eJournals Vox Romanica 59/1

Vox Romanica
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2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2000
591 Kristol De Stefani

Noch einmal tomo y me voy

121
2000
Detlev  Fehling
vox5910136
Noch einmal tomo y me voy 1 Titel und Thema nehme ich aus einem berühmten Aufsatz von E. Coseriu 2 , und das Titel-Beispiel verwende ich als terminus technicus für die ganze Erscheinung. Tomo y me voy heißt wörtlich: «Ich nehme und gehe»; der Sinn ist etwa: Ich entschließe mich (zu gehen) und gehe . 1. Im Hebräischen und im Griechischen gibt es eine Erscheinung, die «pleonastisches Nehmen» heißt 3 und einen offenbaren Zusammenhang mit dem tomo y me voy hat, wenn sie auch nie damit identisch ist. Deshalb muß ich ein paar Worte dazu sagen. Im Hebräischen ist etwa ein typisches Beispiel: «[Gott] nahm Adam und setzte ihn in den Garten Eden» (Genesis 2,15). Ich brauche das nicht auf Hebräisch hinzuschreiben, denn die deutsche Übersetzung entspricht genau dem hebräischen Original: Das gemeinsame Objekt wird beim zweiten Glied durch ein Pronomen wiederholt. Im Griechischen 4 wird die Fügung durch einen Ausdruck vertreten, der statt des koordinierten «nahm» ein subordiniertes Partizip λα ν (lab n) enthält, das nehmend oder genommen habend heißt. Wenn das zweite Verb transitiv ist, bezieht sich das Objekt auf das Partizip mit, denn im Griechischen wird ein Objekt, das sich auf zwei Verben bezieht, stets nur einmal gesetzt. So kann man es dem einzelnen Beispiel nicht ansehen, daß es kein tomo y me voy ist, in der Masse aber wird es klar 5 . 1 Dieser Aufsatz entspricht im Kern einem Vortrag, den ich 1995 in Danzig gehalten habe, und der, im Umfang streng limitiert, im nächsten Jahr gedruckt wurde (Fehling 1996). Dennoch bin ich seitdem in verschiedenen Punkten erheblich weiter gekommen. Ich danke Herrn Prof. Dr. Josef Wiesehöfer dafür, daß er das Manuskript auf seinem Computer getippt und mir so ermöglicht hat, den Bedingungen, die die Vox Romanica an das Erscheinen von Aufsätzen knüpft, gerecht zu werden. 2 Coseriu 1966, 1977b. Nach Coseriu 1977a: 6 ist die letztgenannte Arbeit das Original. Coseriu 1977b: 150s. enthält Nachträge, die auf Arbeiten hinweisen, die in den Jahren seit 1966 erschienen waren. 3 Der Terminus ist aus der griechischen Grammatik entlehnt. Cf. Blass/ Debrunner 1954: 261; ohne den Terminus: Kühner/ Gerth 1955: 2, 87. 4 So verschieden Hebräisch und Griechisch im ganzen gebaut sind, so sind sie doch Zeitgenossen im selben Kulturkreis wie zwei moderne Sprachen und haben manche Gemeinsamkeiten im einzelnen. So haben beide etwa zur gleichen Zeit den bestimmten Artikel neu eingeführt. 5 So haben alle etwa 40 Beispiele bei W. Dietrich (1973: 258-62) ein solches Objekt. Daß Coseriu das verkannt hat, ist sein zentraler Fehler. Unglücklicher Weise übernahm er auch das mittelgriechische Beispiel aus Sandfelds Dissertation, ohne es am Original nachzuprüfen (Coseriu 1977b: 92s.). Es war dort unvollständig zitiert. Vollständig lautet es π ασαν κι νεγν κασιν τ γγρα α τα τα (epíasan ki anegn kasin tà éggrapha taûta)‚ sie nahmen und lasen dieses Dokument , Chronik von Morea (um 1300), v. 2371. Auch das ist, für sich genommen, doppeldeutig, 137 Noch einmal tomo y me voy Nicht alle hebräischen Stellen haben die normale Form von Genesis 2,15. Dadurch entsteht z.T. der Anschein von tomo y me voy. Sie zerfallen in zwei Gruppen. [1] wattiqqah. h ’is øs øa´ wattipłhr s ´ ’et hamm s kh und(-es-)nahm die-Frau und-breitete die- Decke (aus) 6 (2 Samuel 17,19) w e ’abh l m l qah. wayyas. s . ebh-lô . . . ’et mas . s . ebheth . . . ’a er . . . (ib. 18,18) und- Absalom nahm und-errichtete-für-sich die-Grabsäule, die . . . . Das sind verkürzte Ausdrücke. Und das Nehmen ist durchaus mit Objekt gedacht: «und die Frau nahm (eine Decke) und breitete die Decke aus» (der bestimmte Artikel weist auf das nur gedachte Objekt «eine Decke» zurück. Zur zweiten Stelle muß man wissen, daß sich mazzebet zu n zab verhält wie statua zu statuere, also den Stein als Aufgerichtetes bezeichnet; die Bezeichnung ist also «proleptisch» (vorwegnehmend) 7 . Gewiß, es kommt eine Inschrift dazu, aber die wird nur als Erläuterung aufgefaßt; der Stein bleibt die Hauptsache. Damit kann er sich wohl auf das l qach mitbeziehen. Außerdem ist es gewiß kein Zufall, daß die Stellen im Text eng benachbart sind; es ist ein einmaliges, nie wiederholtes stilistisches Experiment.Es sei denn an der folgenden Stelle, wo aber eine Korruptel im Spiel ist: w e ’attaˆ q e h. wa a s ´u´ a g laˆ h. adh a´ eh. th u tê pł rôt lôt ’a er . . ., und-nun nehmt und-macht (einen)Wagen, neuen, einen, und-zwei Kühe, säugende, die . . . (1 Samuel 6,7 8 ). - [2] Obwohl das Hebräische allgemein mit Pronomina verschwenderisch umgeht, bleibt manchmal ein Objekt, das aus dem Zusammenhang klar ist, ganz unausgedrückt (in modernen Sprachen wäre ein Pronomen obligatorisch und steht auch in sämtlichen Übersetzungen). Eigentlich geht es nur um eine einzige Stelle: hinneˆ ribhqaˆ l e pł ne´kha´ qah. w l kh Siehe, Rebekka (steht) vor-dir, nimm(-sie) und-geh (Genesis 24,51). Es gibt nur noch eine Stelle, wo es sich um eine Person handelt,ib. 12,19: Siehe,(sie ist) deine- Frau, nimm(-sie) und-geh , und diese Stelle hat Ch. Levin (1993: 142) für eine (schwache) Nachbildung der anderen erklärt, und zwar offensichtlich zu Recht. Etwas öfter ebenso bei Sachobjekten: Genesis 27,14; Numeri 17,2; Ezechiel 10,7. 2. Ich will nun vorweg an einem besonders klaren Fall darlegen, wie ich mir die Sache denke. Bei dem amerikanischen Autor Mark Twain kommt die Wendung in zweien seiner Werke zusammen sieben Mal vor, in: The Adventures of Huckleberry Finn und in Tom Sawyer Abroad 9 . In beiden Schriften konzentrieren sich die Beaber im Zusammenhang ist eindeutig gemeint: «Sie ließen sich das Dokument aushändigen und lasen es». Cf. ferner unten N29. 6 Wie in meinen sonstigen Arbeiten gebe ich eine Übersetzung, die gleich viele Wörter in derselben Reihenfolge hat wie das Original. Wenn nötig, helfen Klammern und Bindestriche (’et ist Akkusativ-Partikel und ist nicht übersetzbar). 7 Cf. die Parallelstelle Genesis 31,45. - Klaus Beyer, Semitist in Heidelberg, hat sich irgendwo in seinem Werk zu diesem Thema geäußert (jetzt erinnern wir uns beide nicht mehr, wo). 8 Der in der vorigen Anmerkung genannte Klaus Beyer bestätigt mir brieflich, daß das «und macht» hier unmöglich stehen könne. Vielleicht sei es aus v. 5 hier eingedrungen, wo allerdings eine andere, gleichbedeutende Form steht (perfectum consecutivum statt Imperativ). Außerdem (unerheblich für meinen jetzigen Zusammenhang) müsse das Wort ’ech t hier gestrichen werden. 9 Die erstgenannte Schrift ist im Original nicht mehr erhältlich und kann deshalb nur nach Kapitelzahlen zitiert werden, die letztgenannte habe ich noch im Original gekauft, und ich zitiere deshalb Kapitel- und Seitenzahl. 138 Detlev Fehling lege auf einen einzigen Zusammenhang; sonst kommt die Wendung in keiner der beiden Schriften noch einmal vor, und auch im übrigen Werk Mark Twains, so viel ich davon kenne, ist sie mir noch nie begegnet. Zwischen beiden Vorkommen besteht eine sehr enge Parallelität, so daß man nicht zu bezweifeln braucht, daß das in allen Einzelheiten sehr genau beabsichtigt ist 10 . Beide Male ist der Zusammenhang biblisch (1884 ist die Überschrift des Kapitels: «Was Solomon Wise? », 1894 wird erörtert, wie Gott die Wüste Sahara erschuf), beide Male kommt zuerst ein eindeutiges Beispiel, und zwar fast dasselbe 11 , und dann kommen die übrigen, sämtlich doppeldeutigen Stellen. Beide Male sind die Beispiele dem Neger Jim (der in beiden Schriften vorkommt) in den Mund gelegt (an einer Stelle ist er nur Adressat). Jim ist ein durch und durch christliches Gemüt; er gibt auch sonst Beispiele dafür, daß seine Ausdrucksweise nicht «unverfälschte Umgangssprache» ist, wie mancher zu glauben geneigt wäre. In Kap. 12, p. 222 der zweitgenannten Schrift ruft er begeistert aus: Hit’s de lan’ of Egypt, de lan’ of Egypt 12 , en I’s ‘lowed to see it wid my own eyes. Damit sehen wir uns auf den Sprachgebrauch der amerikanischen Sonntagsschule verwiesen, und wir dürfen Mark Twain glauben, daß er richtig beobachtet hat und daß tatsächlich das take and . . . dort die große Mode war, so daß Jim die Biblizismen dort aufschnappen konnte, sogar wenn er selbst die Sonntagsschule nicht besucht hat. Hierzu paßt, daß die englische Bibel nur ein paar Anlässe dazu gibt, die aber ausreichen, daß sich ein mündlicher Sprachgebrauch bilden konnte 13 . Wörtlich übersetzt, ist ja schon das «pleonastische Nehmen» - besonders wenn das Objekt eine Person ist - in modernen Sprachen auffällig: Then Pilate therefore took Jesus, and scourged him (Johannes 19,1). Eine besonders berühmte Stelle mit Sachobjekt ist Matthäus 27,24: He took water, and washed his hands. Wenn das Objekt ein Pronomen ist, kann es nur einmal gesetzt werden, und zwar hinter das zweite Verb: took and circumcised him, und diese an sich doppeldeutige Stelle konnte leicht im Sinne von tomo y me voy mißverstanden werden 14 . Hier ist aber auch die Absalom-Stelle (cf. oben unter 1 [1]) ganz wörtlich übersetzt: Absalom . . . had taken and 10 Cf. die «Explanatory note» am Anfang von Huckleberry Finn, in der sich Mark Twain rühmt, drei amerikanische Dialekte, die er einzeln aufzählt, «and four variants of the latter», zu beherrschen. «The shadings have not been done in a haphazard fashion, or by guesswork», sondern auf Grund einer sehr engen persönlichen Vertrautheit. Man kann das auch auf die jüdischen Sprechweisen ausdehnen bzw. umgekehrt davon auf die Glaubwürdigkeit des übrigen Textes zurückschließen. Mag auch Prahlerei eine unbestimmte Rolle spielen (nicht untypisch für Mark Twain), so sind doch grundsätzliche Zweifel kaum angebracht. 11 1884: you jes’ take en look at it a minute; 1894: Now you take en look at it like dis. Auf die letzte Stelle wies 1940 A. Graur hin (ich entnehme das Zitat aus Coseriu 1977: 91). 12 Cf. The land of Egypt, 1 Moses 13,10 und öfter. 13 Es genügt ja, wenn einer damit anfing und die anderen eher ihn als die Bibel nachmachten; nötig ist nur, daß sie den Sprachgebrauch als biblisch identifizieren konnten. 14 Dagegen wird man an der anderen doppeldeutigen Stelle, Lucas 6,4, das Objekt (kein Pronomen! ) auf take mitbeziehen: and did take and eat the shewbread, und deshalb steht es auch in der englischen Bibel so. 139 Noch einmal tomo y me voy reared up for himself a pillar (2 Samuel 18,18). Alle übrigen Stellen sind in idiomatisch richtiges Englisch übersetzt. Damit eröffnet sich wenigstens für diesen besonderen Fall ein neuer Weg, das Problem zu lösen. Wohl hat die Wendung mit dem hebräisch-griechischen «pleonastischen Nehmen» historisch zu tun, aber nicht so, daß sie mündlich über Länder, Meere und Jahrhunderte wandern mußte, um endlich in Jims und Mark Twains Heimat, dem Städtchen Hannibal, Missouri, anzukommen. Sie ist vielmehr schriftlich überliefert, und erst beim Übergang ins Mündliche 15 fand der Umschlag ins tomo y me voy statt 16 . 3. Ab jetzt gehe ich chronologisch vor. Anders als Coseriu lege ich das Schwergewicht auf das jeweils «zweite Verb», wo sich interessante Beobachtungen machen lassen, die Coseriu (offenbar wissentlich) ignoriert hat. Da springt sogleich ein Unterschied in die Augen, der verbietet, das Altnordische aus dem Spanischen herzuleiten. Im Altnordischen gibt es nur transitive «zweite Verben» 17 , im Spanischen aber nur intransitive, und zwar sind es im wesentlichen nur drei 18 : Coserius Titel-Beispiel «nehmen und gehen», das eng verwandte «nehmen und kommen» und endlich das radikal verschiedene «nehmen und sterben» (das kann auch nur einmal entstanden sein). 4. Doch bleiben wir zunächst beim Altnordischen! Der Weg dorthin führt über das Latein. In der Vulgata wird das hebräische l qach bzw. das griechische λαμ νω (lambán ) mit arripio oder mit tollo tuli wiedergegeben (letztere beide Formen werden als ein Verb aufgefaßt, was sie natürlich etymologisch auch sind). Das Objekt steht beim ersten Verb, beim zweiten wird es entweder durch ein Pronomen fortgeführt oder weggelassen, ersteres z. B. tulit ergo Dominus Deus hominem et posuit eum in paradiso voluptatis (Genesis 2,15), letzteres: tulit itaque Moses dimidiam partem sanguinis et misit in crateras (Exodus 24,6). Zwei Stellen zeigen dabei ein tomo y me voy 19 : Nunc ergo arripite et facite novum plaustrum 15 Allenfalls schon in der englischen Bibel, an ein bis zwei Stellen auch in der lateinischen (das Genauere hierzu wird erst der nächste Abschnitt bringen). 16 Auf einen anderen Amerikaner, Eugene O’Neill, werde ich erst am Ende des übernächsten Abschnitts eingehen. 17 Hierüber erteilte mir Frau Rode von «Den Arnamagneanske Kommissions Ordbok» liebenswürdiger Weise Auskunft. 18 Cf. Gillet (1951: 3, 707s.). Hinzu kommt lediglich eine vierte Redensart, deren literarische Herkunft und Filiation ohnehin feststeht: Tomo y vengo y que hágo Ich nehme und komme und was tue ich? . 19 Hier ist vielleicht der richtige Platz, um auf die Tradition des Abendmahls aufmerksam zu machen: Matthäus 26,26: accipite et comedite (das kehrt in der Liturgie wieder in dem Nimm und iss); sprachlich gehört dazu auch das tolle lege (Augustinus, Confessiones: 8, 12, 29). Das sind zwar genaue Parallelen zu der Rebekka-Stelle, aber wohlgemerkt nicht zu der hier besprochenen Redensart, die ja durch den Verlust des biblischen Zusammenhangs und das Fehlen jedes Objekts des Nehmens gekennzeichnet ist. 140 Detlev Fehling unum 20 (1 Samuel 6,7); tulit autem mulier et expandit velamen super os putei quasi siccans ptisanas (2 Samuel 17,19) 21 . Im Altnordischen wurden beide Verben durch taka wiedergegeben. Daraus ergeben sich die altnordischen Belege, deren auffälligster ist: toku their ock gerdhu sér net nahmen sie und machten sich (ein) Netz 22 (Snorra Edda 50 = Gylfaginning 49). Intransitive «zweite Verben» gibt es nicht, im scharfen Gegensatz zum Spanischen (cf. den vorigen und den folgenden Abschnitt). Das bestätigt von der negativen Seite her meine Schlußfolgerung, daß das Altnordische vom Latein ausging, denn die unter 1 [2] genannten Stellen ergänzen in den Übersetzungen die Pronomina: en Rebecca coram te est, tolle eam et proficiscere (Genesis 24,51). 5. Im Spanischen kommen, wie wir schon im vorvorigen Abschnitt gesehen haben, ursprünglich nur intransitive «zweite Verben» vor, und zwar wenige bestimmte, darunter Coserius Titel-Beispiel «nehmen und (weg-)gehen». Die Übersetzungen, die die Pronomina ergänzen, gaben uns den wertvollen Fingerzeig, daß die Redensart direkt aus dem hebräischen Original gekommen sein muß (umgekehrt wie oben, als sie die Bestätigung dafür waren, daß das Altnordische vom Latein ausging). Das Titel-Beispiel Coserius, das ja mit der Rebekka-Stelle identisch ist 23 , bestätigt darüber hinaus, daß die Redensart von dieser Stelle gekommen sein muß, die ich schon am Ende des vorigen Absatzes als einzige zitiert habe. Das Bewußtsein davon, daß die Redensart eigentlich jüdisch war, hielt sich übrigens 24 . So kommt schon von außen einiges zusammen, das auf die jüdische Bibel und speziell die Rebekka-Stelle hinweist. Und nun mache man sich klar, wie außerordentlich sinnvoll die Rebekka-Stelle im jüdischen Milieu ist. In ihr löst sich ja die Spannung der Geschichte von der Werbung Isaaks um Rebekka durch den nach Mesopotamien geschickten Knecht, und welcher jüdische Vater mochte nicht seine Tochter mit der Erinnerung an dieses Urbild einer gesegneten Ehe seinem Schwiegersohn anvertrauen? Mithin ist die Rebekka-Stelle ein Zitat, und zwar wurde es zunächst in engem Zusammenhang mit dem Original gebraucht. Doch ebenso gut konnte es auch auf andere Zusammenhänge übertragen werden, z. B. mochte der Schuldner seinen Gläubiger mit diesem Zitat fortschicken: «Hier hast du dein Geld, und nun verschwinde! » Schon in diesem Zustand konnte der Zusammenhang mit der Original-Stelle verloren gehen, wie der regelmäßige Benutzer von Büchmanns «Geflügelten Wor- 20 Für die beiden Kühe ist ein neues Verb da; cf. oben unter 1 [1]. 21 Da das Lateinische keinen Artikel hat, braucht man keine so komplizierte Erklärung, wie ich sie oben in Abschnitt 1 [1] für das Hebräische gab. 22 Die Struktur ist dieselbe wie im vorigen Beispiel. 23 Man beachte, daß die 1. Person Singular nur allgemeine Form zu sein braucht. Deshalb könnte sie sich gut bloß auf den Imperativ der Rebekka-Stelle beziehen. 24 Wenn man dem Zitat bei Coseriu (1977: 110) glauben kann, obwohl es an der von ihm zitierten Stelle (Wagner 1956) nicht steht. Da es aber zutrifft, muß es wohl aus einer anderen Quelle stammen. 141 Noch einmal tomo y me voy ten» wohl weiß. Ein kleiner Schritt war die Übertragung auf das sinnverwandte «Kommen», ein viel größerer die Übertragung auf das radikal verschiedene «Sterben», was auch nur einmal entstanden sein kann. Nun mußte es vollends so scheinen, als hätte das «Nehmen» kein Objekt, und als wäre die aspektuelle Nuance, die schon dem Original inhäriert, sein einziger Beitrag zur Bedeutung des Ganzen. Eugene O’Neill legt das «Nehmen und sterben» einer alten Negerin in den Mund 25 . Hier handelt es sich offenbar um eine Kreuzung von Mark Twain, wo ja auch ein Neger spricht (und wo auch tuck Präteritum zu take ist) und der spanischamerikanischen Tradition 26 , denn in England ist die Wendung überhaupt nicht belegt. Daß sie aber auch im Russischen vorkommt 27 , ist eine erwünschte Bestätigung ihrer letztlich jüdischen Herkunft. 6. Detailfragen bleiben in Menge, aber im Ganzen dürfte das Problem gelöst sein. Auch im Rumänischen und in verschiedenen anderen Sprachen spielt «nehmen und gehen» eine herausragende Rolle (Coseriu 1977: 117); anderswo, wie im Russischen, ist der Gebrauch offenbar ganz frei, aber das hindert nicht, den jüdischen Ursprung anzunehmen. Gut erklärt sich auch die eigenartige Verbreitung in Europa. Am ehesten waren in Osteuropa die gesellschaftlichen Verhältnisse derart, daß eine jüdische Redensart in die allgemeine Umgangssprache eindringen konnte, während weiter im Westen das sich emanzipierende, auf Assimilation bedachte Judentum des 18./ 19. Jahrhunderts keine solchen Beiträge lieferte 28 . Natürlich gab es auch mündliche Verbreitung von Nationalsprache zu Nationalsprache, etwa von Spanien nach Süditalien, das lange zu Spanien gehört hat, vom Russischen in Sprachen seines Herrschaftsbereichs. Vom Russischen muß auch das moderne Skandinavisch ausgehen, mindestens soweit es die Wendung «nehmen und gehen» betrifft, die es ja im Altnordischen nicht gab (cf. oben Abschnitt 3). Hier könnte es sein, daß die Finnland-Schweden, die ja seinerzeit auch zum russischen Herrschaftsbereich gehörten, die Brücke gebildet haben. Also unterliegt der Ausdruck «von Nationalsprache zu Nationalsprache» noch einschränkenden Bedingungen. Im Griechischen muß wohl die eigene schriftsprachliche Tradition des «pleonastischen Nehmens» hineinspielen, denn Redensarten wie «nehmen und gehen», geschweige «nehmen und sterben» sind dort nicht üblich. Typisch sind vielmehr Beispiele wie «ich nehme (i.e. Papier und Schreibzeug) und schreibe einen Brief» 29 . 25 Yo’ was on’y a baby w’en she tuck ,n‘ die (O’Neill 1930, v. 104). 26 Gillet 1951, loc.cit. (cf. N18) hat viele Beispiele aus Amerika mit englischen «ersten Verben». 27 . . . a na drugoj-to god ona voz’mi da i pomri ( . . . aber im nächsten Jahr sie ‹nimm und stirb› ), zitiert aus Uspenskij 1895. 28 An ältere Zeiten braucht nicht gedacht zu werden. Kam die Wendung da vor, so ist sie längst verklungen. 29 Dies teilt mir ein geborener Grieche, Prof. Kambilis, mit. Das genügt allein schon, um Coserius These vom griechischen Ursprung der Wendung zu widerlegen. - Die Struktur des Beispiels ist dieselbe wie die des altnordischen Beispiels toku their ock gerdhu sér net (cf. Abschnitt 1 [2]). 142 Detlev Fehling Da sich alles in der Neuzeit abspielt, ist auch der beständig «volkstümliche» Charakter nicht mehr das Problem, das er für Coseriu sein müßte. 7. Zusammenfassung. Wie E. Coseriu erkannt hat, sind Wendungen wie «ich nehme und gehe» in weiten Teilen Europas verbreitet und müssen einen einzigen Ursprung haben. Letzte Quelle ist (anders als Coseriu annimmt) das hebräische Alte Testament. Dort gibt es (neben einem sehr häufigen Analogon zum griechischen «pleonastischen Nehmen») ganz wenige Stellen, die äußerlich dem tomo y me voy gleichen. Aus diesen schriftlich überlieferten Stellen ist auf zwei Wegen die Redensart entstanden, einerseits über die lateinische Übersetzung im Altnordischen bzw. über die englische bei Mark Twain (im wesentlichen mit transitiven Verben), andererseits über das «nimm und geh» (Genesis 24,51), das sich als Zitat selbständig gemacht (zuerst im jüdischen Milieu und nur mit intransitiven Verben) und Analogien erzeugt hat, in allen übrigen Sprachen. Kiel Detlev Fehling Bibliographie Blass, F./ Debrunner, A. 1954: Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, 9 Göttingen Coseriu, E. 1966: «Tomo y me voy, ein Problem der vergleichenden europäischen Syntax», VRom. 25: 13-55 Coseriu, E. 1977a: Estudios de linguística Románica, Madrid Coseriu, E. 1977b: «Tomo y me voy, un problema della sintaxis comparada Europea», in: Coseriu 1977a: 92-151 Dietrich, W. 1975: Der periphrastische Verbalaspekt in den romanischen Sprachen. Untersuchungen zum heutigen romanischen Verbalsystem und zum Problem der Herkunft des periphrastischen Verbalsystems, Tübingen Fehling, D. 1996: «Noch einmal tomo y me voy», in: K. A. Sroka (ed.), Kognitive Aspekte der Sprache. Akten des 30. linguistischen Kolloquiums (Gdansk 1995), Tübingen: 67-72 Gillet, J. 1951: Propalladia and other works of Bartolomé de Torres Naharro, 3 vol., Bryn Mawr (Penns.) Kühner, R./ Gerth, B. 1955: Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache. Satzlehre, 2 vol., 4 Hannover Levin, Ch. 1993: Der Jahwist, Göttingen Wagner, M. L. 1956: «Expletive Verbalformen in den Sprachen des Mittelmeers», RF 67: 1-8 Primärtexte O’Neill, E. 1930: Dreamy Kid, New York Mark Twain 1884: The Adventures of Huckleberry Finn (Verlagsort unbekannt) Mark Twain 1895: Tom Sawyer Abroad, Leipzig Uspenskij, G. 1895 (zitiert aus: Institut für Linguistik der Sowjetischen Akademie i (ed.), Slovar’ russkogo jazyka . . ., Moskau 1957: 217, s. vzjat‘)