Vox Romanica
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0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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2001
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Kristol De StefaniAndreas Blank, Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen (Niemeyer) 1997, 533 p. (Beih.ZRPh. 285)
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G. Hilty
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primär temporal genutzten futur antérieur. Bei einer solchen Deutung läge eindeutig eine metonymische und keine metaphorische Umdeutung vor. Daniel Véronique, «L’émergence de catégories grammaticales dans les langues créoles: grammaticalisation et réanalyse», korreliert sozusagen Kreolisierung und Grammatikalisierung. Expliziert wird dies an den schon prototypischen Bereichen für solche Untersuchungen, nämlich der Entwicklung aspektueller, temporaler und modaler prädikativer Marker einiger fr. Kreolsprachen, wie z. B. te/ ti être/ été (a), pu pour/ être pour und alé/ va aller/ va, die Nachzeitigkeit/ Futur ausdrücken, sowie der modalen Auxiliarien. Insgesamt gesehen darf der Sammelband als geglückt angesehen werden. Er liefert keineswegs nur eine Buchbindereinheit divergierender Kongreßbeiträge, sondern kann als fundierter Überblick zu den Bereichen Reanalyse und Grammatikalisierung gesehen werden, der zudem noch zahlreiche Einzelanwendungen auf romanische Sprachen liefert, die das Erklärungspotential der beiden Verfahren illustrieren. So ist ein Band entstanden, der zur Diskussion einlädt. Die Herausgeber sind für ihre Entscheidung, die Tagungsbeiträge in dieser Weise zu bündeln, zu beglückwünschen. Edeltraud Werner ★ Andreas Blank, Prinzipien des lexikalischen Bedeutungswandels am Beispiel der romanischen Sprachen, Tübingen (Niemeyer) 1997, 533 p. (Beih.ZRPh. 285) Die hier anzuzeigende Publikation halte ich für das wichtigste Buch, das in den letzten zehn Jahren über Probleme der lexikalischen Semantik veröffentlicht worden ist. In dieses positive Urteil mischt sich tiefe Trauer. Andreas Blank ist im Januar 2001 einer heimtückischen Krankheit erlegen. So wird die Habilitationsschrift über den Bedeutungswandel der letzte grosse Forschungsbeitrag dieses hochbegabten Romanisten und Linguisten bleiben. Das Werk ist sehr breit angelegt. In einem Wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick (7-46) zeichnet der Verfasser in klaren Strichen die Versuche nach, den Bedeutungswandel zu beschreiben und zu deuten. Die Darstellung reicht von Cicero bis Stephen Ullmann. Dessen 1962 in erster Auflage erschienenes Buch Semantics. An Introduction to the Science of Meaning (2. Auflage 1964) betrachtet Blank gewissermassen als state-of-the-art der Theorie des Bedeutungswandels, als umfassenden Entwurf, der Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen zum Bedeutungswandel sein müsse und auch von jenen Forschern als solcher betrachtet worden sei, die Ullmann seither kritisiert haben, nicht ohne ihm im übrigen Anerkennung zu zollen. Auf die historische Einleitung folgt ein Kapitel zum Problem der Bedeutung (47-102), auf das ich im zweiten Teil dieser Besprechung eingehen werde. Die zwei Kapitel Wesen und Prozess des Bedeutungswandels (103-30) und Psychologische Grundlagen des Bedeutungswandels (131-56) leiten über zum fünften Kapitel, in dem auf fast 200 Seiten Die Verfahren des Bedeutungswandels untersucht werden (157-344). Nach Blank beruhen alle Formen des Bedeutungswandels auf bestimmten gedanklichen Assoziationen. Grundlagen für diese sind Similarität, Kontrast und Kontiguität. Die Similarität kann aussersprachlich oder sprachlich sein, und wenn sprachlich, dann inhaltlich oder formal. Der Kontrast kann aussersprachlich oder sprachlich-inhaltlich sein. Die Kontiguität schliesslich ist aussersprachlich oder sprachlich-syntagmatisch. Aus diesen verschiedenen Möglichkeiten ergeben sich für Blank 13 zu belegende Verfahren des Bedeutungswandels. Ich liste diese Verfahren im folgenden auf und illustriere jedes Verfahren mit einem der zitierten Beispiele. 252 Besprechungen - Comptes rendus 1. Metapher lt. pensare (mit einer Waage) wiegen > fr. penser, it. pensare, sp. pensar nachdenken Grundlage: aussersprachliche Similarität 2. Bedeutungserweiterung vlt.*adripare am Ufer ankommen > fr. arriver ankommen 3. Bedeutungsverengung lt. necare töten > fr. noyer ertränken 4. Kohyponymische Übertragung spätlt. talpus Maulwurf > it. topo, camp. topi Maus Grundlage für 2 - 4: primär aussersprachliche Similarität, sekundär zum Teil verstärkt durch Similaritätsrelationen zwischen Zeicheninhalten 5. Volksetymologie spätlt. nigromantia Totenbeschwörung > afr. nigromance, it. negromanzia, pt. necromancia (schwarze) Magie Grundlage: formale Similarität, meist kombiniert mit aussersprachlicher Kontiguität 6. Antiphrasis afr. oste Gast > Geisel Grundlage: aussersprachliche Kontrastrelation, verbunden mit aussersprachlicher Kontiguität 7. Auto-Antonymie lt. sacer heilig, geheiligt > fr. sacré verflucht Grundlage: aussersprachliche Kontrastrelation, zu der ein sprachlich-inhaltlicher Kontrast tritt, da die gegensätzlichen Konzepte als Antonyme in einem Wortfeld abgebildet werden können 8. Metonymie lt. coxa Hüfte > vlt. Oberschenkel Grundlage: aussersprachliche Kontiguität 9. Auto-Konverse lt. hospes Gastgeber > rom. Gast Grundlage: aussersprachliche Kontiguität 10. Ellipse lt. iecur ficatum mit Feigen gestopfte Leber > vlt. ficatum Leber von mit Feigen gemästeten Tieren Grundlage: sprachlich-syntagmatische Kontiguität 11. Analogischer Bedeutungswandel lt. pedes Fusssoldat > Plebejer Grundlage: aussersprachliche Kontiguität, verbunden mit inhaltlicher Similarität (Übertragung der Polysemie von eques Reiter und Ritter auf pedes) 12. Bedeutungsverstärkung lt. infirmus schwach , schwächlich , euphemistisch krank > rom. (schwer) krank 13. Bedeutungsabschwächung vlt. testa Tonschale , (Hirn)schale > rom. Schädel > fr. Kopf Grundlage für 12 und 13: aussersprachliche und inhaltliche Similarität Diese 13 Verfahren haben natürlich ein ganz verschiedenes Gewicht. Blank hat in einem Anhang alle von ihm im Laufe der Darstellung besprochenen Fälle von Bedeutungswandel tabellarisch zusammengestellt. Es handelt sich in der grossen Mehrzahl um lateinischromanische Wörter. Daneben werden aber auch gewisse indogermanische, deutsche und englische Entwicklungen besprochen. Einige wenige Fälle stammen schliesslich aus dem Altgriechischen, dem Hebräischen, dem Arabischen, dem Russischen, dem Serbokroatischen und dem Niederländischen. Auch wenn diese Wortlisten einen heterogenen Charakter haben, ist die Aufteilung der besprochenen Fälle auf die 13 Verfahrenskategorien doch aufschlussreich. Hier die Zahlen: Metapher: 138, Bedeutungserweiterung: 37, Bedeutungsverengung: 39, kohyponymische 253 Besprechungen - Comptes rendus Übertragung: 24,Volksetymologie: 16,Antiphrasis: 19,Auto-Antonymie: 8, Metonymie: 234, Auto-Konverse: 15, Ellipse: 73, analogischer Bedeutungswandel: 5, Bedeutungsverstärkung: 10, Bedeutungsabschwächung: 21. Das sechste Kapitel (345-405) ist den Motiven des Bedeutungswandels gewidmet. Blank glaubt sechs Hauptmotive erkennen zu können: Versprachlichung eines neuen Konzepts, Abstraktes und «fernliegendes» Konzept, Sozio-kultureller Wandel, Enge konzeptuelle oder sachliche Verbindung, Lexikalische Irregularität, Emotionale Markierung eines Konzepts. Im Hintergrund steht bei all diesen Motiven (und zahlreichen Untertypen) «das fundamentale Streben der Sprecher nach möglichst effizienter Kommunikation» (405). In einem weiteren Kapitel, das den Titel trägt Die Folgen des Bedeutungswandels (406- 38), geht Blank von der Tatsache aus, dass der Bedeutungswandel häufig polyseme Zeichen schafft. Dies führt den Autor zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit den Problemen der Polysemie, der Homonymie und der Kontextvarianz. Im Rahmen dieser Diskussion wird auch darauf hingewiesen, dass polyseme Zeichen, die durch Bedeutungswandel entstanden sind, vielfach ihre Polysemie dadurch wieder verlieren, dass das Resultat des innovativen Wandels die alte Bedeutung zum Absterben bringt oder sich von ihr so stark differenziert, dass Polysemie durch Homonymie abgelöst wird. Ein kurzes Schlusskapitel (439-52) bietet eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie einen letzten Abschnitt, der mit Ausblick und generelle Schlussfolgerungen überschrieben ist. Ich habe eingangs gesagt, dass ich die Habilitationsschrift von A. Blank für das wichtigste Buch halte, das in den letzten zehn Jahren über Probleme der lexikalischen Semantik veröffentlicht worden ist. Das Buch ist ungeheuer reich. Man staunt bei seiner Lektüre, ein wie umfangreiches Material verarbeitet worden ist. Das Literaturverzeichnis umfasst nicht umsonst 26 Seiten. Dabei ist nicht nur die Materialfülle erstaunlich, sondern auch die kluge und scharfsinnige Durchdringung des Materials. Bei der Behandlung einzelner Probleme mag man anderer Ansicht sein und gelegentlich auch eine Auseinandersetzung mit Lösungen vermissen, die von anderen Forschern vorgeschlagen worden sind. Ich halte es jedoch nicht für sinnvoll, eine umfangreiche Liste solcher Fälle hier folgen zu lassen. Ich verzichte auch darauf, das gute Dutzend Druckfehler aufzulisten, die mir bei der Lektüre aufgefallen sind. Bevor ich mich - wie angekündigt - zu einigen Grundfragen des zweiten Kapitels äussere, mache ich nur einige wenige Bemerkungen, gewissermassen aus «helvetischer» Sicht. Von Karl Jaberg wird nur die - noch recht traditionelle - Dissertation Pejorative Bedeutungsentwicklung im Französischen erwähnt und verwendet. Mindestens an zwei Stellen von Blanks Buch denkt man unwillkürlich an spätere, viel bedeutendere und in manchen Aspekten bis heute nicht überholte Studien des grossen Berner Romanisten. Der Abschnitt 2.1. des dritten Kapitels von Blanks Buch (114-16) ist überschrieben mit Bedeutungswandel, Raumnormen und Sprechergruppen. Darin wird von Matteo Bartolis «Raumnormen» gesprochen und dann gesagt: «Hinsichtlich des Lexikons überwiegt bei Bartoli, wie generell in der Sprachgeographie, die onomasiologische Betrachtungsweise . . . d. h. die Frage nach dem Wandel von Bezeichnungen für Konzepte. Schwieriger ist die semasiologische Herangehensweise, doch erfährt man durch sie, dass die gleichen Signifiants oft unterschiedliche Bedeutungen angenommen haben» (115). Im Kapitel Aires sémantiques von Jabergs grundlegender Darstellung der Aspects géographiques du langage (1936) hätte Blank eine reiche Illustration zur «semasiologischen Herangehensweise» finden können, verbunden mit klugen theoretischen Ausführungen. Im Abschnitt 4.2.2. des fünften Kapitels (238s.) wird die Bedeutungsentwicklung von lat. coxa Hüfte > (Ober-)Schenkel besprochen. Dazu kann man in Jabergs immer noch sehr 254 Besprechungen - Comptes rendus lesenswertem Aufsatz von 1917 über «Sprache als Äusserung und Sprache als Mitteilung. Grundfragen der Onomasiologie» (abgedruckt in RH 6: 137-85; cf. vor allem p. 162) treffliche Bemerkungen finden. Wenn schon von diesem Fall die Rede ist, noch eine Bemerkung. Blank schreibt zum erwähnten Bedeutungswandel: «Die vlt. Bedeutung Oberschenkel hat sich in der Spätantike aus Hüfte entwickelt. Wahrscheinlich dürfte die Polysemie von vlt. coxa Hüfte und Oberschenkel aufgrund der Gefahr von Missverständnissen nicht sehr lange bestanden haben. In fast allen romanischen Sprachen jedenfalls haben die Nachfolger von lt. coxa die Bedeutung Oberschenkel bewahrt und die ältere Bedeutung Hüfte aufgegeben» (238). In einer Fussnote wird hinzugefügt: «Im Bündnerromanischen scheint die Polysemie noch zu bestehen.» Für diese Feststellung beruft sich Blank auf die Wörterbücher von Bezzola/ Tönjachen (Chur 1976) und Pallioppi (Samedan 1902). Die Fussnote schliesst mit dem Satz: «Nicht bestätigen konnten diese beiden Wörterbücher das vom REW, s. v. ‹femur›, angegebene oengd. Wort famau Hüfte [! ]». Diese Aussagen zum Bündnerromanischen bedürften der Präzisierung und der Korrektur: - Über die Frage der bündnerromanischen Polysemie hätte sich der Autor umfassend im DRG orientieren können (4: 154-55), wo A. Schorta schreibt: «Wie in den andern rom. Sprachen hat sich die Bed. von Hüfte weitgehend auf Oberschenkel übertragen. Schon Bifrun übersetzt lat. femur mit cuossa. Doch finden sich bis auf unsere Tage trotz der Vorherrschaft von → chalun (3: 201) genug Belege für cossa, queissa in der ursprünglichen Bed. Hüfte, Hüftbein ». - Zu korrigieren ist die Aussage, dass das REW ein «oengd.Wort famau Hüfte » anführe. Es ist von einem obw. famau die Rede. Es scheint sich bei diesem Versehen übrigens nicht einfach um einen lapsus calami zu handeln, da im Abkürzungsverzeichnis (xiv) oengd. erklärt wird als oberengadinisch (surselvisch). - Was schliesslich die Frage betrifft, ob famau ein Reflex von femur sei (das REW selbst setzt dazu ein Fragezeichen), wäre ebenfalls ein Griff zum DRG (6: 467s.) oder auch zum 1994 erschienenen Handwörterbuch des Rätoromanischen (1: 332) angezeigt gewesen. Das Wort famau/ fomau hat nichts mit femur zu tun. Es ist eine Ableitung von fam/ fom und hat die Bedeutung Flankengrube, Hungergrube, Weiche, Lende , zur Hauptsache auf das Rind bezogen. Zum Schluss nun einige grundsätzliche Bemerkungen zur Bedeutungskonzeption, die A. Blank seiner Untersuchung zugrunde gelegt hat. Sie basiert auf folgendem Modell, das Wolfgang Raible im Anschluss an ein Semantik-Kolloquium in Regensburg (1981) in der Einleitung zur späteren Publikation der Referate vorgeschlagen hat (cf. Blank, p. 99): 255 Besprechungen - Comptes rendus Entscheidend sind die beiden Grössen signatum und designatum. Signatum wird von Blank gleichgesetzt mit Zeicheninhalt, «dem im Gedächtnis das sememisch-einzelsprachliche Wissen und als Ebene der Bedeutung das Semem entspricht» (101). Das Semem eines Zeichens umfasst «nicht alle für die Bedeutung relevanten Merkmale, sondern nur diejenigen, die notwendig sind, um es von anderen Zeichen im Wortfeld sowie von Hypero- und Hyponymen zu unterscheiden» (61). Bei den nicht zum Semem eines Wortes gehörigen Aspekten der Bedeutung eines Wortes handelt es sich um aussersprachliches, «konzeptuelles» Wissen. Dieses ist im Designat enthalten. Ihm sind Weltwissen und Konnotationen zugeordnet. Der Begriff des Designats wirft grundsätzliche Fragen auf. Man hat ihn schon verwendet, um Kategorisierungen von Referenten zu bezeichnen, die in einer gegebenen Sprache und durch sie vollzogen werden. W. Raible verwendet den Begriff anders, wobei er mit ihm aus dem von mir seit den sechziger Jahren vorgeschlagenen semantischen Trapezmodell ein Fünfeck macht. Die zusätzliche Ecke wird eingefügt zwischen dem, was ich einerseits nominandum, anderseits significatum nenne (bei Raible denotatum und signatum). Dabei geht Raible im Anschluss an den Diskussionsbeitrag von Hans-Martin Gauger vom Freudschen Begriff der «Dingvorstellung» aus. Designatum ist die Vorstellung des Bezeichneten/ zu Bezeichnenden. Damit hätten wir es mit einer aussersprachlichen Grösse zu tun. Auf der anderen Seite schreibt Raible, es bestehe die zwingende Notwendigkeit, solche Vorstellungen anzunehmen, denn «anders könnten wir uns über Grenzen unserer Sprachgemeinschaft hinaus kaum verständlich machen - die Vorstellungen sind, soweit sie sozial sind, über einzelsprachliche Grenzen hinaus verbindlich» (Beih. ZFSL 9 [1983]: 3). Daraus müsste man nun wieder schließen, dass Designate nicht aussersprachlich, sondern nur aussereinzelsprachlich sind. Noch weiter geht Raible, wenn er vorschlägt (op.cit.: 6), die von mir in syntagmatischer Analyse ermittelte semantische Merkmalstruktur des französischen Verbs voler fliegen der Ebene der Vorstellung, und das muss doch wohl heissen der Designat- Ebene, zuzuordnen. Dadurch würden in diese Ebene mindestens zum Teil auch einzelsprachliche Elemente eingehen, da die fragliche Merkmalstruktur ja innerhalb der Analyse eines einzelsprachlichen Verbums gewonnen wurde. Blank ist hier konsequenter. Für ihn ist das Designat wirklich aussersprachlich, eine «aussersprachliche Dingvorstellung» (99), der, wie schon gesagt, Weltwissen und Konnotationen zugeordnet sind, ein «Bündel von Weltwissensaspekten» (191 N83). Am differenziertesten wird das Designat in der Zusammenfassung als Komponente des fünfseitigen Modells der Semiose beschrieben, «die man sich als ausser- oder vorsprachliche abstraktkonzeptuelle Vorstellung des zu bezeichnenden Gegenstands oder Sachverhalts zu denken hat» (441). Dabei wird allerdings nicht präzisiert, was «vorsprachlich» hier heissen soll. Ich habe darauf hingewiesen, dass W. Raible mit dem Einschub des Designats mein Trapez in ein Pentagon erweitert. A. Blank hat - wie auch sein Lehrer P. Koch - dieses Modell übernommen. Das hindert mich nicht daran, an meinem Trapezmodell festzuhalten. Warum? Seit rund 30 Jahren suche ich in der Semantik die syntagmatische Analysemethode gegen die paradigmatische auszuspielen. Die paradigmatische Methode, der auch Blank für die Bestimmung des Zeicheninhalts, d. h. des «einzelsprachlichen sememischen Wissens» (102), verpflichtet ist und die den Inhalt eines signifié analysiert durch die Integration des Zeichens in ein Wortfeld, verbunden mit der Integration in ein Paradigma von Hyponymen und Hyperonymen, ist nicht fähig, einen Zeicheninhalt vollumfänglich zu analysieren, da die Integration in ein Wortfeld eine - künstliche - Monosemierung bewirkt und mögliche Teile des Zeicheninhalts zum vornherein ausschliesst, wie ich dies anhand der Analyse von spanisch silla in der Festschrift Geckeler gezeigt habe (cf. VRom. 55 [1996]: 248). Die syntagmatische Analyse hingegen basiert nicht auf dem Vergleich eines Wortes mit anderen Wörtern eines Feldes oder mit Unter- und Oberbegriffen, sondern auf dem Vergleich 256 Besprechungen - Comptes rendus der «Meinungen» eines Wortes in möglichst vielen Kontexten. Aus den Meinungen wird durch Abstraktion der Zeicheninhalt bestimmt. Das Vorgehen ist vergleichbar mit demjenigen der Phonologie, welche eine unendliche Zahl von Lauten (Phonen) der parole auf eine begrenzte Zahl von langue-Einheiten (Phonemen) zurückführt. Phoneme sind Klassen von Varianten. Als abstraktiv-virtuelle Grössen sind sie selbst invariant. Wie die Phone, variieren die Meinungen je nach - sprachlichem oder aussersprachlichem - Kontext. Wenn es gelingt, diese Varianten auf Invarianten zurückzuführen, lassen sich auch die Merkmale bestimmen, welche die Invarianten charakterisieren. Die Phonembestimmung führt über die Gegenüberstellung von Lauten in Minimalpaaren. Das bedeutet, dass für die Analyse noch eine andere Ebene als die phonetische, nämlich die semantische, miteinbezogen werden muss.Auch bei der semantischen Analyse muss eine weitere Ebene miteinbezogen werden. Es genügt nicht, von Einflüssen des rein sprachlichen Kontexts zu abstrahieren. Da wir von aktualisierter Rede auszugehen haben, muss der Bezug zur aussersprachlichen Wirklichkeit stets mitberücksichtigt werden. Dabei geht es darum, im referentiellen Bereich zwischen Obligatorischem und Akzidentiellem zu unterscheiden. Das bedeutet, dass bei jedem Referenten die Frage gestellt werden muss, welche seiner Merkmale als besonders charakteristisch in das Significatum integriert werden, ganz im Sinne von E. Husserl, der in seiner Abhandlung Zur Logik der Zeichen (Semiotik) darauf hinweist, dass sprachliche Zeichen «knappe Surrogate [seien], welche unter Vermittlung besonders charakteristischer Merkmale» das Intendierte bezeichnen und ersetzen (Beih.ZFSL 9 [1983]: 32). Die syntagmatische Analyse hat ihren Ausgangspunkt auf der Ebene der Wirklichkeit, in den nomina (wobei es sich dabei nicht um isolierte Wörter, sondern um Zeichen in ihrem Kontext handelt), deren semantischer Inhalt in stetem Vergleich unter ihren einzelnen Verwendungen sowie mit den bezeichneten nominanda bestimmt werden muss. Neben diesen Unterschieden des Anwendungsbereichs ist die semantische Analyse von der phonologischen auch insofern verschieden, als sie gerade nicht grundsätzlich auf der Solidarität von Ausdrucks- und Inhaltsseite beruht. Auch in der semantischen Analyse wird man allerdings versuchen, möglichst alle Meinungen eines Zeicheninhalts auf einen gemeinsamen Nenner (ein Merkmal oder eine Merkmalgruppe) zu bringen und die Unterschiede zwischen den Meinungen der Wirkung des Kontexts (im weitesten Sinne) zuzuschreiben. Dies wird aber nicht immer gelingen, und es beruht auf einer falschen Annahme von Isomorphismus (Solidarität von Ausdrucks- und Inhaltsseite), wenn man sich grundsätzlich dagegen sträubt, einem Zeichen mehrere Invarianten zuzuordnen. Ist es nötig, bei dieser Suche nach Invarianten und nach den diese charakterisierenden Merkmalen eine Designat-Ebene anzunehmen? Ich glaube nicht. Natürlich vollzieht sich die syntagmatische Analyse im Rahmen von Abstraktionen und verlässt damit die aktuelle Ausgangsebene der Rede (nomina) einerseits, der Referenten (nominanda) anderseits. Aber wir besitzen in unserem Gedächtnis doch die Möglichkeit, Kontexte zu bilden oder festzuhalten, in denen ein betreffendes Zeichen vorkommen kann, und wir besitzen Vorstellungen von Referenten, auch wenn wir sie nicht vor Augen haben, ganz abgesehen von mehr oder weniger abstrakten nominanda. Eine eigene Designat-Ebene anzunehmen könnte höchstens dann sinnvoll sein, wenn man das Designat gemäss einer obigen Andeutung als Klasse von nominanda auffasst. Gerade wenn das Designat aussersprachlich konzipiert wird, hat es in meinem Modell keinen Platz neben dem nominandum. Für Blank spielt die Designat-Ebene eine ganz entscheidende Rolle, vor allem bei der Erklärung des Bedeutungswandels durch Metapher und Metonymie, aber zum Teil auch bei der Erklärung der anderen Verfahren. Ziehen meine Zweifel an der Berechtigung der Annahme einer eigenen Designat-Ebene allenfalls auch die Erklärungen der Mechanismen des Bedeutungswandels durch A. Blank in Zweifel? Überhaupt nicht. Ich illustriere dies an einem Beispiel. 257 Besprechungen - Comptes rendus Blank bespricht ausführlich den Bedeutungswandel von französisch grue Kranich > Prostituierte . Als Grundlage nimmt er eine Metapher an. Diese beruhe «auf einem prägnanten Merkmal, das den Kranich mit der Prostituierten verbindet, nämlich dem habituellen Stehen auf einem Bein, wobei man sich die Prostituierte dabei mit dem Rücken gegen eine Hauswand gelehnt vorstellen muss» (167). Der Assoziationsvorgang beruhe auf unserem «Weltwissen über die typische Aussendarstellung der Strassenprostitution in schlecht beleuchteten Altstadtgassen» (ib.) auf der einen Seite, das auffallende Kuriosum des einbeinigen Stehens der Kraniche auf der anderen Seite. Es handle sich um eine Similarität zwischen den Designaten von Kranich und Prostituierter. Die Beschreibung des Übertragungsvorgangs ist durchaus einleuchtend, sofern man die Bedeutung Prostituierte nicht aus dem gleich noch zu nennenden Phraseologismus herleiten will. Ich bin nur der Auffassung, dass als Grundlage für die beschriebene Übertragung das bildhafte Weltwissen genügt und wir nicht eine besondere Designat-Ebene anzunehmen brauchen. Für die umfassende Informiertheit von Blank spricht im Zusammenhang mit dem Bedeutungswandel von grue noch dies: Blank weiss, dass im Französischen die Wendung faire le pied de grue lange warten existiert (der TLF gibt folgende, präzisere Definition: attendre debout, à la même place, pendant un certain temps ). Nach Blank eröffnet dies «die Möglichkeit anzunehmen, dass die Prostituierte (in diesem Fall metonymisch) aus der Wendung abgeleitet worden wäre» (167 N28). Er verwirft jedoch diese Möglichkeit aus chronologischen Gründen. In der Bedeutung prostituée sei grue bereits 1415 belegt, während die Wendung erst 1544 auftrete. Genau genommen ist nach dem FEW (s. grus) 1544 die Wendung faire de la grue attendre longtemps sur ses jambes , ca. 1580 die Wendung faire la jambe de grue und erst 1608 der heute noch übliche Phraseologismus belegt. Ob man angesichts dieser Quellenlage aus rein chronologischen Gründen die Herleitung von grue prostituée aus einer dieser Wendungen ausschließen kann, lasse ich offen. Natürlich spricht Blank auch von grue Baukran . Dass dieser Bedeutung eine Metapher zugrunde liegt, ist evident. Die Entwicklung ist in diesem Fall jedoch kaum eindeutig zu bestimmen. Einerseits bietet das Lateinische bereits einen Ansatzpunkt (grus Maschine zur Besteigung feindlicher Mauern bei Vitruv), anderseits rechnet das FEW aus chronologischen und geographischen Gründen mit der Möglichkeit, dass fr. grue Kran «einfach aus dem seit dem 13. Jh. belegten crane (mndl. crane) übersetzt ist» (FEW 4: 297 N3). Diesem Problem ist hier nicht weiter nachzugehen. Eine Frage muss aber noch gestellt werden: Führt der Bedeutungswandel von grue Kranich zu grue Prostituierte und Baukran zu Polysemie oder zu Homonymie? Der TLF verzeichnet grue Prostituierte unter dem Lemma grue Kranich , reserviert aber für grue Baukran einen eigenen Artikel. Blank nimmt in beiden Fällen Polysemie an, wie vor allem aus Bemerkungen auf den Seiten 171 und 377 eindeutig hervorgeht. Ich würde mich für Homonymie entscheiden. Blank äussert sich grundsätzlich zu den beiden Phänomenen wie folgt: «Als Ergebnis unserer Überlegungen können wir daher Polysemie definieren als die bewusstseinsmässig erfahrbare, intersubjektiv nachvollziehbare Existenz einer semantischen Relation zwischen zwei distinkten Bedeutungen eines Wortes. Wo die Relation fehlt oder nicht (mehr) gefühlt wird, handelt es sich um Homonymie» (424). Dieser Definition stimme ich vorbehaltlos zu. Aber denkt der Franzose, der grue Prostituierte verwendet, wirklich noch an das einbeinige Stehen der Kraniche? Und denkt der Franzose, der grue Baukran verwendet, noch an Hals und Schnabel der Kraniche und ihre Bewegungen? Ich habe oben von der Suche nach Invarianten im Rahmen der syntagmatischen Analyse gesprochen. Wenn wir eine solche Analyse von grue durchführen, werden wir sicher auf drei Invarianten stossen: Kranich, Prostituierte, Baukran. Nach meiner Überzeugung setzt Polysemie nun voraus, dass man ein sinnvolles, nicht-banales gemeinsames Merkmal der verschiedenen Invarianten nachweisen kann. Das ist hier nicht möglich. Auch Blank sagt 258 Besprechungen - Comptes rendus ausdrücklich, ein gemeinsames Merkmal könnte ja nur in der nichtssagenden Form [physisches Objekt] gefunden werden, und das sei sinnlos (170). Gleichwohl hält er an Polysemie fest, weil er die Auffassung vertritt, dass Metaphorizität als Grundlage für Polysemie genüge. Er ist denn auch der Überzeugung, dass Merkmalanalysen «im Falle von Metapher oder Metonymie gar nichts bringen» (417). Diese Auffassung teile ich nicht. Wenn eine Metapher lexikalisiert ist, bildet sie einen integrierenden Teil des betreffenden Signifikats und ist der syntagmatischen Analyse grundsätzlich zugänglich. Dies habe ich vor Jahren mit der Analyse von fr. voler fliegen zu zeigen versucht, indem ich auch die folgenden übertragenen, metaphorischen Bedeutungen als Teile der semantischen Struktur des Verbs auffasste: - Son petit cheval volait. Elle volait d’un bout du salon à l’autre. - Le temps vole. Cette nouvelle vole de bouche en bouche (cf. Beih.ZFSL 9: 34). Blank hat sich dazu nicht geäussert, spricht aber, wie gesagt, grundsätzlich der Merkmalanalyse die Fähigkeit ab, metaphorische Übertragungen zu analysieren. Dabei weiss er sich einig mit seinem Lehrer und Freund Peter Koch. Dieser hat in seinem Beitrag zur Festschrift Wunderli (cf. VRom. 58 [1999]: 214) meine voler-Analyse kritisiert und mir dabei vorgeworfen, wenn ich als gemeinsames Merkmal der räumlichen und der zeitlichen Bedeutung von voler locomotio ansetze, reproduziere ich die zu beschreibende Metaphorik einfach auf der Beschreibungsebene. Zu dieser Aussage hat ihn wohl das erste Element von LÓCO motio verleitet. Dabei sollte das lateinische Wort einfach die Fortbewegung ausdrücken. Die eindeutige Formulierung von semantischen Merkmalen mittels Sprachmaterial ist und bleibt eine grosse Crux. Diese wird nicht kleiner, wenn man zu lateinischen Wörtern Zuflucht nimmt, um eine Identifikation mit Wörtern der Objektsprache zu verhindern. Nun gut: Wenn das gemeinsame Merkmal von spatialem und temporalem voler einfach [Fortbewegung] ist, kann von einer Reproduktion der zu beschreibenden Metaphorik auf der Beschreibungsebene wohl nicht die Rede sein. Und mehr noch: Es geht ja nicht nur um den Gegensatz räumlich - zeitlich, wie drei der vier zitierten Beispiele zeigen, es geht auch um die Frage, ob die Bewegung in einem spezifischen Medium, nämlich der Luft, stattfindet. Daher schien mir bei meiner Analyse die Gabelung zwischen einem spezifischen Medium (der Luft) und einem nicht-spezifischen Medium wichtig (cf. Beih. ZFSL 9 [1983]: 35). Sie fällt zusammen mit der ursprünglichen Scheidung zwischen eigentlicher und übertragener (metaphorischer) Bedeutung. Da die metaphorischen Verwendungen jedoch heute lexikalisiert sind, betrachte ich sie als integrierenden Bestandteil der - polysemen - semantischen Struktur von voler. Das heisst nicht, dass das Bewusstsein der Übertragung verloren gegangen wäre. Anders liegen die Verhältnisse bei grue. Da kein sinnvolles, nicht-banales, gemeinsames Merkmal der Invarianten auszumachen ist und das Bewusstsein einer Übertragung abgeschwächt oder überhaupt nicht mehr nachvollziehbar ist, nehme ich Homonymie an. Auch diese grundsätzliche Auseinandersetzung mit einigen Aspekten der Bedeutungskonzeption von A. Blank zeigt - selbst im Widerspruch - wie wichtig seine Habilitationsschrift ist. In der Beschäftigung mit Fragen der Bedeutung und des Bedeutungswandels wird kein Forscher an ihr vorbeigehen können. Umso schmerzlicher ist die Tatsache, dass all diese grundlegenden und spannenden Probleme nicht mehr mit dem Autor selbst diskutiert werden können. G. Hilty ★ 259 Besprechungen - Comptes rendus
