der überregionalen Normierung bei Kleinsprachen. Erfahrungen in Graubünden, San Martin de Tor 1989 [it. Fassung: «Una lingua scritta unitaria: lusso o necessità? Il proplema dell’uniformazione sovraregionale per le lingue minori. Esperienze nei Grigioni», Mondo Ladino 13 (1989): 225-55] 4. «Ein altes Thema: … los motz e·ls sos e·ls lenguatges (Raimbaut de Vaqueiras)», in: H.-M. Gauger/ W. Pöckl (ed.), Wege in der Sprachwissenschaft. Vierundzwanzig autobiographische Berichte. Festschrift für Mario Wandruszka, Tübingen 1991: 213-18 5. «Aus Gretchens Nachbarschaft», in: J. Kramer/ G.A. Plangg (ed.), Verbum Romanicum. Festschrift für Maria Iliescu, Hamburg: 89-101 373 Heinrich Schmid (1921 - 1999) 6. «Romanischbünden zwischen Nord- und Südeuropa», AnSR 106 (1993): 102-33 7. Wegleitung für den Aufbau einer gemeinsamen Schriftsprache der Dolomitenladiner. Zweite Fassung, San Martin de Tor (BZ)/ Vich/ Fascia (TN) 1998 8. «Dolomitenladinisch: Probleme und Lösungen», in: Comun da Bulsan, Consulta per i problems ladins, Union Generela di Ladins dla Dolomites (ed.), Ladin, ulà vaste pa? Poscibeltés de svilup dl ladin dles Dolomites, Ac dl Convegn, Bulsan 1998 9. «Fundaziun dr. J. E. Brandenberger, Turitg, Surdada dal premi a prof. dr. Heinrich Schmid, Sonda, ils 16 da november 1996, en la sala dal Cussegl Grond, Referat da prof. dr. Heinrich Schmid», AnSR 111 (1998): 101-11