Vox Romanica
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0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniMilena Mikhaïlova, Le présent de Marie. Introduction par Roger Dragonetti, Paris/New York/Amsterdam (Diderot) 1996, 298 p. (Collection Mémoire)
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A. Arens
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ning/ Claudia Schöning, «La femme de trente ans. Über einen Frauentyp in französischen Romanen des 19. Jahrhunderts» (433-46); Ulrich Schulz-Buschhaus, «C’est la faute de la fatalité! Über die Funktion von ‹grands mots› in den Romanen Flauberts» (447-62); Margot Kruse, «Motiv und Funktion: Das gemalte Porträt in den Romanen Thérèse Raquin von Zola und Pierre et Jean von Maupassant» (463-87); Raymond Joly, «Seht mich, die Jungfrau! Aus einer psychoanalytischen Untersuchung des Fliegenden Holländers und des Tannhäuser von Richard Wagner» (489-502); Hermann Krapoth, «Schreiben im Zeichen des Todes. Motivkonstellationen in Jorge Sempruns L’écriture ou la vie» (503-16); Eva-Maria Tepperberg, «Die pegasische Feuerwerksschrift des gespaltenen Kentauren in den Autofictions von (Julien) Serge Doubrovsky (*1928)» (517- 42); Fritz Nies, «De guirlande en guirlande, de Julie à Uli: Gattungsbildende Blüten und Stärkungsmittel à la française» (543-55). Marie-Claire Gérard-Zai H Milena Mikhaïlova, Le présent de Marie. Introduction par Roger Dragonetti, Paris/ New York/ Amsterdam (Diderot) 1996, 298 p. (Collection Mémoire) Mit der hier anzuzeigenden Arbeit unternimmt Frau Mikhaïlova, Lektorin an der Ecole Normale Supérieure von Fontenay, einen ganz neuen und zugleich auch ganz eigenwilligen Versuch, die 12 Laissen der Marie de France zu interpretieren. In Anlehnung an den an die Adresse des Königs gerichteten Vers «Si vos os fere icest present» (v. 55 des Prologs der Laissen) betitelt sie ihr Werk mit «Le présent de Marie». Dabei ist «présent» in einem doppelten Sinn zu verstehen, zum einen als «Geschenk» der Dichterin, zum anderen als «Gegenwart». Neben v. 55 kommt gemäß der Verfasserin v. 47 des Laissenprologs eine besondere Bedeutung zu, in dem die Dichterin mitteilt, sie habe es «entremis de lais assembler». In diesen beiden Versen sieht Mikhaïlova die Identität und die Finalität des Werkes ausgedrückt (51). Für diesen «double geste d’assembler et d’offrir» (52) sind für sie die Begriffe «(j)ointure et don . . . deux notions sous-jacentes, [qui] constituent un fond thématique et formel que l’on découvre de texte en texte» (52); «jointure» und «don» sind «les clés permettant d’aborder ce(s) texte(s) à la fois comme récits indépendants et comme un ensemble» (52). - Dabei versteht die Verfasserin unter jointure «la transformation de cette matière venue des Bretons» (59); der Leser und somit auch Mikhaïlova haben der Einladung der Dichterin zu folgen, «[de] gloser la lettre/ E de lur sen le surplus mettre» (v. 14s. des Prologs), also die Laissen zu interpretieren und «cet ailleurs qu’est notre lecture» (63) herauszufinden, d.h. also im Klartext, dem dichterischen Werk eine individuelle Interpretation zu geben. In dem mit «Le détour du sens, en guise de second dé-nouement» überschriebenen Abschlußkapitel (279-83) wird dann auch nochmals deutlich hervorgehoben, daß es in allen Laissen neben einem ersten «dénouement», der «la solution de la crise» (279) darstellt, einen «second dénouement» gibt, der «(c)e ‹surplus› de solution» (280) enthält, das eben von jedem Leser zu entdecken, aber meist nur in Details, als «ornement» (280), enthalten ist. - «Don» sodann bedeutet für die Autorin nicht nur Gabe der Marie de France an den König und an die Leser, sondern auch die Fähigkeit, dem Sinn «des lais et aussi celle de notre lecture» (55) zu folgen. - Mikhaïlova sagt deutlich, daß es sich bei ihrem soeben dargelegten Inhaltsverständnis der Begriffe «jointure» und «don» um eine «métamorphisation» (55) handelt. Und darin liegt nun auch das zentrale Problem dieser Arbeit. Die Verfasserin nimmt für sich in Anspruch, nach ihrem «gusto» die Laissen zu interpretieren, da es ja gemäß Marie de France jedem Leser aufgetragen ist, «le surplus» (Prolog, v. 16) herauszufinden. Damit sind natürlich allen Interpretationen und Spekulationen Tür und Tor weit geöffnet. Auf 315 Besprechungen - Comptes rendus diesem Spekulationspfad bewegt sich Mikhaïlova dann auch in ihrer gesamten Arbeit. Daß es ihr nicht auf eine wissenschaftlich fundierte und soweit wie möglich stichhaltige Analyse ankommt, ergibt sich nicht nur aus der Anführung von völlig aus dem Zusammenhang gerissenen und überinterpretierten Quellenzitaten (cf. etwa p. 93, 129, 142 u. a.). Es wird auch «expressis verbis» auf die Einbeziehung der ja nun recht umfangreichen Forschungsvorarbeiten verzichtet: «Nous renonçons délibérément à la démarche érudite de renvois exhaustifs qui ne correspond pas à l’orientation de ce travail» (287 N5). Es fehlt überhaupt eine theoretisch fundierte Darlegung des methodischen Vorgehens in dieser Untersuchung; das, was in dem mit «Le départ du sens» betitelten Einleitungskapitel (51-63) zu lesen ist und wohl als methodische Grundlegung verstanden werden soll, ist rein spekulativ-impressionistischer Natur. So kann es denn auch nicht verwundern, daß Mikhaïlova für sich in Anspruch nimmt, in ihrer Untersuchung die Laissen in einer Reihenfolge anzuordnen, «qui ne tient pas compte de l’ordre selon le seul manuscrit complet. Notre regroupement tire sa légitimité de la seule continuité métaphorique établie par la rencontre entre jointure et don» (52). Auf der Basis der dargelegten subjektiven Interpretationsmethode ist ja alles möglich. Und damit komme ich zu der konkreten Interpretation der Laissen durch Mikhaïlova. Sie faßt die Laissen zu fünf Einheiten zusammen. Die erste Einheit, die sie mit «Dépiècement et intégrité» (65-102) überschreibt, behandelt Guigemar und Yonec. In beiden Werken gibt es den Gegensatz zwischen der «réalité et l’Autre monde» (70). Während der Ritter Guigemar durch seine Wunde, die eine «plaie-ouverture, une plaie initiatique» (68) für das Handlungsgeschehen ist, aus der für ihn harten Realität zur anderen Welt, zu der in einem Turm eingesperrten Dame geführt wird, ist es in Yonec umgekehrt der «chevalier-oiseau» (86), der für eine ebenfalls gefangen gehaltene Dame die andere Welt repräsentiert. In Yonec kommt noch hinzu, daß sich das Abenteuer «dans un espace de verticalité» (87) vollzieht: Der Sohn des sterbenden «chevalier-oiseau» setzt den Vater fort, er «permet au passé de se surimposer au présent» (91); genau dies tut gemäß Mikhaïlova auch Marie de France mit ihrem Werk, indem sie die ihr übermittelten bretonischen Geschichten neugestaltet (102). Die Laissen Deus amanz, Fresne und Milun, die unter dem Thema «La paternité stérile» (105-52) behandelt werden, bilden die zweite Interpretationseinheit. In Deus amanz und Fresne wird «le thème des imperfections de la paternité» (105) behandelt; und in beiden Laissen spielt ein Name eine zentrale Rolle: In Deus amanz erhält der Berg, an dem die beiden Liebenden sterben, deren Namen und er wird durch das Ausschütten des Zaubertranks - und darin liegt «le surplus» - zu einem Ort der Fruchtbarkeit; trotz des Todes wird also Leben gespendet. In Fresne erhält umgekehrt nicht der Ort den Namen einer Person, sondern vielmehr die Person, die ausgesetzte Zwillingsschwester, den Namen des Ortes, an dem sie gefunden wurde. Das «ailleurs», der tiefere Sinn dieser Laisse liegt darin, daß es eine Analogie zwischen dem Finden des ausgesetzten Mädchens und dem Finden des Stoffes durch Marie de France gibt. Und in Milun schließlich führt der Sohn seine Eltern nach 20jähriger Trennung wieder zusammen; auch hier wieder sind folgende Parallelen gegeben: «C’est au fils de Milon, à Marie, aux nouveaux-venus, (aux lecteurs? ) que revient la mission d’assembler, de donner un sens, car assembler est don» (152). Der dritte Abschnitt, der mit «Aléas de la justice» (155-98) überschrieben ist, widmet sich den Laissen Equitain und Bisclavret. Equitain ist ein Werk, das durch «un retournement de sens» (176), durch «une jointure par la différence» (177) charakterisiert ist: Der König, der Richter, wird zum Gerichteten; seine mörderische Frau erleidet die Todesstrafe. Und in Bisclavret ist deutlich zu erkennen, daß sich Marie de France nicht nur mit einer Lösung einer Krise begnügt (Bisclavret reißt seiner Frau die Nase aus und er wird vom Werwolf wieder zum Menschen), sondern daß es zusätzlich «un ‹second› dé-nouement» (280) gibt 316 Besprechungen - Comptes rendus (durch Bisclavrets Akt einer «justice exemplaire» [280] wird die weibliche Nachkommenschaft der Ehefrau gestraft). Die vierte Interpretationseinheit mit dem Titel «Assemblages. La parole comme remembrance et comme re-membrance» (201-38) befaßt sich mit den Laissen Chaitivel, Laüstic und Chievrefoil. Mikhaïlova sieht in allen drei Werken - und darin liegt für sie «le surplus» (53) - erneut eine Analogie zur Tätigkeit der Marie de France als Dichterin. So wie die Dame in Chaitivel eine Laisse über drei ihrer bei einem Turnier gestorbenen Liebhaber verfassen will als «remembrance-mémorisation» (206), will Marie de France den ihr überlieferten Stoff «re-membrer» (207), also zusammentragen, um ihn alsdann «remembrer dans l’œuvre» (207), d. h. in Erinnerung zu bringen. Eine ähnliche Parallele ist auch in Laüstic vorzufinden: Die Dame horcht auf den Gesang der Nachtigall und übermittelt ihrem Geliebten eine Botschaft; auch die Dichterin hört den «chant du lai breton» und gibt ihm «une transmission orale et écrite» (221). Und in Chievrefoil schließlich geht es darum, daß Yseut die «summe de l’escrit» (232) der ihr von Marcs Neffen hinterlassenen Botschaft ermitteln muß; auch Marie de France muß die «summe» des ihr überkommenen Stoffes, «le surplus de sens» (235) herausfinden. In dem fünften Abschnitt schließlich mit dem Thema «Les attendus de la largesse» (241- 76) werden die Laissen Eliduc, der Prolog und Lanval behandelt. Diese drei Werke sind gemäß Mikhaïlova ein Dokument der «largesse» und sie sind damit vergleichbar mit der «largesse» der Marie de France, die mit ihrem Werk dem König, dem Leser und zukünftigen Generationen ein Geschenk darbietet. So wie in Lanval die Fee mit der Preisgabe ihres Wissens einen Akt «de générosité» (275) vollzieht, verfährt auch die Dichterin, indem sie den bretonischen Stoff preisgibt und vor dem Vergessen rettet. Und in Eliduc hat man nochmals ein Beispiel dafür, daß zur Lösung der Krise ein «surplus» (53) hinzukommt: Obwohl Eliduc und seine Geliebte sich nach dem Eintritt von Eliducs Ehefrau in ein Kloster ganz ihrer Liebe hingeben könnten, wählen auch sie nach einem Jahr denselben Weg, um «rendre plus qu’on a reçu» (252). Es handelt sich bei der vorangehend zusammengefaßten Arbeit ohne jeden Zweifel um eine sehr geistreiche und von philologischer «finesse» zeugende Arbeit. Und ich kann unumwunden Pierre Dragonetti zustimmen, der in seiner brillanten, philosophisch-literarisch ausgerichteten Einleitung zu diesem Werk (13-49) von einer «lecture illuminante» (31) spricht, die die Verfasserin biete. Nur bleibt festzuhalten, daß es sich um Ausführungen assoziativen Charakters handelt. Frau Mikhaïlova verliert sich permanent in textferne Spekulationen, und dann kann man natürlich jede These aufstellen. Trotzdem hat diese Arbeit ihren unbestreitbaren Wert: Sie liefert, wenn auch auf nicht gesicherter Basis, Ansätze für eine Neuinterpretation des Werkes von Marie de France. Hier könnte und sollte weitergearbeitet werden. A. Arens H Jens N. Faaborg, Les Enfants dans la littérature française du Moyen Age, Copenhague (Museum Tusculum) 1997, 512 p. (Les Etudes Romanes 39) Cet ouvrage se situe dans la grande lignée des études des romanistes scandinaves publiées par l’Institut d’Etudes romanes de l’Université de Copenhague. L’étude de Jens N. Faaborg a nécessité de très nombreuses lectures et un dépouillement fort large de la littérature médiévale française, et l’on peut regretter d’autant plus l’absence d’index. Alors que Doris Desclais Berkvan, dans son excellent ouvrage, Enfance et maternité dans la littérature française des XIIe et XIIIe siècles, Paris 1981, s’intéressait essen- 317 Besprechungen - Comptes rendus
