Vox Romanica
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Kristol De StefaniDie Etymologie von fr. trouver und die bündnerromanischen Reflexe von TROPUS und TROPARE
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Ricarda Liver
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Die Etymologie von fr. trouver und die bündnerromanischen Reflexe von TROPUS und TROPARE 1. Einleitung «Wer sucht, der findet», sagt ein in vielen Sprachen und über verschiedene Epochen verbreitetes Sprichwort. In der Diskussion über die Etymologie von fr. trouver hat es sich nicht unbedingt als wahr erwiesen. Ob da einer der zahlreichen Teilnehmer an der Diskussion wirklich fündig geworden ist, scheint mir eher fraglich. Die folgenden Überlegungen gelten in erster Linie der Frage, ob die Verhältnisse im Bündnerromanischen etwas zur Lösung der alten Streitfrage beitragen können. Um es vorwegzunehmen: Ich denke, sie werfen mindestens soviel neue Probleme auf, als sie alte erhellen könnten. Jakob Jud war anderer Meinung. In seiner Rezension von K. Heisig, «Zur Bedeutungsentwicklung von fr. trouver», RJb. 1 (1949): 78-86, schreibt er: «Mir scheint, daß bei [der] Skizzierung der Geschichte von *tropare die rätoromanischen Formen zu kurz gekommen sind» (Jud 1950: 251). Ohne es explizit zu sagen, hatte Jud auch schon in seinem Nachruf auf Antoine Thomas (Jud 1936: 219) das Rätoromanische im Sinn, als er sagte: « . . . après un nouvel examen du problème, je crois de plus en plus que, pour le français trouver, il faudra revenir sur le tropare de Gaston Paris qu’on pourra défendre avec des arguments nouveaux restés inconnus jusqu’ici». 2. Die Verben für «suchen» und «finden» in der Romania Bevor wir uns diesen Argumenten zuwenden, soll kurz die Problematik der bekannten Diskussion über die Etymologie von trouver beleuchtet werden. Die Auseinandersetzung zwischen Hugo Schuchardt und Antoine Thomas ist hinlänglich bekannt und mittlerweile geradezu zu einem Lehrstück der Geschichte der Romanistik geworden 1 . Es werden wohl auch die meisten Forscher darin einig gehen, daß Schuchardts Argumentation in semantischer Hinsicht einiges für sich hat, die These Paris/ Thomas jedoch vom phonetischen Standpunkt aus mehr überzeugt. Was jedoch meiner Meinung nach an der heute vorherrschenden Erklärung, wie sie Wartburg in FEW 13/ 2: 321s. vertreten hat, äußerst fragwürdig bleibt, ist die semantische Rechtfertigung der in lautlicher Hinsicht unanfechtbaren Basis *tropare. 1 Pfister 1980: 54-57 referiert sie zusammenfassend. Weder die Annahme einer primären Bedeutung allegorisch auslegen für das nicht belegte *tropare noch die Priorität von trouver erfinden, erdichten vor trouver finden 2 sind einleuchtend. Argumente für die zweite, apodiktisch vorgetragene Behauptung bleibt Wartburg schuldig. Alle Wahrscheinlichkeit spricht gegen eine Entwicklung, die von einer höchst elitären, auf intellektuelle Tätigkeiten bezogenen Sonderbedeutung (sei diese nun allegorisches Auslegen eines Textes oder erfinden von Melodien oder Versen ) zu einem so allgemeinen und für die tägliche Kommunikation unverzichtbaren Gebrauch wie finden führen sollte 3 . Zudem legt der Blick auf das Gesamtbild, das das Wortfeld «suchen - finden» im Lateinischen und im Romanischen bietet, viel eher eine Anknüpfung an praktischkonkrete denn an intellektuelle Tätigkeiten nahe. Im Lateinischen haben alle Verben für «suchen» und verwandte Tätigkeiten, außer quaerere, dessen Etymologie nicht geklärt ist, etwas mit Jagd oder Fang zu tun: indagare (ursprünglich von Jagdhunden), vestigare, investigare (zu vestigium), captare (Intensivum zu capere), aucupari (avem capere). Allfällige «geistige» Verwendungen sind immer sekundär. Auch die Verben für «finden», invenire und reperire, knüpfen an konkrete Grundbedeutungen an (venire, parere). Die Romania bietet ein ähnliches Bild: Für «suchen» herrschen Fortsetzer des spät belegten circare vor (rum., it., log., gallorom., engad.; cf. REW s. v.), das von den Agrimensoren verwendet wird und wohl auch jagdsprachlich gebräuchlich war. Das span./ port. buscar, dessen Herkunft allerdings nicht endgültig geklärt ist, könnte ebenfalls von einer konkreten Tätigkeit (Holz lesen) herkommen (Corominas s. v.). Der Typus quaerere resp. quaerire lebt in Teilen des Bündnerromanischen, im Dolomitenladinischen und im Friaulischen weiter 4 . Für «finden» kennen zahlreiche Randzonen der Romania den wahrscheinlich ebenfalls ursprünglich jagdsprachlichen Typus afflare (rum., südit., surs., span., port.; cf. REW s. v.). Wartburg hält ihn für älter als *tropare. Auch captare (und adcaptare), das in einem großen Teil Oberitaliens, des Bündnerromanischen, des Dolomitenladinischen und Friaulischen sowie im Sardischen finden bedeutet, gehört in diesen Bereich. It. trovare, das sich durch seine Lautung als Gallizismus erweist, scheint teilweise den Typus captare verdrängt zu haben (wie vermutlich in großen Teilen des Bündnerromanischen dieser den Typus afflare). 118 Ricarda Liver 2 Wartburg in FEW 13/ 2: 322: «Sicher bleibt aber, dass bei *tropare die bed. erfinden, erdichten die ältere ist und dass finden sekundär daraus entstanden ist, im zusammenhang mit dem endgültigen absterben von invenire». 3 Seinen Zweifel an einer solchen Bedeutungsentwicklung drückt auch Rohlfs 1968: 72 N155 aus. 4 Cf. Gartner 1883: 5; DRG 5: 606 s. encurir. 3. Der Vorschlag von A LESSIO 1976 zur Etymologie von trouver Auf dem dargestellten Hintergrund verdient der Vorschlag von G. Alessio (Alessio 1976: 421s.) Beachtung. Alessio geht wie Wartburg von einer Basis tropare aus, aber nicht von einem Verb der intellektuellen Betätigung, sondern von der Latinisierung eines regionalgriechischen τρ π ω , das wie τρ πω zunächst wenden , dann in die Flucht schlagen bedeutet.Alessio vermutet eine Verbreitung des Gräzismus von Marseille aus, ähnlich wie im Fall von alare aller , das er von gr. λ μαι vado errando, vago, erro ableitet (Alessio 1976: 422). Ferner macht er darauf aufmerksam, daß auch circare, die Basis von fr. chercher, it. cercare etc., eine Lehnübersetzung von gr. κυκλ ω sei. tropare wäre allerdings nicht eine Lehnübersetzung, sondern eine Entlehnung. Die Plausibilität dieses Ansatzes müßte von Seiten des Spätgriechischen und unter dem Gesichtspunkt von dessen Einfluß auf das Spätlatein her überprüft werden. Leider ist das Wörterbuch des mittelalterlichen Griechischen von E. Kriaras noch nicht beim Buchstaben τ angelangt. Immerhin erlauben die spätlateinischen Gräzismen, die auf den Stamm τρεπ -, τρ π zurückzuführen sind, und deren romanische Fortsetzer ein paar für die Vorgeschichte von tropare einschlägige Beobachtungen. Nebst dem astronomisch-geographischen tropicus zur Wende, zur Wendung gehörig ist das Abstraktum tropica, -orum Veränderung belegt 5 . Arnaldi verzeichnet für das Adjektiv tropicus die Bedeutung rotundus . Plinius spricht (n. h. 2,43,44) von tropaei venti, den vom Meer nach dem Land zurückkehrenden Winden, sicher in Anlehnung an gr. τρ πα α Wechselwind, Seewind . Daß ein latinisiertes tropaea gleicher Bedeutung im Süden Italiens geläufig war, belegt die massive Präsenz von dialektalen Formen des Typus tropea gran turbine di vento, grandine ecc. , teils auch in der Bedeutung ubbriacatura, sbornia , in den Mundarten Süd- und Mittelitaliens (cf. DEI s. tropea). All diese Zeugnisse belegen eine Präsenz des Stammes τρεπ -, τρ π in Italien, immer in Bedeutungen, die den Inhalt wenden, umkreisen enthalten. Schließlich darf daran erinnert werden, daß eine entsprechende Bedeutungskomponente auch dem neugriechischen Verb für suchen , γυρε ω , zugrunde liegt (cf. γ ρ ς Kreis ). Mir scheint, daß der Vorschlag von Alessio auf diesem Hintergrund und vor allem auf dem einer Gesamtsicht der romanischen Verben für «suchen» und «finden» einiges für sich hat. Daß dieses tropare zunächst suchen und nicht finden bedeutet, ist kein unüberwindliches Hindernis, wenn man in Rechnung stellt, daß es sich hier um eine konverse Antonymie handelt, deren komplementäre Terme vielfach mit ein und demselben Ausdruck (signifiant) benannt werden. Alessio selbst verweist auf kalabr. a χχ iari suchen und finden (von afflare). 119 Französisch trouver und das Bündnerromanische 5 Petron., Sat. 88,2: « . . . pecuniae . . . cupiditas haec tropica instituit». Ehlers übersetzt: Geldgier hat diese Katastrophe herbeigeführt . Ein weiteres Beispiel ist lomb. katá, emil. katér pflücken, ablesen, suchen, finden 6 . 4. Die Verhältnisse im Bündnerromanischen Wie eingangs erwähnt, vertrat J. Jud die Ansicht, die bisher zu wenig beachteten Verhältnisse im Bündnerromanischen könnten einen Beitrag leisten zur Diskussion um die Etymologie von fr. trouver. Ich bin, wie schon angedeutet, in dieser Hinsicht weniger zuversichtlich. Dennoch kann es von Interesse sein, diese Verhältnisse einmal im Zusammenhang darzustellen und zur bisherigen Diskussion in Bezug zu setzen. Drei Themenkreise, deren Zusammenhang zwar gegeben scheint, im Einzelnen jedoch schwierig zu beurteilen ist, spielen hier eine Rolle: 1. die Gesamtsituation des Bündnerromanischen in Bezug auf die Verben für «suchen» und «finden»; 2. die rechtssprachlichen Termini truar, truader, truament; 3. die Redensarten oder Funktionsverbgefüge engad. dar tröv sich vernehmen lassen (aengad. troef Laut ), surs. dar triev Gehör schenken, sich einlassen . Die Verben für «suchen» und «finden» teilen sich im Bündnerromanischen je in zwei Typen, die in ähnlicher Weise im Gesamtgebiet verteilt sind. Für «suchen» sind es die Typen quaerere (resp. *inquaerire) und circare, für «finden» afflare und captare. In beiden Fällen hält das Surselvische bis heute am historisch älteren Typus fest, d. h. für «suchen» an *inquaerire encurir, für «finden» an afflare anflar. In den übrigen Gebieten herrscht für «suchen» der Typus circare (suts. tschartgear neben ancurir, surm. tschartger, put. tschercher, vall. tscherchar), für «finden» captare (suts. catar, surm. cattar, put. chatter, vall. chattar). Der Typus captare ist in der Surselva allerdings auch präsent, aber neben dem vorherrschenden anflar finden eher in festen Fügungen wie cattar ad agur wahrnehmen, erblicken , cattar fom Hunger bekommen etc. (cf. DRG 3: 476-80). Vertreter eines Typus tropare in der Bedeutung finden fehlen in den historisch belegten Sprachstufen 7 . 120 Ricarda Liver 6 Cf. REW s. captare, Cherubini s. cattà. Ein weiteres Beispiel ist das anglo-schweizerische tschegge (engl. to check) der heutigen Jugendsprache, das sowohl registrieren, nachprüfen als auch begreifen, verstehen bedeutet. 7 Im (noch unbearbeiteten) Material des DRG gibt es nur zwei Belege, in denen truar als finden gedeutet werden könnte. Der eine, aus einem Gedicht von Giachen Caspar Muoth, läßt sich leicht an truar beurteilen anschließen: «Tuts ils auters pievels drovan / Ils Grischuns e quels emprovan, / Gests, fidai, duvrabels trovan, / D’emploiar Grischuns sedrovan» (Muoth 1945: 67). Im zweiten Beleg, der durchaus vereinzelt ist, möchte ich eine Anlehnung an italienischen oder französischen Sprachgebrauch vermuten. Es handelt sich um ein Schulbuch, eine Übersetzung aus dem Deutschen: «Pertgei sco sin tiarra setrov’ina differenza denter las causas, aschia observais vus era denter las steillas ina differenza», übersetzt nach: Denn wie auf Erden eine Verschiedenheit ist unter den Dingen, so bemerkt ihr auch an den Sternen eine Verschiedenheit (Cud. instr. 5). Dagegen kennt ganz Romanischbünden ein rechtssprachliches Verb truar richten, verurteilen und dessen Ableitungen truader Richter und truament richterliches Urteil 8 . Die Frage nach dem Stellenwert dieses Verbs, das in lautlicher Hinsicht eine Basis tropare voraussetzt, in der Diskussion um die Etymologie von trouver bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Nach den Untersuchungen von Tuor 1907, Pult 1912, Tuor 1927 besteht weitgehend Konsens in der Annahme, daß ein großer Teil der bündnerromanischen Rechtsterminologie den Einfluß des alten deutschen Rechts auf das Rechtswesen im Alten Rätien belegt. Eine Reihe zentraler juristischer Begriffe, darunter truar, lassen sich als Lehnübersetzungen aus dem Deutschen erklären (cf. Liver 1999: 177s.). Dieser Auffassung schließt sich auch Karl Jaberg in seinem Vortrag «Kultur und Sprache in Romanisch Bünden» von 1921 an (Jaberg 1965: 48ss.). Jud dagegen (Jud 1950: 251) weist diese Interpretation zurück, mit dem Argument, daß truar finden im Bündnerromanischen nirgends belegt sei: « . . . es kann also truar, das hier nirgends finden bedeutet, kein Bedeutungslehnwort sein». Zum besseren Verständnis des Problems muß an dieser Stelle kurz erläutert werden, inwiefern truar eine Lehnübersetzung von dt. finden sein könnte. Pieder Tuor führt in den genannten Studien (Tuor 1907 und Tuor 1927) aus, daß die gesamte Praxis der Rechtsprechung im mittelalterlichen Rätien maßgeblich vom deutschen Recht beeinflußt war. Dieser Einfluß schlägt sich lexikalisch in einer Reihe von Lehnübersetzungen nieder: surs. letg, put. alach, vall. lai Ehe ist materiell das Resultat von lat. legem. Daß diese Lexie für den Begriff Ehe verwendet wurde, beruht auf einer Imitation der Bedeutungsentwicklung von ahd. ewa Sitte, Recht zu Ehe (cf. auch Decurtins 1993/ 1: 181). Der Ausdruck, mit dem die rätoromanischen Statuten oder Dorfordnungen bezeichnet werden, surs. tschentament, engad. tschentamaint, bildet das deutsche Satzung mit romanischem Wortmaterial nach: Das Verb tschentar setzen sedentare ist die Basis der Ableitung. Daß surs. derscher (später derschar) eine Lehnübersetzung von dt. richten ist, hatte schon Ascoli in den «Saggi ladini» erkannt (Ascoli 1873: 94). Tuor 1927 (mit Berufung auf Tuor 1907) präzisiert aus der Sicht des Rechtshistorikers, daß der terminologischen Unterscheidung zwischen derscher/ derschar und truar, die in den modernen Wörterbüchern beide mit richten interpretiert werden, zwei juristisch verschiedene Funktionen entsprachen: derscher bezeichnet die Tätigkeit des derschader Richter , des Präsidenten des Gerichts, der das Urteil verkündet und vollstrecken läßt, truar dagegen diejenige des sogenannten Urteilsfinders, truader, den man, in Analogie zu modernen Verhältnissen, etwa als Untersuchungsrichter bezeichnen könnte. Die truaders hatten die Aufgabe, das Recht zu «finden», die Grundlagen zu liefern für den definitiven Urteilsspruch des Gerichtspräsidenten 9 . 121 Französisch trouver und das Bündnerromanische 8 Wo nichts anderes vermerkt ist, verwende ich in der Folge immer die surselvischen Formen. Für die andern Idiome gelten die jeweiligen lautlichen Abweichungen. 9 Tuor 1927: 17: «truar (encurir, dir siu meini, proponer al derschader quei che s’auda)». Wenn nun Jud argumentiert, truar könne kein Bedeutungslehnwort aus dem Deutschen sein, weil es im Bündnerromanischen nirgends finden bedeute (Jud 1950: 251), kann man die Gegenfrage stellen: Wie kommt es dann in ganz Romanischbünden zur Präsenz dieses Verbs in dieser spezifisch juristischen Bedeutung? Jud hat sich die Frage natürlich auch gestellt. Eine Übernahme eines fränkischen Rechtsausdrucks schließt er - sicher zu Recht - aus, weil trouver «nur selten» (Jud 1950: 251; richtiger wäre: überhaupt nicht, cf. FEW 13: 318ss., T.-L., AW s. v.) in der Bedeutung das Recht finden belegt sei. Seine These ist, daß *tropare aus belegtem contropare auf Grund eines Vergleiches der geltenden Rechtsbestimmungen zur Schätzung des Schadens gelangen entstanden wäre. Er stützt sich dabei auf Baist 1900: 410, der seinerseits das juristische Vergleichen von Urkunden vom Vergleichen von Bibeltexten ableiten möchte. All das wirkt wenig überzeugend und eher an den Haaren herbeigezogen. Für eine Lehnübersetzung aus dt. finden spricht dagegen die Gesamtheit der oben angeführten Rechtsausdrücke. Eine Lehnübersetzung ist jedoch nur möglich, darin hat Jud natürlich Recht, wenn einheimisches Wortmaterial zur Verfügung steht, das dem signifié des entsprechenden Ausdrucks in der Vorbildsprache entspricht. Ich sehe letztlich nur eine Möglichkeit: eine zeitweilige Präsenz von truar finden im Bündnerromanischen, entweder aus fr. trouver entlehnt, das seinerseits schon damals dieselbe allgemeinsprachliche Bedeutung gehabt hätte wie heute, oder - das scheint Jud anzunehmen - als Fortsetzung eines schon lateinisch in diesem Gebiet lebendigen tropare. Dieses historisch nicht direkt belegbare truar könnte eine synonyme Variante neben dem einheimischen aflar, anflar gewesen sein, die jedoch auf längere Sicht nicht dieselbe generelle Bedeutung wie anflar abgedeckt hätte, sondern sich auf die rechtssprachliche Verwendung von Urteil finden spezialisiert hätte, dies nach dem Vorbild von dt. finden. Eine solche zeitweilige Synonymität ist nicht ungewöhnlich. Man denke etwa an die Konkurrenz von basilica und ecclesia in weiten Teilen der Romania, die sich dann regional unterschiedlich zu Gunsten des einen oder des anderen Ausdrucks aufgelöst hat (cf. Aebischer 1968), an die Koexistenz von favellare und parlare im Altitalienischen, etc. Nun gibt es im Bündnerromanischen einen weiteren Faktor, der in die Diskussion einbezogen werden muß: die Formen triev/ tröv in den Funktionsverbgefügen surs. dar triev Gehör schenken, sich einlassen , engad. dar tröv sich vernehmen lassen . Jud deutet an, daß er diesen Zeugnissen eine nicht unwesentliche Bedeutung zumißt. Es wird aber nicht recht klar, wie sich die Beurteilung dieser Formen in Juds Gesamtsicht des Problems einordnet. Zunächst hält Jud fest: « . . . beide sind wohl Postverbalia von einem trovar (mit offenem betontem o), die eine breitere Bedeutung des Verbs voraussetzen» (Jud 1950: 252). Welches wäre denn, so fragt man sich, diese breitere Bedeutung? Etwa finden ? Jud sagt es nicht, und es stünde auch im Widerspruch zu seinen folgenden Ausführungen, die triev/ tröv mit der «graecolateinische[n] Fachsprache der Musik, des Mimus und des joculator» in Zusammenhang bringen. Zudem stellt eine Anmerkung, unmittelbar nach «Postverbalia» eingefügt, die Ableitung von 122 Ricarda Liver einem Verb in Frage: «Man könnte lautlich ebensogut an direkte Nachfolge von lat. tropu(s) denken: Diphthongierung von o vor auslaut. -u». Die Geschichte von triev/ tröv ist nun leider alles andere als durchsichtig, so daß der Beitrag dieser Formen zur Erhellung der Etymologie von trouver sich eher im Bereich des Wunsches als in dem einer einleuchtenden Beweisführung bewegt. Das (noch unbearbeitete) Material des DRG zu diesem Lemma hält zunächst einmal eine Überraschung bereit: Während in der heutigen Umgangssprache sowohl surs. dar triev Gehör schenken, sich einlassen als auch engad. dar/ der tröv Antwort geben, sich vernehmen, sich sehen lassen durchaus geläufig sind, fehlen in der Surselva Belege für triev, die hinter das 19. Jh. zurückgehen, völlig. Im Altengadinischen dagegen (16./ 17. Jh.) ist tröv vielfach belegt, und zwar oft in einer Bedeutung, die eine akustische Äusserung meint. Aus dieser Beleglage (sofern sie nicht nur einem Zufall der Überlieferung zuzuschreiben ist) scheint hervorzugehen, daß engad. tröv älter ist als surs. triev. Da im allgemeinen eher das Surselvische ältere Sprachzustände erhält (was allerdings auch nicht absolut gilt), fragt man sich, ob tröv im Engadin eventuell aus dem Lombardischen stamme, umso mehr, als die Lautung eine solche Herkunft als möglich erscheinen läßt. Sondierungen in diesem Bereich haben jedoch überhaupt keine Resultate ergeben. Ist also das von Jud vorgeschlagene tropus der richtige Ansatz? Eine Stütze für eine solche Basis mit der Bedeutung Ton, Klang könnte man allenfalls in einigen Stellen aus Gedichten von Venantius Fortunatus sehen, wo tropus eindeutig Klang bedeutet: Mulceat atque aures fistula blanda tropis . . . (carm. 12,4) und vor allem carm. 10,54, wo die verbale Fügung tropos reddere widerhallen an br. dar tröv/ triev erinnert: Reddebantque suos pendula saxa tropos. Nur bleibt - wie oft bei diesem Autor an der Schwelle zwischen Spätantike und Mittelalter - fraglich, ob dieser Sprachgebrauch lebendigem Usus entspricht oder ob er eher als gewählt und dichtungssprachlich zu werten sei. Für das zweite spricht, daß diese Verwendung von tropus innerhalb der spätlateinischen Latinität ganz vereinzelt ist, ferner die Tatsache, daß br. tröv/ triev, wenn es denn auf tropus in einer solchen Bedeutung zurückgehen sollte, in der Romania das einzige Relikt davon wäre. Auf dem Hintergrund des erwähnten Vorschlags von Alessio, fr. trouver auf ein tropare mit konkreter Bedeutung ( wenden, sich wenden ) zurückzuführen, kann man sich fragen, ob br. tröv/ triev nicht ebenfalls an die konkrete Grundbedeutung von τρ πσς , Wendung, Richtung , anzuschließen sei. Eine solche Annahme, die eine weniger spezifische Grundbedeutung von tröv/ triev implizieren würde (etwa 123 Französisch trouver und das Bündnerromanische Reaktion ), steht auch im Einklang mit der Geschichte von synonymen oder annähernd synonymen Funktionsverbgefügen, die im Bündnerromanischen die Bedeutung reagieren auf einen Anruf abdecken. Eine erschöpfende Diskussion dieser Geschichte müßte Gegenstand einer eigenen Untersuchung sein. An dieser Stelle sei nur festgehalten, daß die verschiedenen Varietäten des Bündnerromanischen eine ganze Reihe von (quasi-)synonymen Ausdrücken zu engad. dar tröv, surs. dar triev kennen: surs. dar sinzur Antwort geben, sich bemerkbar machen; aus dem Jenseits rufen (von Toten) , älter auch dar sensur (so Carisch 148: antworten, besonders wenn an der Tür geklopft wird ). Diese Fügung entspricht semantisch engad. dar tröv enger als surs. dar triev, das seit den ältesten Belegen (die wie gesagt nur ins 19. Jh. zurückgehen) Gehör schenken, sich einlassen auf etwas, nachgeben, Vorschub leisten bedeutet. Suts. dar sanzur Antwort geben , surm. dar sansour auf ein Zeichen antworten , eng. dar/ der santur Antwort geben (wenn man gerufen worden ist) gehen wohl allesamt auf eine Basis sent-, senszurück, trotz den Bedenken von HR s. sinzur. Bedeutungsgleiches dar suda im Vallader ist nach HR in seiner Herkunft ebenfalls ungeklärt; Salvioni (ID 10: 222) denkt an eine Kreuzung von «*uda deverbale di udir, sposato con santur». All diese Ausdrücke dürften von einer Bedeutung empfinden, wahrnehmen resp. von susbstantivischen Ableitungen davon ausgehen. Daneben finden sich, zum Teil in Synonymdoppelung, zum Teil in Alternanz mit tröv/ triev resp. santur/ suda/ sinzur, Abstrakta wie fei fidem (S) oder ledscha legem (E): S dar ni fei ni triev keinen Laut von sich geben , ni fei ni sinzur kein Laut noch Widerhall (Camathias, Tschespet 13: 57), E Scuol dar suda = dar letscha, Mna dar suda, dar sura, dar ledscha (Material DRG); Peer nu dar ledscha auf eine Frage keine Antwort geben . Nun sagt natürlich die synchronisch festgestellte Bedeutungsaffinität mit den genannten Fügungen nichts aus über die Etymologie von triev/ tröv, die uns hier primär beschäftigt. Untersucht man die ältesten engad. Belege für tröv bei Chiampel und in den geistlichen Dramen des 16. Jahrhunderts, so stellt man zunächst einmal fest, daß tröv hier als frei verwendetes Substantiv begegnet, das auch mit einem Adjektiv oder Possessivum kombiniert werden kann. Die heute allein herrschende feste Fügung dar tröv scheint späteren Datums zu sein. Bemerkenswert ist, daß in 3 der 4 ältesten Belege für tröv eine akustische Bedeutungskomponente ( Laut, Klang ) auszumachen ist. In Chiampel ps. 19,23 heißt es: L’ünna noatt dawoa l’autra Amuossan saimper algk danoew, Schbain lg haun ingiünna uusch nè troew Chia tauntr’ils daints saclautra Eine Nacht nach der andern offenbart immer etwas Neues, obwohl sie keine Stimme noch Laut haben, welche zwischen den Zähnen eingeschlossen sind 10 . 124 Ricarda Liver 10 ZumVerb clutrir cf. DRG 3: 745s. s. clutrer. In der Vulgata, ps. 18,4 entspricht dieser Formulierung: «Non sunt loquelae neque sermones», und in der Version von Luther (Ps. 19,4): «Ohne Sprache und ohne Worte». In der unterengadinischen Bibel von 1815 steht unter Ps. 19,4: «Ingün plæd, ne favella han els». Der Anfang des 149. Psalms bei Chiampel Chiantad a lg Sènger ün laud danoew In la baselgia da ls pruß cun troew Singt dem Herrn ein Lob von neuem, in der Gemeinschaft der Frommen mit Schall’ findet in Bezug auf tröv in der Vulgata, bei Luther und in der Bibel von 1815 keine direkte Entsprechung. Aber die Bedeutung Schall, Klang ergibt sich aus dem Zusammenhang. Im geistlichen Drama Las desch eteds von Gebhard Stuppan reimt tröv, wie in den zitierten Stellen aus Chiampel, ebenfalls mit danöv 11 , hier in der Graphie nuff/ truff: chy uaa ilg infiern, aquel mae nun tuorna par fer pantintzgia da bel nuff, Sco ailg arick um cun Abraham ilg infiern fet seys truff Wer in die Hölle geht, der kehrt nie zurück, um von neuem Buße zu tun, so wie der reiche Mann in der Hölle Abraham anrief . Jud vermutet im Glossar seiner Ausgabe des Textes (AnSR 19: 263) eine Bedeutung Laut, Klage . Ruf ist wohl treffender, wenn man an die zugrundeliegende Evangelienstelle (Luc. 16,24) denkt. Jedenfalls belegt auch dieses Beispiel eine akustische Bedeutung von tröv. Schwieriger ist der letzte der vier ältesten Belege für tröv zu deuten. Er stammt aus dem Filg pertz von Gian Travers: A perder daners ho’l pitschen troefs, Inguel scho ch’el els haues arubos. (Dec. 5: 76, V. 1197) Da auch hier ein Reim auf da noef (V. 1196) vorliegt, muß es wohl richtig troef heißen. Die deutsche Vorlage, der Acolastus von Georg Binder, hat folgenden Wortlaut: Sin gaelt ist jm so gar vnmaer, Glych sam ers allsamt gstollen hett. Mhd./ frühnhd. unmaer bedeutet unwert, gleichgültig , so daß der Sinn des engad. Textes ungefähr sein dürfte: Er kümmert sich wenig darum, ob er sein Geld ver- 125 Französisch trouver und das Bündnerromanische 11 Stereotype Reimpaare sind in den engad. Texten des 16. Jahrhunderts häufig; cf. Liver 1997: 60s. liert . Sicher hat hier troef nicht die in den vorher diskutierten Belegen festgestellte akustische Bedeutung; es scheint eher ein Abstraktum, etwa Sorgfalt , vorzuliegen, eine Verwendung, die schwer mit den sonst belegten Bedeutungen des Wortes zu vereinbaren ist. 5. Bilanz Nach der Sichtung des bündnerromanischen Materials mutmaßlicher Fortsetzer von tropare und tropus fragt man sich, ob der vorliegende Befund tatsächlich neue Erkenntnisse zur Geschichte von fr. trouver bringe. Die Antwort ist: leider nein. Das einzige, was mit einiger Sicherheit festgehalten werden kann, ist die Präsenz eines Stammes tropauch in bündnerromanischem Gebiet. Im einzelnen bleiben jedoch lauter offene Fragen: Ist die Basis für die mutmaßliche Lehnübersetzung truar richten (und deren Ableitungen) ein innerhalb Graubündens entwickeltes truar finden *tropare oder handelt es sich um eine Entlehnung aus dem Galloromanischen 12 ? Ist das Substantiv tröv/ triev ein Deverbale dieses truar oder eine direkte Fortsetzung von lat. tropus in einer Bedeutung Laut, Ton ? Die Semantik der ältesten Beispiele scheint für das zweite zu sprechen, aber die Beleglage ist doch zu schmal, als daß man zu sicheren Ergebnissen kommen könnte. Auch ist eine in der allgemeinen Sprache wirksame Vitalität eines lat. tropus Laut mehr als zweifelhaft. Weder die Geschichte von truar noch diejenige von tröv/ triev, die beide weitgehend im Dunkeln bleiben, tragen etwas zur Erhellung der Etymologie von fr. trouver bei. Die durch Wartburg sanktionierte Herleitung von trouver aus einer primären Bedeutung allegorisch auslegen bleibt nach wie vor hypothetisch und m. E. wenig überzeugend. Der Vorschlag von Alessio (cf. oben 3) hat in semantischer Hinsicht einiges für sich, aber er müßte durch Belege der griechisch-lateinischen Spätantike untermauert werden, damit er die traditionelle Erklärung auf überzeugende Weise ersetzen könnte. Solche Belege sind leider nicht aufzufinden. Das ist alles ziemlich enttäuschend. Es schien mir aber dennoch wichtig, das Problem einmal ausführlich darzustellen und die zu wenig begründeten Hoffnungen auf eine Lösung der Frage mit Hilfe der Verhältnisse im Bündnerromanischen zurückzuweisen 13 . Bern Ricarda Liver 126 Ricarda Liver 12 Eine Herleitung aus dem Germanischen (etwa vom Stamm von dt. trauen, treu) ist aus semantischen Gründen wenig wahrscheinlich. 13 Den Kollegen Max Pfister, Johannes Kramer, Peter Stotz, Felix Giger und Kuno Widmer, die mir bei diesen Recherchen mit Auskünften und Diskussionen geholfen haben, möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. Bibliographie Aebischer, P. 1968: «Basilica, eclesia, ecclesia. Étude de stratigraphie linguistique», in: id., Linguistique Romane et histoire religieuse, Barcelone: 260-315 Alessio, G. 1976: Lexicon etymologicum. Supplemento di dizionari etimologici latini e romanzi, Napoli Arnaldi = F. Arnaldi/ P. 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