Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniHans-Erich Keller (1922-1999)
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Marc-René Jung
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Hans-Erich Keller (1922-1999) 1998, kurz vor Jahresende, wurde Hans-Erich Keller unverhofft von einer schweren Krankheit befallen, von der er sich nicht erholen sollte. Noch im Oktober dieses Jahres hatte er am Colloque International sur le moyen français an der McGill Universität einen Vortrag gehalten mit dem Thema «La Chanson de geste au xv e siècle: bilan», und vorher hatte er noch in bester Verfassung an den beiden traditionellen Kongressen teilgenommen, die er seit Jahren besuchte und für die er sich stets aktiv eingesetzt hatte: im Mai in Kalamazoo, dem «jamboree» der Mediävisten, und im April in Lexington an der Annual Kentucky Foreign Language Conference. Zu diesen beiden Kongressen hatte mich Hans-Erich Keller vor ein paar Jahren auch eingeladen. Ich habe damals die Wertschätzung gespürt, die ihm seine amerikanischen Kollegen entgegengebracht haben. In der Tat war Hans-Erich Keller ein vielseitiger und anregender Romanist. Sein Werdegang sei hier kurz skizziert. Sein Vater, Oscar Keller, dem wir zahlreiche Studien zu den Mundarten des Tessins und des Juras verdanken, mag nicht ganz unschuldig daran sein, daß Hans- Erich Romanistik studierte. Oscar Keller war Lehrer an der Kantonsschule Solothurn, an welcher Hans-Erich 1941, mitten im Krieg, die Matura ablegte (Typus A). Hans-Erich studierte in Basel, mit einem Abstecher an die Universität Lausanne. Damals gab es in Basel noch kein Lizentiat, also «machte» er zunächst den Mittellehrer (1947), anschließend den Oberlehrer (1950). Von 1954 bis 1962 unterrichtete er Französisch, Italienisch und Spanisch an der Kantonalen Handelsschule in Basel, wo ich ihn einmal vertreten durfte und dann auch sein Nachfolger wurde. Hans-Erich Keller gehörte noch zur Garde derjenigen Hochschullehrer, die auch über Mittelschulerfahrung verfügen. Leider wird diese Spezies immer seltener. Kellers Basler Zeit stand wissenschaftlich ganz im Banne unseres gemeinsamen Lehrers Walther von Wartburg. Kellers Dissertation, Étude descriptive sur le vocabulaire de Wace, erschien 1953 und wurde von Arnald Steiger in dieser Zeitschrift sehr positiv besprochen (VRom. 14 [1954s.]: 441-43). Mit A. Steiger publizierte Keller kurz darauf einen Aufsatz zu «Lat. mant lum» (VRom. 15 [1956s.]: 103-54). Die Habilitationsschrift, Études linguistiques sur les parlers valdôtains. Contribution à la connaissance des dialectes franco-provençaux, erschien 1958 als vol. 66 der RH. Kellers Basler Jahre standen aber immer mehr im Zeichen des FEW; zwischen 1955 und 1968 publizierte er dort 394 Artikel, und 1969 erschien, gleichsam als Abschluß dieser Periode, die von Keller besorgte Neuausgabe der Bibliographie des dictionnaires patois galloromans (1550-1967) von Wartburgs. Für die Leser dieser Zeitschrift wäre noch anzumerken, daß er mit Johannes Hubschmid einen Streit um das «Alpenwort camox» ausgefochten hat (VRom. 24s. [1965s.]). 380 Marc-René Jung Fortan jedoch traten die sprachwissenschaftlichen Arbeiten stark in den Hintergrund, mit Ausnahme des in der eben gannten Bibliographie angekündigten Publikationsprojektes (siehe n° 1, 3) des von Charles-Étienne Coquebert de Montbret zu Beginn des 19. Jh.s gesammelten dialektologischen Materials. In zahlreichen Beiträgen, vor allem in Festschriften, hat Keller von 1974 bis 1996 Teile von Coqueberts Sammlung publiziert; es war ihm jedoch nicht vergönnt, das gesamte Material, wie geplant, in einem Band zu veröffentlichen. Die Zeit als Privatdozent in Basel, 1958-61, wurde im akademischen Jahr 1959/ 60 durch eine Lehrstuhlvertetung in Innsbruck unterbrochen. Es folgte dann, 1961-63, ein erster Aufenthalt in den U.S.A. als Gastprofessor an der Universität von Michigan in Ann Arbor. Damit begann das «Exil», denn im Herbst 1963 übernahm er eine Professur an der Universität Utrecht, die er bis Ende August 1969 innehatte. Im Herbstquartal 1968 wirkte er als Gastprofessor in Columbus an der Ohio State University. Die 68er Unruhen hatten ihm in den Niederlanden stark zugesetzt, war er doch von den Studenten regelrecht sequestriert worden, so daß er im Herbst 1969 mit Freude und Erleichterung den Ruf an die Ohio State University annahm, an der er bis zu seiner Emeritierung im Juli 1994 gewirkt hat. Hans-Erich Kellers wissenschaftliche Interessen waren vielfältig, doch bildete die Epik zweifellos einen Schwerpunkt - die Epik von den vorliterarischen Stufen über die Chanson de geste bis zu den Prosabearbeitungen des Spätmittelalters, ja bis zu den spanischen pliegos sueltos des 18. Jh.s. Keller war in diesem Bereich auch institutionell aktiv, organisierte er doch die ersten sieben Symposien «on the Romance Epic» in Kalamazoo (1981-87). In seinem 1989 bei H. Champion erschienen Sammelband Autour de Roland vereinigte er siebzehn Artikel zum Thema, das in drei Teilen abgehandelt wird: La matière de Roland en France, La matière de Roland en Europe und L’histoire poétique de Charlemagne en Occitanie. In der ausführlichen Einleitung, die zuerst 1977 auf Englisch publiziert worden war, stellt er seine Auffassung von der Entwicklung der Chanson de geste von den Anfängen bis ans Ende des 12. Jh.s dar. Er unterstreicht einmal mehr seine in der Forschung nicht unumstrittene späte Datierung des Oxforder Rolandsliedes (Saint-Denis, 1247-49), einer klerikalen Version, die sich klar von der älteren spielmännischen Chanson abhebe. Neu ist das Kapitel «Les origines du compagnonnage d’Oliver et de Roland» (p. 140- 59). Keller umreißt sehr klar seine Position in der ja auch von Paul Aebischer oft diskutierten Frage der «matière d’Olivier», die, so Keller, um das Jahr 1000 im Dauphiné oder im nordprovenzalischen Raum mit der Roland-Materie verschmolzen wurde. Man muß Kellers Plädoyer unbedingt lesen, denn die «matière d’Olivier» enthält viel «matière à réflexion», z. B. zum Inzestmotiv, zu Olivers gap im nordfranzösischen Voyage de Charlemagne oder zur Rolle von Olivers Sohn Galien 1 . 1 Als Ergänzung dazu H.-E. Keller, «Le péché de Charlemagne», in: Giovanna Angeli/ L. Formisano (ed.), L’imaginaire courtois et son double, Napoli 1992: 39-54. Was Keller dort über die neveux und Karls Inzest sagt, ist weitaus überzeugender als der gleich anschließende Beitrag von Robert Lafont, «Le thème des neuveux », p. 55-60. Die Beschäftigung mit den spätmittelalterlichen Prosafassungen fand ihre Krönung in drei Textausgaben. 1992 erschien bei Droz die Histoire de Charlemagne von Jehan Bagnyon, einem «Westschweizer», 1994 in Aix-en-Provence in der Serie «Senefiance» La Geste de Garin de Monglane en prose, 1998 bei Champion Galien le Restoré en prose. Daß Keller aber «seinem» Wace nicht untreu geworden ist, bezeugen mehr als ein halbes Dutzend Aufsätze zu diesem Autor und die 1990 als Beiheft 229 der ZRPh. erschienene kritische Ausgabe der Vie de sainte Marguerite. Besonders am Herzen lag Keller auch die okzitanische Literatur. Publiziert hat er fast ausschließlich Arbeiten zur Epik, Ronsasvals, Roland à Saragosse, Roman d’Arles, Philomena, Aigar et Maurin, doch hat er in Kalamazoo die ersten sechs okzitanischen Symposien organisiert (1988-93), wo der Lyrik ein breiter Platz eingeräumt wurde. Hans-Erich Keller wurden für seine wissenschaftliche Tätigkeit mehrere Ehrungen zuteil. 1987 wurde er zum Chevalier im Ordre des Palmes Académiques ernannt und seine Universität, die OSU, hat ihm im selben Jahr den «Distinguished Scholar Award» verliehen. 1992 erhielt er den Dr. h. c. der Western Michigan University in Kalamazoo. 1993 erschienen in der Reihe der Medieval Institute Publications der Western Michigan University die von Rupert T. Pickens herausgegebenen Studies in Honor of Hans-Erich Keller. Die Festschrift enthält auch die Publikationsliste des Geehrten (bis 1992). Natürlich figurieren Kellers Arbeiten auch in der jährlichen Bibliographie der Schweizer Romanistik der VRom. Hans-Erichs Frau Barbara, die ihm jahrelang liebevoll zur Seite stand, verdanke ich die Angaben zu den letzten Arbeiten, von denen fünf im Druck sind, alle in Festschriften: «Exile and Return in the Chanson de Mainet« (FS A. Moisan), «Richeut ou La lutte éternelle entre les sexes» (FS N. Lacy), «Une Chanson de Roland négligée au xv e siècle» (FS F. Suard), «Facture d’une mise en prose» (FS J. Subrenat), «Le Chansonnier occitan N 2 et son rapport avec les chansonniers I et K« (FS P. Dembowski). Hans-Erich Keller hat auch eine Ausgabe des okzitanischen Chansonniers N 2 fertiggestellt. Es ist zu hoffen, daß diese noch publiziert werden kann. Sicher werden noch seine zahlreichen Beiträge zu der von Christopher Kleinhenz geplanten und herausgegebenen Encyclopedia of Medieval Italian erscheinen. Hans-Erich Keller war ein jovialer Kollege, und es war stets ein Vergnügen und eine Bereicherung, mit ihm zusammensein zu können. Allerdings hat er in seinem Leben auch allerhand Schweres erfahren müssen. Darüber hat er kaum gesprochen, doch spürte man bei jeder Begegnung seine reiche Lebenserfahrung. Sein barnage war gepaart mit viel courtoisie. Zürich Marc-René Jung 381 Hans-Erich Keller (1922-1999)
