eJournals Vox Romanica 60/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2001
601 Kristol De Stefani

Sophie Marnette, Narrateur et points de vue dans la littérature française médiévale. Une approche linguistique, Bern (Lang) 1998, 262 p.

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Ute  Limacher-Riebold
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Sophie Marnette, Narrateur et points de vue dans la littérature française médiévale. Une approche linguistique, Bern (Lang) 1998, 262 p. In dieser Studie wählt S. Marnette einen interessanten interdisziplinären Ansatz, welcher sich «d’autant plus aux linguistes qui s’intéressent à l’analyse du discours, aux théories de l’énonciation et à leur application aux textes littéraires, qu’aux médiévistes . . . » (10) und an Studierende des troisième cycle (maîtrise et doctorat) wendet. Ihre Arbeit basiert auf einem Textkorpus, das sehr an das von J. Rychner 1 erinnert. Es besteht aus folgenden 13 Vers- und 8 Prosatexten (und einem Prosimetrum) aus dem 12. bis 15. Jahrhundert 2 : «Vies de saint»: Vie de Saint Alexis; die «chansons de geste»: La Chanson de Roland, Le Pélerinage de Charlemagne, La Prise d’Orange, Raoul de Cambrai; Versromane: Chrétien de Troyes, Erec et Enide, Yvain (Le Chevalier au Lion), Le Roman de Tristan (von Béroul), Le Roman de l’estoire dou Graal (Versroman von Robert de Boron); die Prosaromane: Le Roman du Graal (Prosaroman von Robert de Boron), Lancelot du Lac, La Mort le roi Artu, Le Roman de Tristan, La Prise d’Orange (aus dem Prosaroman Roman de Guillaume); «chroniques»: La Conquête de Constantinople (von Villehardouin), La Conquête de Constantinople (von Robert de Clari), La Vie de Saint Louis (von Jehan, seigneur de Joinville); sowie einige «lais» von Marie de France und dem «chantefable» Aucassin et Nicolette. In der Analyse dieser 22 Texte unterscheidet sich S. Marnette dadurch von dem der rekonstruierenden Literaturwissenschaftler - welche bestrebt sind, die in einem ausgewählten Textkorpus dominierende Inhaltskonfiguration auszumachen -, dass sie ihre eingehende Untersuchung der verschiedenen Texttypen durch Anwendung linguistischer Kriterien vervollständigt. Sie stützt sich auf die théories d’énonciation, vor allem nach O. Ducrot 3 , welche den Schwerpunkt auf «le langage dans sa relation avec ses utilisateurs et son contexte» legt (22). Ziel ist hierbei unter anderem, den Erzähler in den verschiedenen Texten zu definieren, und zwar anhand indexikalischer Elemente, wie Verbaltempora, Personalpronomina, räumliche und zeitliche Deiktika (ici, maintenant, hier, . . .) sowie der actes du langage (d. h. Fragen, Versprechen, Befehle, usw.). Bei der Auswertung der Daten 4 beschränkt sich S. Marnette nicht auf eine quantitative Analyse z. B. des Vorkommens des Personalpronomens vous, sondern sie berücksichtigt sehr genau dessen grammatische Funktion (Subjekt oder Objekt), seinen Ko-Text (z. B. anhand des Gebrauchs spezifischer Verbformen) und die Erzählinstanzen, auf die es sich bezieht. Ausgangspunkt ist hierbei für sie, dass die Autoren der altfranzösischen Texte gezielt verschiedene Bezeichnungen der Erzählinstanz gewählt haben, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. S. Marnettes Ziel ist es, die gattungsspezifischen Kriterien mithilfe einiger linguistischer Theorien zu erweitern und somit die aus ihrer Studie resultierenden Erkenntnisse auch auf andere mittelalterliche (speziell altfranzösische) Texte anwenden zu können. 304 Besprechungen - Comptes rendus 1 J. Rychner, La Narration des sentiments, des pensées et des discours dans quelques œuvres des douzième et treizième siècles, Genève 1990. 2 Es ist S. Marnette ein spezielles Anliegen, manuskriptgetreue Editionen zu wählen. Für die genaue Angabe der einzelnen Editionen cf. p. 25-27. 3 Cf. O. Ducrot, Le dire et le dit, Paris 1984; id., Logique, structure et énonciation, Paris 1989. Diese Theorien sind auch von D. Maingueneau, Éléments de linguistique pour le texte littéraire, Paris 1993, zusammengefasst worden. In ihrer Analyse greift S. Marnette hier und da auf die Ansätze und Definitionen einiger der Pioniere dieser Disziplin wie Jakobson, Bakhtine, Benveniste und Culioli zurück. 4 Einen allgemeinen Überblick der aus der quantitativen Analyse hervorgehenden Ergebnisse liefert die übersichtliche graphische Darstellung am Ende des Buches (241-54). Zunächst (Kapitel 1) geht S. Marnette auf allgemeine Begriffsproblematiken ein, wie z. B. die des Erzählers und des Autors. Da die Analyse mittelalterlicher Texte mithilfe von Konzepten, die für moderne Texte erarbeitet wurden, einige konzeptuelle Problematiken mit sich bringt, gilt es, diese vorab zu klären. S. Marnette unterstreicht, dass die gängigen Definitionen wie etwa die des narrateur, des auteur und des auteur impliqué nach W. Booth 5 - von G.N. Leech und M.H. Short 6 aufgegriffen - trotz Berücksichtigung der kritischen Einwände von G. Genette 7 und D.M . Maingueneau 8 eher mit Vorbehalt für die Definition des Erzählers in mittelalterlichen Texten zu verwenden sind (17). Wegen ihrer variantenreichen Überlieferung wird in vielen mittelalterlichen Texten das Ausmachen eines spezifischen auteur/ créateur (impliqué) erschwert: «Qu’une main fut première, parfois, sans doute, importe moins que cette incessante récriture d’une œuvre qui appartient à celui qui, de nouveau, la dispose et lui donne forme. Cette activité perpétuelle et multiple fait de la littérature médiévale un atelier d’écriture. Le sens y est partout, l’origine nullepart.» 9 (19). Der Autor an sich, als instance créatrice du récit, gelangt dadurch in den Hintergrund, weshalb man es mit «auteurs/ remanieurs plutôt que des auteurs/ créateurs au sens strict» (18) zu tun hat. Deshalb konzentriert sich S. Marnette auf die Instanz des Erzählers, wobei sie von drei Definitionen des Erzählers ausgeht: « . . . le narrateur est l’instance textuelle qui raconte l’histoire et qui, le cas échéant, est désignée par la 1 ère pers.: ‹je, narrateur raconte une histoire à vous, auditeur(s)/ lecteur(s)›. Dans les récits à tendance impersonnelle, le je est pratiquement absent du texte mais latent: ‹l’histoire est racontée [par je]›. Dans le dernier cas, l’auditeur/ lecteur est en présence d’une voix non personnelle qui raconte une histoire en usant très rarement de la 1 ère pers. mais qui peut à certaines reprises émettre des opinions et présenter les événements selon une perspective qui est extérieure à celle des personnages.» (20). Nach der ausführlichen Einführung in die verwendete Terminologie (Kapitel 1-2) und der Analyse der Kommentare des Erzählers (Kapitel 3) geht S. Marnette auf dessen Stellung und die Art und Weise ein, in der er die Diskurse der Figuren kontrolliert (Contrôle du narrateur sur le discours du personnage, Kapitel 4) 10 . Anschließend erläutert sie die Klassifikation der Fokalisierung (Kapitel 5-6), wobei sie den Übergang zu Prosaformen am Anfang des 13. Jahrhunderts und die damit verbundene tiefgreifende Veränderung der Sprache und der Stellung und des Eingriffs des Erzählers im speziellen berücksichtigt. Sie unterstreicht, dass sich mittelalterliche Texte vornehmlich durch einen narrateur/ focalisateur auszeichnen, der lediglich als Betrachter und Zeuge der Geschehnisse und nicht als Teilnehmer zu bezeichnen ist. Damit kann nicht von «focalisation externe» strictu sensu die Rede sein, da das «hier und jetzt» des focalisateur mit dem der Figuren übereinstimmt. Der 305 Besprechungen - Comptes rendus 5 W. Booth, The Rhetoric of Fiction, Chicago 1961. 6 G.N. Leech/ M.H. Short, Style in Fiction. A Linguistic Introduction to English Fictional Prose, London/ New York 1981. 7 G. Genette, Nouveau discours du récit, Paris 1983. Genette bezeichnet z. B. den auteur impliqué als l’image de l’auteur dans le texte, d. h. so, wie der Leser das Bild des Autors rekonstruieren kann. 8 Wobei S. Marnette bei Maingueneau auf die unglückliche Übersetzung von author und implied author, als écrivain und auteur hinweist (18 N8). 9 B. Cerquiglini, Éloge de la variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989: 57. Die Opposition personnel (= Erzähler in 1. Pers.)/ non-personnel (= Erzähler in 3. Pers.) kann nur als Gradation verwendet werden (cf. Kapitel 5). 10 Hierin teilt S. Marnette die Redetypen hierarchisch auf: Erzählbericht von Figurenrede → indirekte Rede → erlebte Rede → direkte Rede → innerer Monolog (115-20). Je nach Verwendung der unterschiedlichen Redetypen in den verschiedenen Texten erläutert Marnette die Kontrolle der Erzählinstanz. Begriff des interne ist wiederum nicht angebracht, da die Figuren nicht am Erzählten teilnehmen (155). S. Marnette schlägt deshalb den Begriff focalisation externe de témoignage vor, der zwischen der focalisation externe de l’intérieur und der focalisation externe pure (= allwissender Erzähler) anzusiedeln ist. Dieses Kontinuum erlaubt es ihr beispielsweise, die Versromane genauer von den Prosaromanen zu unterscheiden. Allein die Gattungsbezeichnung des Romans - im Text selbst meist als conte oder histoire bezeichnet (wie die Chroniques) - weist das Problem der oft fließenden Übergänge von einer zur anderen Gattung auf. Oft ist diese Oszillation auf die «moments de transition» zurückzuführen, «où les genres se (re)formulent» (203), doch hängt die Zuordnung auch stark vom betrachteten Kriterium ab. Neben der in den Prosaformen gängigen Struktur (entrelacement, introduction «lourde» des discours rapportés) übernimmt z. B. der Tristan (en prose) viele traits dominants 11 des Versromans (wie den Ich-Erzähler und die focalisation externe de l’intérieur), um sie an die des Prosaromans anzugleichen. Leider ist es hier nicht möglich, auf S. Marnettes sehr detaillierte und präzise Beobachtungen näher einzugehen. Es sei lediglich darauf hingewiesen, dass es ihr mit der gewählten Methode gelingt, die grundlegend unterschiedlichen Wirkmethoden von chanson de geste und der vies de saint zu erläutern. Die chanson de geste und die vies de saint sind sich in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich: U. a. werden beide gesungen, wenden sich explizit an ein Publikum, stellen ein scheinbares Gleichgewicht zwischen dem Erzähler/ jongleur und dem Zuhörer/ Leser 12 her und in beiden herrscht vorwiegend die focalisation externe de témoignage. Was hingegen die Verbindung des Erzählers und der Zuhörer/ Leser in den vies de saint angeht, unterstreicht der Gebrauch der 1. Pers.Pl. die Identifizierung des Erzählers mit den Zuhörern/ Lesern: Sie gehören der Gemeinschaft an, teilen dieselben Ideologien und nehmen als Außenstehende (oder Betrachter) gegenüber der erzählten Geschichte die gleiche Position ein. Im Gegensatz dazu konzentriert sich der Erzähler in den chansons de geste ausschließlich auf die Geschichte, die er erzählt, und er schließt die monde extra-textuel aus. Er wendet sich direkt an die Zuhörer/ Leser, macht sie zu Zeugen des Gesagten (es vos, oïssez, veïssez . . .) und bringt seinen Blickpunkt mit dem ihrigen in Einklang. Die beiden Gattungen unterscheiden sich auch in ihrem Ziel: Während der Erzähler der vies de saint den Zuhörer/ Leser dazu bringen will, z. B. für Saint Alexis zu beten und sich dessen Leben als Beispiel für ihr eigenes geistiges Leben zu nehmen, möchte der Erzähler der chansons de geste seinem Publikum vor allem gefallen und es gewisse «historische» Gegebenheiten nach-leben lassen. Die chansons de geste legen Wert auf die «participation aux actions racontées au sein du récit tandis que les vies de saints préconisent une communion spirituelle qui va bien au-delà» (207). Zusätzlich zu diesen Analysen ist zu berücksichtigen, dass jede einzelne Gattung sich im Laufe der Zeit zum Teil erheblich veränderte. So ist der Erzähler in den früheren Chroniques (von Clari und Villehardouin) durch den Gebrauch der 1. Pers.Pl. ausgedrückt und für den Autor/ Zeugen wird die 3. Pers.Sg. verwendet. In den späteren Chroniques (Froissart und Commines) wird hingegen die 1. Pers.Sg. (des Erzählers, Autors und Zeugen) vorgezogen, zum Teil auch um den Wahrheitsgrad des Gesagten zu unterstreichen. Die Studie von S. Marnette ist durch die linguistische Beschreibung der Texte eine wertvolle Ergänzung und Vertiefung der im 19. und 20. Jahrhundert entstandenen Gattungsentwürfe mittelalterlicher Literatur. Es ist ihr gelungen, die herkömmlichen Parameter der gattungsspezifischen Klassifizierung altfranzösischer Texte durch linguistische Kriterien zu 306 Besprechungen - Comptes rendus 11 H.R. Jauss, «Littérature médiévale et théorie des genres», Poétique 1 (1970): 79-101. 12 Mit auditeur/ lecteur bezeichnet Marnette die allocutaires der mittelalterlichen Texte, da letztere mündlich vorgetragen wurden - unabhängig davon, ob es Zuhörer gab (P. Zumthor, La lettre et la voix dans la littérature médiévale, Paris 1987: 42-44). erweitern, und anhand der Analyse der Stellung und der Kommentare des Erzählers, seiner Beziehung zu den Zuhörern/ Lesern und den Arten der Fokalisierung einen maßgebenden Anstoß zur literarisch-linguistischen Analyse mittelalterlicher Texte zu geben. Ute Limacher-Riebold ★ Michel Jarrety (ed.), La poésie française du Moyen Âge jusqu’à nos jours, Paris (PUF) 1997, 584 p. (Premier Cycle) Der Herausgeber Michel Jarrety (Jules-Verne Universität der Picardie) sowie die fünf weiteren Mitautoren, Claude Thiry (Universität Lüttich), Jean Vignes (Universiät Paris iii, Sorbonne Nouvelle), Alain Génetiot (Universität Paris iv, Sorbonne), Jean-Rémy Mantion (Universität Bordeaux iii) sowie Claude Millet (Universität der Haute-Normandie) verfolgen mit dem hier anzuzeigenden Überblick über die französische Poesie das Ziel, dem Studierenden des «premier cycle», also dem Studienanfänger, «un objet de savoir et un outil de travail» wie auch eine «simple invitation à découvrir des œuvres avec lesquelles il vienne nouer peu à peu une relation familière» (hintere Umschlagseite), an die Hand zu geben. Es soll sich dabei nicht um eine Literaturgeschichte im traditionellen Stil handeln; vielmehr geht es darum, «de privilégier l’évolution des mouvements et des formes en même temps que la présentation des grandes œuvres qui les ont illustrés [sic! ]» (xiii). Diachrone und synchrone Analyse sollen also - und das ist nur positiv zu bewerten - zu einer Einheit verschmolzen werden. Da die Adressaten des Bandes Studienanfänger sind, verzichten die Autoren - und auch das ist vom Ansatz her richtig - auf «tout excès d’érudition» (xiii). Sieht man von dem von C. Thiry über das Mittelalter verfaßten Kapitel (1-75) einmal ab, in dem erfreulicherweise auch über den «roman poétique», die «geste poétique» und das «théâtre poétique» zu lesen ist, wird der Begriff Poesie in dem Band sehr eng gefaßt. Es bleiben etwa dramatische Werke in Versform - dies ist nur verständlich - sowie auch - und hier allerdings leider - die frankophone Poesie und die Lyrik des französischen Chansons sowie der Frauenliteratur vollkommen unberücksichtigt. Warum etwa finden Anne de Noailles oder Joe Bousquet in dem Beitrag von M. Jarrety über das 20. Jahrhundert (401- 91) keine Erwähnung? Und anders als der Titel des Werkes vermuten läßt, reicht die Untersuchung nicht «jusqu’à nos jours», sondern vielmehr nur bis zum Jahre 1960. Damit bleiben also bis zum Erscheinungsjahr des Werkes ganze 37 Jahre lyrischen Schaffens außer Betracht. Als wenig überzeugende Begründung für diese zeitliche Begrenzung erfährt man im Vorwort, daß «1960 n’est ici qu’une date commode» (xiv). Der Band ist so aufgebaut, daß jeder der sechs Autoren im Prinzip ein Jahrhundert darstellt; allein C. Thirys Abhandlung über das Mittelalter befaßt sich mit einem Zeitraum von sechs Jahrhunderten. - Nach diesen generellen Darlegungen seien nachfolgend Detailaspekte sowohl in positiver wie in negativer Hinsicht angeführt. Der Band zeugt in jedem seiner Kapitel von einer profunden Sachkenntnis, wobei sich jeder Autor als Spezialist auf dem von ihm bearbeiteten Gebiet ausweist. Sehr schön ist, daß zwischen den einzelnen Kapiteln ein relatives Gleichgewicht im Umfang besteht. So wird durch J.-R. Mantions Darlegungen über das 18. Jahrhundert (249-314), das ja gemeinhin als poesiearm angesehen wird, diese Epoche wieder zu der ihr gebührenden Geltung gebracht. Und zu begrüßen ist auch, daß - obwohl im Vorwort die Berücksichtigung von «poètes mineurs» (xiii) ausgeschlossen wird, doch so mancher «auctor minor» behandelt wird, so Taillevent (57), Maurice de Guérin (337), Jouve (451) u. a. m. 307 Besprechungen - Comptes rendus