Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniYvonne Cazal, Les Voix du peuple – Verbum Dei. Le Bilinguisme latin – langue vulgaire au moyen âge, Genève (Droz) 1998, 336 p. (Publications romanes et françaises 223)
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Martina Nicklaus
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de la grammaire, les textes latins tardifs sont si différents des parlers romans le plus anciennement attestés, qu’ils ne peuvent en aucun cas en être la seule source, ni même la principale. Leur rejet ou ignorance du protoroman et des moyens de l’appréhender sont tels que, dans leur terminologie, «latin» équivaut à «latin écrit», comme si le protoroman n’était pas du latin. Ce malentendu, qui remonte au début du siècle, est calamiteux, aussi bien pour les latinistes, qui désirent et croient servir les études romanes, que pour les romanistes comparatistes, qui n’y trouvent pas leur compte. Et il est déplorable qu’encore aujourd’hui les adeptes de l’approche partielle aient tendance à camper sur leurs positions. Nul peut-être n’est plus conscient que moi, qui ai consacré ma carrière au comparatisme historique roman, des limites et des problèmes théoriques et pratiques qu’il renferme; mais cette prise de conscience m’a aussi montré qu’il reste de toute manière incontournable. Vu les doléances que j’ai exprimées plus haut, on comprendra donc que, malgré l’intérêt de la plupart des communications prises isolément, l’ouvrage dont je rends compte me fasse un effet mitigé, me frappe par l’absence de synthèse finale et me donne l’impression, dans l’ensemble et sous l’angle des recherches historiques latino-romanes, d’un pénible piétinement et d’un affligeant manque d’initiative. Que peut-on espérer de cette discipline pour l’avenir, si plusieurs de ses ténors persistent à se mouvoir avec des œillères dans le monde pourtant enrichissant et stimulant des découvertes et de la collaboration scientifique 7 ? R. de Dardel H Yvonne Cazal, Les Voix du peuple - Verbum Dei. Le Bilinguisme latin - langue vulgaire au moyen âge, Genève (Droz) 1998, 336 p. (Publications romanes et françaises 223) Die Kommunikation zwischen Kirche und Gläubigen im Mittelalter wurde zwar von Bildern unterstützt, die entscheidende Rolle in der Vermittlung religiöser Inhalte dürfte aber die Sprache gespielt haben, so die einleitende Feststellung des vorliegenden Werkes. Welche Sprache das war, ist, wenigstens für Frankreich, nicht so einfach zu sagen. Spätestens nach der karolingischen Reform stehen mehrere Idiome zur Verfügung: Latein und einige Volkssprachen, davon das Latein von der Mehrzahl der Gläubigen nur noch schlecht oder gar nicht beherrscht. Für die Kirche ein Dilemma: hielten sich die Geistlichen an das Latein der Bibel, wurden sie von der Masse nicht verstanden, wählten sie den lokalen Dialekt, sprachen sie «contre la culture païenne, mais . . . dans les propres termes de celle-ci» (23). Was die Predigt betrifft, so wurde der zweite Weg relativ früh, wahrscheinlich schon vor dem Konzil von Tours, praktiziert. Die Liturgie dagegen blieb lateinisch, «un texte sous surveillance, que l’Eglise dans son ambition d’intemporalité et d’universalité veille à défendre de toute adaptation locale» (14, Hervorhebung von Cazal). Wo und wie diese surveillance doch aufgebrochen und die Volkssprache in die liturgischen Texte eingearbeitet wurde, illustriert die vorliegende, sorgfältige und überaus detailreiche Studie am Beispiel der streckenweise in lingua rustica abgefaßten épîtres farcies und drames bilingues, die vom 11. bis 13. Jh. neben lateinischen Texten für die Liturgie vorgesehen waren. Cazal liefert keine revolutionären Erkenntnisse - tatsächlich kann sie auf eine Reihe von bestehenden Urteilen, bevorzugt die von Paul Zumthor, zurückgreifen -; sie will eher einige Gewichtungen verschieben und davor warnen, in den zweisprachigen liturgischen genres vorschnell «le premier signe de la faillite du monopole du latin» (19) zu 226 Besprechungen - Comptes rendus 7 Je remercie Madame Ans de Kok (Amsterdam), qui, avec patience et dévouement, s’est penchée sur la version initiale de ce compte rendu et en a extirpé nombre d’erreurs. wittern. So überzeugend, kohärent und wertvoll Cazals Relativierungen auch sind, man vermißt - wenigstens stellenweise - in ihrem Buch eine stärkere Berücksichtigung der im engeren Sinn sprachlichen Faktoren: wie genau die Volkssprache, die lingua scripta rustica oder die langue romane aussieht, läßt sich an dem reichlich gelieferten Belegmaterial zwar ablesen, eine Analyse etwa des lateinischen oder regionalen Einflusses bleibt jedoch aus. Um die Bedeutung der zweisprachigen épîtres und drames ermessen zu können, umreißt Cazal im 1. Kapitel zunächst die generelle Sprachpolitik der Kirche seit dem 5. Jh.: Forme et langue(s) du discours chrétien: Les antécédents des textes liturgiques bilingues (19-56). In den folgenden Kapiteln geht die Autorin dann auf die genannten Gattungen ein und wählt dabei jeweils einen neuen Schwerpunkt für die Analyse: Kapitel 2 (57-94) untersucht an den épîtres farcies die liturgische Funktion der langue romane, Kapitel 3 (95-148) deren Rolle innerhalb der épîtres farcies. Die weiteren Kapitel sind den drames gewidmet. Die vergleichsweise lange Geschichte dieser Form der Umsetzung biblischer Texte erlaubt eine «double perspective à la fois diachronique et synchronique» (17) bei der Bewertung der volkssprachlichen Einschübe (Kap. 4, 149-210). In einigen drames sind lediglich die Refrains nicht-lateinisch; ob solchen knappen Abschnitten eine «fonction édificatrice» zukommen kann, bzw. welche Funktion ihnen überhaupt zugedacht ist, wird im 5. Kapitel beantwortet (211-54). Abschließend bleibt zu klären, warum auch dort an lateinischen Sequenzen festgehalten wird, wo bereits der gesamte dramatische Text volkssprachlich ist (Kap. 6, 255-304). Es ist Cazals Hauptanliegen, die zweisprachigen drames und épîtres in einer Geschichte der (christlichen) Texte zu situieren und sie nicht ausschließlich als «étape transitoire dans la substitution inéluctable de la langue vulgaire au latin» (19) zu bewerten; das erste Kapitel gibt daher Einblick in die Geschichte zweisprachiger religöser Texte. Es müsse zur Kenntnis genommen werden, so Cazal, daß Volkssprache schon früh in christlichen geschriebenen Texten auftaucht, ja empfohlen wird, etwa von Augustinus (23). Hinter solchen Empfehlungen steht aber kaum eine offene oder moderne Grundhaltung, sondern vielmehr das Streben nach Macht: die Sorge der Kirche, alle Anhänger zu erreichen, wog ganz offensichtlich schwerer als die Sorge um die sprachliche Reinheit der Botschaft. So wird auf der einen Seite, schon in protoromanischer Zeit, eine «adapation de la langue écrite à des destinataires illettrés» praktiziert. Auf der anderen Seite besteht die Tendenz, in lateinische Texte «des expressions déjà formalisées de la communication orale, telles quelles s’instaurent et perdurent à côté du monde des clercs» (38) aufzunehmen. Eine erste Spur dieser Strategie findet Cazal in einer knappen handschriftlichen Notiz aus dem 7. oder 8. Jh. in einem im übrigen lateinischen Manuskript eines Heiligenlebens; augenfällig wird die Strategie in der vollständig in einem okzitanischen Dialekt verfaßten Chanson de Sainte Foy von etwa 1060. Die handschriftliche Notiz enthält eine Sequenz, resuveniad te, die das lateinische subveniat tibi ersetzt und von Cazal als formelhafter Vorläufer des altfranzösischen se resouvenir in lateinischer Orthographie interpretiert wird. In der chanson wiederum gibt der Autor zunächst vor, sich an der beim Volk besonders beliebten Form der chanson de carole ( Tanzlied ) orientiert zu haben - um anschließend, charakteristisch für Heiligenleben, die Volkstümlichkeit wieder aufzugeben und inhaltlich an die vorher in der Messe gelesenen lateinischen Texte anzuknüpfen. Für Cazal sind die Plazierung (nach der Messe) und thematische Ausrichtung der vies de saints der Grund, weshalb «l’autonomie de la langue romane n’apparaît plus si évidente et les textes, entièrement composés dans une langue comprise de tous les fidèles, demeurent explicitement rattachés et même subordonnés au cadre liturgique latin où ils s’insèrent» (49). Der Primat des Lateinischen bleibt unangetastet, trotz der Annäherung an die «formes réussies», trotz der Entwicklung der Volkssprache von einem nur gesprochenen, nur sporadisch latinisierend verschrifteten Idiom zu einer funktionierenden Schriftsprache. 227 Besprechungen - Comptes rendus Überflüssig und theoretisch bedenklich ist innerhalb Cazals Beweisführung eine Nebenaussage. Im Zusammenhang mit der beobachteten Ausbreitung der Volkssprache in religiösen Texten spricht sie von einem «contexte de diglossie ou de bilinguisme» (37), wobei die obengenannte Notiz noch im «contexte de diglossie», die Chanson jedoch im «contexte de bilinguisme» stehen soll. Augenscheinlich versucht die Autorin hier, die allgemeinsprachlich durchaus korrekte Bezeichnung drames, épîtres, genres bilingues (dt. zweisprachig ) sowie den Untertitel ihres Buches («Le bilinguisme . . . ») linguistisch zu rechtfertigen, indem sie bilinguisme und diglossie gegenüberstellt, letztere in einer Fußnote (24 N12) als «opposition contrastée et fonctionnalisée entre deux registres d’une même langue» definiert. Damit bewegt sie sich in fachwissenschaftlichem Rahmen und müßte bilinguisme entsprechend definieren, d. h. sie dürfte erst dann, wenn alle Funktionen von jeder der beiden Sprachen erfüllt werden können, von Bilingualität sprechen, nicht schon, wenn die zwei betreffenden Sprachen verschriftet sind. Streng linguistisch gesehen liegt aber bei allen von Cazal untersuchten Texten noch überhaupt keine Bilingualität oder bilinguisme vor, denn, und genau dies zu beweisen ist Cazal ja angetreten, der Volkssprache wird immer wenigstens eine Funktion, nämlich die, bestimmte biblische und religiöse Inhalte auszudrücken, vorenthalten. Anders als in den Heiligenleben scheint die sprachliche Situation bei den épîtres farcies zu sein, wie zu Beginn im zweiten Kapitel vermutet wird. Die liturgische Funktion der langue romane wirkt in diesen zweisprachigen, grundsätzlich im Graduale neben lateinischen Tropen notierten épîtres, wo ein volkssprachlicher Text in Versform ein lateinisches Bibelzitat aus der Liturgie aufnimmt und erläutert, deutlich aufgewertet. Doch der erste Eindruck bedarf der Relativierung. Épîtres existieren keineswegs für alle Tage des liturgischen Jahres, wenigstens sind die überlieferten in signifikant hoher Anzahl nur für vier Tage vorgesehen, wovon drei unmittelbar auf Weihnachten folgen: 25., 26. und 27. Dezember und 6. Januar. Diese Konzentration der zweisprachigen Tropen in der Weihnachtszeit hat nun für Verf. überhaupt nichts damit zu tun, daß die Kirche in dieser Periode die geschärfte Aufmerksamkeit der Gläubigen oder die höhere Zahl der Kirchgänger ausnützen möchte; eine Interpretation, wie sie etwa M. Zink 1 vertritt. Der Grund ist, so Cazal, ein ganz anderer: die betroffenen Tage nach Weihnachten sind den tripudia gewidmet, liturgischen Spielen, oder, wie Cazal in der Überschrift zum entsprechenden Unterkapitel sagt: dem «carnaval des clercs» (81). In zeitgenössischen theologischen Abhandlungen werden diese réjouissances beschrieben als Rollenspiele während der Messe, wo die Geistlichen Ränge und Funktionen tauschen dürfen. Konnte die Kirche diese Belustigungen in den vergangenen Jahrhunderten noch als Ersatz für ursprünglich heidnische Spiele dulden, muß sie jetzt, im 12. Jh., die von Reformern und Papst Innozenz iii. kritisierten, inzwischen untolerierbar gewordenen débordements wieder unter Kontrolle bekommen. Die im vorliegenden Zusammenhang entscheidende der eingeleiteten Reformen bewirkt Eudes de Sully, Pariser Bischof von 1196-1208. Er untersagt zwar die Spiele in der praktizierten Form, bietet aber gleichzeitig einen Ersatz mit bestimmten Zugeständnissen und steht damit ganz im Zeichen der pragmatischen Politik der Kirche. So sollte für die Messe des 6. Januar, Epiphanias, bzw. für das vierte tripudium gelten: «l’épître, lue par deux clercs, est une épître farcie, dont un sousdiacre . . . est autorisé à lire le verset» (89). Zugelassen wird also ein wohldosierter Rollenwechsel; dieser wiederum ist begünstigt durch die Aufnahme der Volkssprache, die einem Diakon gewiß vertrauter war als das Latein. Wenn man mit Cazal in Rechnung stellt, daß «le quatrième tripudium, la fête des sous-diacres . . . est souvent associée, dans les mesures qu’il propose aux trois autres fêtes» (87), daß also Eudes des Sullys Reform im Prinzip alle 228 Besprechungen - Comptes rendus 1 Cf. M. Zink, «L’Église et les Lettres», in: D. Porion (ed.), Précis de littérature française du Moyen Age, Paris 1983: 35-58 (50). vier Tage der tripudia betrifft, ist die Konzentration der épîtres farcies in diesem Zeitraum erklärt, und zwar nicht als organische Folge des allgemeinen Vordringens der Volkssprache (dies nur indirekt), sondern als kontrollierte, genau berechnete und gezielte Maßnahme der in Bedrängnis geratenen Kirche. Die Funktion der Volkssprache innerhalb der épîtres farcies, Thema des dritten Kapitels, ist keine andere als die des mittelalterlichen Lateins in den orthodoxen Tropen: Kommentar des Zitats aus der Vulgata, wobei das Zitat nicht als Ganzes, sondern immer in Abschnitten präsentiert wird, unmittelbar gefolgt vom jeweiligen Kommentar. Ein «procédé d’autorisation» (108) steht in Form eines Prologs den épîtres farcies voran und entkräftet präventiv jede Kritik an der Liturgietauglichkeit des Textes. Der Vortragende präsentiert sich als bibelkundig und damit den Regeln der Exegese entsprechend zur Schöpfung eigener religiöser Texte berechtigt (111); weiterhin wird der Autor des kommentierten biblischen Textes und damit eine über alle Kritik erhabene Quelle angeführt. Um die Bedeutung dieses «procédé d’autorisation» richtig einschätzen zu können, wäre ein Vergleich mit den lateinischen épîtres wichtig gewesen. Es ist nicht anzunehmen, daß es sich hier um ein Merkmal ausschließlich der zweisprachigen épîtres handelt 2 . Prinzipiell wäre ein systematischeres Vergleichen von lateinischer und volkssprachlicher Version der jeweils zitierten liturgischen Texte aufschlußreich gewesen, zumal immer wieder auf die Existenz lateinischer Paralleltexte hingewiesen wird. Inhaltlich folgen die épîtres farcies den beiden entscheidenden lois du trope, ja sie tun dies sogar konsequenter als die lateinischen Tropen: «Du trope . . . la langue romane n’infléchit pas les règles . . . un siècle avant la disparition du genre, elle le rend exemplaire» (147). Sie erfüllen die fonction actualisatrice, indem sie an die «Realität» des Auditoriums, d. h. an das «évènement liturgique particulier fixé par le calendrier» (132) mit hui (im lat. Tropus: hodie, haec dies) anknüpfen: «Ce que Ysaïes nos escrit / De l’avenement de Jhesu Crist / Bien nos doit estre hui en remembrance» (132). Dabei geht die épître farcie in der Aktualisierung weiter als der lat. Tropus, denn sie aktualisiert auch die Sprache. Das zweite Gesetz des Tropus schreibt die interprétation figurative vor, und hier ergibt sich durch das zweimalige Übersetzen ein größerer Interpretationsspielraum, wie z. B. bei «vidi supra montem Syon agnum stantem / Mons de Syon est sainte eglise» (129). Die doppelte Übertragung - hier: montem Syon in zunächst Mons de Syon und dann in sainte eglise - erlaubt eine im lat. Tropus nicht mögliche zusätzliche Aussage: « . . . c’est l’ordre des mots qui mime l’ordre des textes, de sorte que ce qui suit le verbe, le second signifiant, apparaît moins second que dernier» (129). Obwohl der letztgenannte Sachverhalt ohne theoretischen Aufbau problemlos nachvollziehbar ist, bringt Cazal hier (und z. B. im Zusammenhang mit der Bibelexegese: « . . . l’Ancien testament est un signifiant en attente de son signifié, le Christ et le Nouveau Testament» [121]) die Saussuresche Dichotomie signifiant/ signifié ins Spiel und formuliert: « . . . non seulement l’interpolation romane, tout comme le trope latin, fait passer la substitution des signifiés dans le signifiant, mais elle met également en scène le travail de signification, l’entreprise interprétative, en faisant suivre à l’auditeur la substitution successive des signifiants» (128). Leider (möchte man sagen) ist der Prozess des Übersetzens, Interpretierens oder Paraphrasierens nie ein Spiel mit einzelnen signifiés und signifiants, sondern immer mit festen signifiant/ signifié-Kombinationen, d. h. mit Zeichen, und deren Kombinationen. Daß beim Interpretieren ein signifiant mit einem neuen signifié versehen wird und beim Übersetzen ein «second signifiant» für dasselbe signifié steht, soll, und so ließe sich Cazals Argumentation eventuell retten, simuliert werden, ist aber schlechthin unrealisierbar. 229 Besprechungen - Comptes rendus 2 Cf. zur massiven Verbreitung der «Bescheidenheitsformeln» in der Literatur des Mittelalters: E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 6 1967: 93, 410-15. Das vierte Kapitel skizziert die Entwicklung der drames bilingues und erläutert anschließend die Funktion der nicht-lateinischen Refrains. Die Dramatisierung der Liturgie nimmt ihren Ausgang ebenfalls bei den Tropen, mit einer in Dialogen geschriebenen Variante eines Tropus zur Ostermesse, verfaßt im 10. Jh. im Kloster Saint-Martial bei Limoges. Zu Beginn des 12. Jhs. tauchen erste drames mit volkssprachlichen Refrains auf, die, so Cazal, erneut heidnisch gefärbte, allzu lebendige Beteiligungen der Laien an der Messe - in Form von Gesängen und Tänzen, wovon besonders die «cantilenae luxuriosae» (200) der Frauen der Kirche ein Dorn im Auge waren - kanalisieren und auf das Singen volkssprachlicher Refrains reduzieren sollen. Was genau gesungen wird, überprüft Cazal im fünften Kapitel. Ihre Schlußfolgerung: «De la langue romane, le refrain donne l’image d’une langue mimétique où le rythme, la matérialité signifiante des mots, la récurrence même du refrain sont la forme, à peine plus articulée, du cri et des pleurs, à peine une langue mais le prolongement d’un mouvement du corps et le redoublement d’une gestuelle» (238). Mit anderen Worten: die Refrains der drames bilingues sind Trauergesänge, ein rhythmisches Aufschluchzen, und übernehmen somit lediglich den pragmatischen Part des Textes, während die referentielle Funktion («fonction référentielle», 237) den lateinischen Abschnitten zukommt. Exemplarisch seien hier zwei Refrains angeführt, aus dem Sponsus (die Dramatisierung der Parabel von den weisen und törichten Jungfrauen) und aus der Suscitatio Lazari: «Dolentas! Chaitivas! Trop i avem dormit» und «Hor ai dolor! / Hor est mis frere morz,/ por que gei plor» (239). Wenn die Refrains also im Prinzip eine schon an den épîtres beobachtete überaus vorsichtige Sprachpolitik der Kirche demonstrieren, so deuten doch andere volkssprachliche Sequenzen in den drames, und zwar solche, die in den dramatischen Diskurs eingreifen, ja ihn sogar vollkommen ersetzen, auf eine stärkere Emanzipation der Volkssprache. Cazal greift für das sechste Kapitel besonders jene drames bilingues heraus, in denen der gesamte dramatische Text volkssprachlich ist, allerdings von lateinischen Bibelzitaten unterbrochen wird: « . . . au moment où la langue romane se substitue entièrement au latin pour le discours dramatique, celui-ci réapparaît sous la forme d’une lectio qui fait entendre directement le récit scripturaire absent des drames latins comme des autres drames bilingues» (262). Diese sprachlich so «fortschrittlichen» Dramen orientieren sich also wieder stärker an der Form des Tropus, da sie die Bibel wörtlich zitieren. Und sie bleiben auch in anderer Hinsicht konservativ, wie Verf. nachweisen kann. Obwohl die Dramatisierungen durchaus über eine reine Illustrierung der biblischen Szene hinausgehen können, verselbständigen sie sich nicht wirklich, sondern bewegen sich weiterhin in einem theologisch gut abgesicherten Rahmen. Exemplarisch sei hier Cazals Argumentation zum Ordo repraesentationis Ade, eine Mitte des 12. Jhs. entstandene Dramatisierung der Genesis, nachgezeichnet; Cazal beruft sich auf eine Studie von W. Noomen 3 . Im Ordo repraesentationis Ade wird ein Dialog zwischen Adam und dem Teufel eingefügt, der keiner Bibelsequenz in der Schöpfungsgeschichte entspricht, und daher von einigen «chercheurs» als Ausdruck der «fonction actualisatrice du discours en langue romane» (272s. N35) interpretiert wird. Noomen dagegen zeigt, daß der Einschub eine Art Antwort auf eine alte Frage der Genesis-Exegeten liefert: Warum spricht der Teufel zuerst Eva und nur sie an? Die «Antwort» im Ordo - es wird einfach davon ausgegangen, daß der Teufel sich auch an Adam gewandt haben muß - ist dabei keine Erfindung, sondern steht auch in einer narrativen Tradition, denn sie wird bereits in einer altenglischen Erzählung von etwa 900 formuliert (272s.). Das drame bilingue erfüllt dennoch eine fonction actualisatrice, und zwar im Sinne des Tropus-Gesetzes, wie im zweiten Analyseschritt des sechsten Kapitels betont wird. Im dra- 230 Besprechungen - Comptes rendus 3 «Le Jeu d’Adam. Etude descriptive et analytique», R 89 (1968): 145-90. me nützt die Kirche den größeren volkssprachlichen Textumfang, um bei der Aktualisierung über ein hui wie in den knappen Refrains deutlich hinauszugehen: « . . . la farciture en langue romane semble obéir à un souci de pédagogie et de pastorale plus que d’exégèse» (285). Die Zuhörer werden wie Schüler geführt - hin zum lateinischen Credo, so jedenfalls interpretiert Cazal eine volkssprachliche Sequenz im Sponsus, die inhaltlich und rhythmisch ganz offensichtlich eine Paraphrase des Glaubensbekenntnisses ist und in der lateinischen Version des Tropus fehlt (285). Die Zweisprachigkeit eröffnet somit beste Möglichkeiten der édification und, paradoxerweise, der Betonung des hohen Rangs der lateinischen Sprache. Obwohl also die sorgfältig ausgebaute actualisation in den drames bilingues keineswegs Hinweis auf eine «sécularisation subie passivement» (303) ist, sondern zum taktischen Kalkül der Kirche gehört, wie alle bis hierher untersuchten volkssprachlichen Segmente, gibt sie doch einen Anstoß zur Entwicklung des nicht-liturgischen und rein volkssprachlichen Theaters («théâtre à sujet religieux ou profane en langue romane», 296), so Cazals These im dritten Analyseschritt dieses letzten Kapitels. Der Übergang vollzieht sich allerdings nicht so glatt: «La présence de la langue romane ne sécularise pas le drame et ne le détourne pas de sa fonction liturgique» (303). Die Entwicklung verläuft anders: Das profane Theater übernimmt die Tropus-Technik und baut sie aus, wie Cazal mit einem Vergleich illustriert. Gegenübergestellt werden ein zweisprachiges liturgisches Drama von Hilaire d’Orléans aus der ersten Hälfte des 12. Jhs., das Ludus super iconia sancti Nicolai, und ein etwas später zu demselben Thema entstandenes französisches jeu von Jean Bodel, das Jeu de saint Nicolas. Die formale Nähe zum liturgischen drame besteht darin, daß im jeu ebenfalls ein Ausgangstext mit einem dramatisierten Kommentar kombiniert wird. Allerdings sind die quantitativen Verhältnisse umgekehrt: Das jeu besteht aus einer Art Resümee als Prolog (114 Verse) und einer geradezu ausufernden Dramatisierung als Hauptteil (1500 Verse). Das schon in einigen drames großzügig ausgelegte Gesetz der Aktualisierung wird hier noch weiter ausgereizt: die Geschichte ist an einen höchst profanen, aber für das Auditorium gewiß sehr «aktuellen» Ort verlegt, in eine Taverne. Wenn auch das Stück als Ganzes belehrend bleibt («La pièce . . . édifiante dans son ensemble . . . », 298), so muß doch erkannt werden, daß «les scènes de taverne résultent d’une lecture actuelle de la société contemporaine, représentée pour elle-même et pour le plaisir - et non plus l’édification - des spectateurs» (298). Cazals Argumentation ist durchaus nachvollziehbar, kann aber eine andere Sicht der Dinge nicht gänzlich ausschließen: Gerade die über große Strecken reichende Verständlichkeit der drames, d. h. also doch die «présence de la langue romane», könnte zum bewußten Wahrnehmen auch der Form geführt haben und so Voraussetzung für das Interesse an Imitation geworden sein. Einige der von Cazal formulierten Folgerungen sind zu diskutieren, und manche der sprachwissenschaftlichen Beurteilungen zeigen theoretische Unsicherheiten. Ohne Zweifel aber gelingt es der Autorin, dem Leser einen Einblick in eine äußerst komplexe, mit eindimensionalen Diagnosen vom Typ «premier signe de la faillite du monopole du latin» nur unzureichend erfaßte sprachliche Situation zu schaffen und dabei eine Reihe von Einzelbetrachtungen zu den genres bilingues in eine Gesamtschau zu integrieren. In diesem Sinne ist die Lektüre des Bandes mitunter geradezu spannend - und in jedem Falle édifiante. Martina Nicklaus H 231 Besprechungen - Comptes rendus
