eJournals Vox Romanica 59/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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2000
591 Kristol De Stefani

Margherita Lecco (ed.), La visione di Tungdal, Alessandria (Dell’Orso) 1998, 109 p. (Gli Orsatti 3)

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P. W.
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Die Causae 30-36 (7-165) befassen sich ausschließlich mit Fragen des Eherechts. Sie bilden also im zweiten Teil von Gratians «œuvre» eine Einheit und werden von L. Löfstedt hier auch sinnvollerweise in einem Editionsband zusammengefaßt. Besondere Bedeutung kommt der Causa 33 (49-138) zu, weil hier die dritte in sieben distinctiones unterteilte quaestio zu einer umfangreichen, nahezu eigenständigen Abhandlung über das Thema der Buße wird (57-131). Es ist anzunehmen, daß Gratian diesen Abschnitt schon früher zum Gebrauch in Kollegien ausgearbeitet und ihn später der Sammlung über das gesamte Kirchenrecht einverleibt hat. - Der dritte in fünf distinctiones untergliederte Teil des Werkes De Consecratione (165-224) handelt über kirchliche Orte, über Kirchenfeste, über die Sakramente der Eucharistie, der Taufe und der Firmung sowie über das Fasten. Bemerkenswert sind hier vor allem zwei Fakten: Zum einen weist distinctio 2 (177s.) eine Textlücke bis «c 13» auf; mit der Editorin kann man vermuten, daß diese «lacunes peuvent être attribuées au traducteur qui veut éviter, dans ce texte vernaculaire, toute discussion sur des questions théologiques» (3). Und zum anderen ist evident, «que le texte de De consecratione est fragmentaire et que la fin, trop abrupte, semble tronquée» (3); die Gründe hierfür dürften schwer zu ermitteln sein. L. Löfstedt hat auch in diesem vierten Band der Edition - wie in den vorangehenden Bänden - den altfranzösischen Text mit größter Sorgfalt und, wie ich an zahlreichen ausgewählten Beispielen überprüft habe, korrekt transkribiert und in wenigen (im kritischen Apparat angezeigten) Fällen Textkorrekturen in überzeugender Weise durchgeführt. Es liegt nun nach dem Erscheinen dieses vierten Bandes die «editio princeps» der gesamten altfranzösischen Version des Gratiani Decretum vor. Man kann der Editorin nur ein höchstes Kompliment aussprechen; in einem Zeitraum von nur fünf Jahren hat sie in gekonnter Form eine Textedition in einem Umfang von 988 Seiten vorgelegt. Fleißiger, schneller und überzeugender geht es nicht. Und die Fachwelt sieht jetzt erwartungsvoll der für das Jahr 2000 angekündigten Veröffentlichung des fünften und letzten Bandes entgegen, der «un commentaire qui situera la traduction française du Décret dans la tradition (latine) du Decretum Gratiani» (3) enthalten soll und der «expliquera la langue du Décret et le comparera avec la littérature française de l’époque» (3). Dann wird die Edition ein einheitliches Ganzes bilden. Wünschenswerter wäre es natürlich gewesen, wie ich auch in meiner angeführten Rezension seinerzeit schon zum Ausdruck brachte, diesen nun noch zu erwartenden Band als ersten vorlegt bekommen zu haben. Aber man kann nicht alles erwarten. A. Arens H Margherita Lecco (ed.), La visione di Tungdal, Alessandria (Dell’Orso) 1998, 109 p. (Gli Orsatti 3) Fast gleichzeitig mit dem zweiten Band der Reihe Gli Orsatti 1 ist auch der dritte Band erschienen, der den altfranzösischen Versionen der Visio Tungdali gewidmet ist und von Margherita Lecco bearbeitet wurde. Verf. publiziert hier zwei der erhaltenen drei altfranzösischen Versionen des 13. Jh.s, den Prosatext der Handschrift L und die fragmentarische Versversion von D. Beide Texte sind von einer Übersetzung ins Italienische begleitet. Die Ausgabe beginnt mit einer relativ kurzen, aber sehr substantiellen Introduzione (5- 27), in der der Text zuerst einmal in die Tradtion der Visiones animarum eingebettet wird. 324 Besprechungen - Comptes rendus 1 Cf. die Besprechung in diesem Band von VRom. von G. C. Belletti, Rolando a Saragozza, Alessandria 1998; dort auch allgemein zur Gestaltung der Reihe. Es handelt sich hierbei um eine klerikale Textsorte, in deren Exemplaren über Jenseitsvisionen oder (seltener) Jenseitsreisen (Hölle, Himmel) mit didaktischer und/ oder erbaulicher Zielsetzung berichtet wird, die aber in der Regel auch eine starke narrative Komponente aufweisen. In diesen Werken fließen verschiedene Traditionen zusammen: die antike der Reise in die Unterwelt (z. B. die Aeneis), die jüdisch-christliche Traditon der Apokalypse und die keltische Tradition der Reise in eine andere Welt. Etwas überraschend ist, daß trotz der soliden bibliographischen Information die jüdisch-christlich-arabische Tradition des Miradj in diesem Zusammenhang nicht erwähnt wird, obwohl sie dann im Zusammenhang mit der Quellenfrage von Dantes Divina Commedia doch unvermittelt auftaucht (27 N32). Hauptmotor für die mittelalterliche Tradition scheint die Apokalypse des Paulus (3. Jh.) zu sein, die dann erste Reflexe in den Dialogen des Papstes Gregor und der Vision des Abtes Sunniuls zeitigt. Im 7./ 8. Jh. werden die Visiones animarum häufiger, und im 11./ 12. Jh. erreicht die Gattung mit Texten wie dem Purgatoire de Saint Patrick und der Visio Tundgali ihre höchste Blüte, um anschließend langsam abzusterben. Von der Hochblüte zeugen zahlreiche Handschriften, Versionen und Übersetzungen der einschlägigen Texte. Das Schema der Texte ist relativ konstant: Ein Sterblicher besucht im Traum, aufgrund eines mystischen Erlebnisses oder als Scheintoter in Begleitung eines Engels, eines Heiligen oder eines sonst irgendwie Auserwählten das Jenseits (Himmel, Hölle, manchmal auch Fegefeuer). Nach seiner Rückkehr ins Diesseits bereut er sein bisheriges Leben, tut Buße und berichtet seinen Mitmenschen von seinen Erlebnissen 2 . Verf. stützt sich bei ihrer Analyse v. a. auf Propp, zieht dann aber auch noch Segre 1990 heran, der mir für die spezifischen Gegebenheiten des Textkorpus bedeutend besser geeignet zu sein scheint. - Die Texte sind auch mentalitätsgeschichtlich von Bedeutung, denn die Jenseitsdarstellungen können als extrem überformte Spiegelbilder des Diesseits gelten. Daneben enthalten sie allerdings auch topische Elemente, die die Wiedererkennbarkeit garantieren sollen. Politisch-ideologisch fundiert ist die Verurteilung des schlechten Menschen und v. a. des schlechten Herrschers. - Dieser Teil der Einleitung überzeugt durch seinen exzellenten Informationsstand und seine Ausgewogenheit, und das Gleiche gilt auch für den Vergleich mit den Heiligenleben, die einen ähnlichen Erwartungshorizont aufweisen und ebenfalls zu den récits brefs gehören. Weniger einsichtig ist, warum Verf. bei der Frage, ob die Visiones animarum eine eigene Gattung darstellten, auf Distanz geht mit dem Argument, es handele sich doch um die Variationen eines kanonischen Modells. Gerade dies ist doch typisch mittelalterlich und spricht eher für als gegen den Gattungsstatus. Die Visio Tungdali beruht auf einem lat. Text, der in der Regel auf 1149 datiert und einem gewissen Marcus zugeschrieben wird. Daneben ist aber auch eine Urheberschaft von Honorius Augustodunensis (1180-57), dem Verfasser des Elucidarium, in Betracht gezogen worden - allerdings ohne durchschlagende Argumente. Neben den 54 lat. Handschriften gibt es Übersetzungen in 15 Vulgärsprachen: Deutsch, Niederländisch, Italienisch, Katalanisch, Spanisch, Portugiesisch, Englisch, Isländisch, Schwedisch, Russisch, Irisch, usw., und v. a. Französisch und Okzitanisch (Prosa und Verse, 13.-15. Jh.). Die ältesten französischen Fassungen stammen aus dem 13. Jh., und zwar handelt es sich um zwei Prosaversionen und ein Versfragment; die Prosaversion L (London, BM add. 9771) kann dem Nordosten zugewiesen werden, die Prosaversion P (Paris, BN fr. 763) dem Südosten; das Versfragment D (Dublin, Trinity College 312) ist anglonormannisch. Wie bereits erwähnt, werden hier L und D wiedergegeben. P wird nicht berücksichtigt, weil es in vielerlei Hinsicht als verkürzte Fassung von L gelten kann. Die Vision von Tungdal führt durch fünf «Räume»: eine untere und eine obere Hölle, zwei mittlere Bereiche (≈ Purgatorium) und das Paradies. Diese Gliederung weicht von der 325 Besprechungen - Comptes rendus 2 Dieses Muster ist auch dasjenige der Eschiele Mahomet, cf. Wunderli 1965, 1968. Vierteilung Augustins ab und ist nach Le Goff als «ungeschickt» zu betrachten. Die Reise ist gewissermaßen zweigeteilt: Sie beginnt mit einem Abstieg bis zum tiefsten Punkt der Hölle (Vision von Lucifer) und geht dann in einen Aufstieg über (mittlerer Bereich → Paradies). Eingerahmt ist dieser Kern von einem kurzen Prolog und einem ebensolchen Epilog. Besonders ausführlich und farbig fällt die Darstellung der Hölle aus, was typisch für die Gattung zu sein scheint und sich auch in der Eschiele Mahomet wiederfindet. In der Divina Commedia haben wir zwar umfangmäßig ein Gleichgewicht zwischen den drei Bereichen, von der Farbigkeit, der Vielfalt der Episoden und der Dramatik her hat aber auch hier das Inferno ein deutliches Übergewicht. Die beiden hier publizierten Texte (L und D) wurden schon 1907 von Friedel/ Meyer zusammen mit anderen Versionen veröffentlicht 3 . Die Fassung von L folgt der lateinischen Vorlage von Marcus (Ms. G) relativ getreu, weist aber in der Einleitung und in den Dialogen zwischen Tungdal und dem Engel zahlreiche Kürzungen auf. Das Fragment D umfaßt 364 Verse (etwa die Hälfte des Textes) und ist in vielerlei Hinsicht, v. a. auch was die Versabfolge angeht, korrumpiert 4 . Lecco verzichtet - anders als Friedel/ Meyer - darauf, in die Versabfolge einzugreifen, da diese Veränderungen meist nicht schlüssig zu begründen sind. Auch sonst ist die Herausgeberin mit Korrekturen äußerst sparsam und beschränkt sich auf geringfügige Modifikationen bezüglich Genus, Numerus und offensichtliche Verlesungen; die Eingriffe werden immer in einer Fußnote dokumentiert. - Der Text von L umfaßt die Seiten 34-77, derjenige von D die Seiten 78-101, wobei die rechte Seite immer von der italienischen Übersetzung eingenommen wird. Der Band schließt mit einer kurzen, aber alles wesentliche enthaltenden Bibliographie (103-07). Die Texte machen einen guten und soliden Eindruck; leider ist aber eine Kontrolle der Editionsarbeit ohne größeren Aufwand nicht möglich, denn es werden keine Manuskriptseiten reproduziert. Allerdings ergeben sich auch ohne die Vorlagen (bzw. Ausschnitte aus denselben) einige Kritikpunkte. An erster Stelle wären einige Aspekte prinzipieller Natur zu nennen, die alle darauf hinauslaufen, daß die leserfreundlichen, den linguistischen Wert der Dokumente jedoch nicht beeinflussenden Eingriffe zu gering ausgefallen und auch inkohärent sind 5 : 1. Die Worttrennung scheint zwar nach modernen Kriterien zu erfolgen, hinsichtlich der Absatzgliederung behält die Herausgeberin aber die Struktur des Manuskripts bei; die Übersetzung allerdings weist eine moderne und sinnvolle Absatzstruktur auf. 2. i/ j werden nach modernen Prinzipien (und mit Sicherheit abweichend vom Ms.) verwendet, bezüglich u/ v dagegen scheint Verf. den Gebrauch der Handschriften beizubehalten. Diese unterschiedliche Behandlung der beiden Paare ist schwer verständlich. 3. Es werden keine Akzente (Akut, Trema) gesetzt, und auch ç wird nicht genutzt, wo es der moderne Usus erfordern würde. Ebenso fehlen Bindestriche. Exemplarisch habe ich die ersten vier Seiten der Übersetzung kontrolliert. Sie liest sich sehr gut und flüssig, ist aber bei genauerem Zusehen manchmal unnötig frei, manchmal auch überinterpretierend. Hier nur einige Beispiele: - 36/ 37 ist chaitive ame einmal mit anima cattiva , einmal mit anima malvagia übersetzt; warum diese wertenden Adjektive, und nicht einfach povera? - 38/ 39 si mist grant entente a regarder si mise attonita ad ammirarla : entente ist Aufmerksamkeit und hat mit attonito nicht im entferntesten etwas zu tun; regarder ist bei weitem nicht ammirare. 326 Besprechungen - Comptes rendus 3 Cf. V. H. Friedel/ K. Meyer (ed.), La vision de Tondale (Tungdal). Textes français, anglo-normand et irlandais, Paris 1907. 4 Cf. hierzu auch P. Meyer, R 36 (1907): 335s. 5 Unerfreulich auch, daß D zwar eine Versnumerierung gespendet bekam, dem Text von L aber eine Zeilennumerierung vorenthalten blieb. - 38/ 39 Vois tu celui la par qui tu as fait ce que tu faisoies Guarda colui per colpa del quale tu hai commesso i peccati compiuti : Warum wird die Frage vois-tu durch einen Imperativ (guarda) ersetzt? Und wozu die interpretatorische Präzisierung von ce que tu faisoies durch i peccati compiuti? - 38/ 39 fisent grans plaies arrecandosi gran male : Verlust an Präzision. - 38/ 39 et se departirent finché se ne andarono : Es gibt keinen Grund et durch eine temporal-finale Konjunktion zu ersetzen. - 40/ 41 . . . nulle clarte n’auoient fors de l’aingle . . . senza aver altra luce se non quella che emanava dall’angelo : Wozu die Ergänzung von emanere? - 40/ 41 molt espoentable wird einfach durch orribile wiedergegeben, molt parfonde dagegen unmotiviert in tremendamente profonda verstärkt. - 40/ 41 grevoit a l’ame soffocante per l anima : grever wäre schlicht mit pesare wiederzugeben. 40/ 41 de nouvel torment ist nicht rinnovata tortura , sondern nuova/ altra tortura . - 40/ 41 mourdre (meurtre) ist mit delitto nicht hinreichend präzis wiedergegeben. 40/ 41 montagne . . . anguesseuse montagna . . . penosa ist inadäquat; angemessen wäre spaventosa. - Usw. Die Edition von Margherita Lecco ist im großen und ganzen solide, und es ist v.a. erfreulich, daß die altfranzösische Version der Visio Tungdali nun in einer bezahlbaren Ausgabe zugänglich ist. Für die Übersetzung gilt leider, was man von den meisten Übersetzungen mittelalterlicher Texte sagen muß: Sie ist mit großer Vorsicht zu genießen! P. W. H Nils-Olof Jönsson (ed.), La Vie de Saint Germer et la Vie de Saint Josse de Pierre de Beauvais. Deux poèmes du xiii e siècle, publiés avec introduction, notes et glossaire, Lund (University Press) 1997, 207 p. (Etudes Romanes de Lund 56) Die hier anzuzeigende Arbeit, eine im April 1997 von der Philosophischen Fakultät der Universität Lund angenommene Dissertation, bietet die textkritische und kommentierte Edition der Viten von zwei Lokalheiligen der Region des Beauvaisis, nämlich des hl. Geremarus sowie des hl. Jodocus. Die 874 bzw. 820 Achtsilbner zählenden und auf den Anfang des 13. Jahrhunderts zu datierenden Texte, die in der «koiné littéraire de l’époque, teintée de certains traits picards» (81) geschrieben sind, stammen aus der Feder von Pierre de Beauvais. Pierre de Beauvais, der als altfranzösischer Dichter erst 1851 von Ch. Cahier entdeckt wurde (14), hat insgesamt 12 Werke hinterlassen, darunter neben den beiden hier edierten Heiligenviten drei weitere hagiographische Texte 1 . Über Pierre besitzen wir nur äußerst spärliche Informationen, und diese sind ausschließlich seinen Dichtungen zu entnehmen: Wir wissen lediglich, daß er Ende des 12./ Anfang des 13. Jahrhunderts in der Region des Beauvaisis lebte und zeitweilig einen Förderer in Philippe de Dreux fand, der von 1175 bis 1217 Bischof von Beauvais war. Dieses Faktum ist auch der Grund dafür, daß Gaston Paris 1892 Pierre de Beauvais den seitdem gültigen Dichternamen gab (14). Alle Werke Pierres sind in nur einer einzigen auf die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datierenden Handschrift überliefert, dem sogenannten Grand Recueil La Clayette, der 327 Besprechungen - Comptes rendus 1 Es sind dies: La Vie de Saint Eustache und Les trois Maries (jeweils in Achtsilbnern gehalten) sowie das Prosawerk La Translation et les Miracles de Saint Jacques.