Vox Romanica
vox
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Francke Verlag Tübingen
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2002
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Kristol De Stefani«Per entro i fiori e l’erba»: Figuren der Ganzheit in Petrarcas Canzoniere
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2002
Georges Güntert
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«Per entro i fiori e l’erba»: Figuren der Ganzheit in Petrarcas Canzoniere 1. In einem vielbeachteten Aufsatz aus dem Jahre 1951, Preliminari sulla lingua del Petrarca, macht Gianfranco Contini zwei prägnante, sich gegenseitig ergänzende Aussagen zu Sprache und Stil des Canzoniere. Einerseits sieht er als Hauptmerkmal von Petrarcas lyrischem Stil jene Neigung zur evasività, die sich im Vermeiden konkreter Bezeichnungen und referentieller Hinweise äußere 1 . Andrerseits widerspricht er der weitverbreiteten Auffassung, Petrarca sei ein Dichter der Natur («nessuna natura in quanto tale è presente in Petrarca»), weil dieser nicht eine denotativ beschreibende, sondern eine paronomastische, durch Anspielungen wirkende, in hohem Grade metonymisch-metaphorische Sprache bevorzuge. Beim Erwägen dieser Gedanken möchte ich nicht wie Contini von «unaktualisierten Substanzen» sprechen, da ja das Wort im Leseprozess ohnehin aktualisiert wird. Contini, De Robertis, Adelia Noferi und andere haben aber insofern Recht, als sie Petrarcas Vorliebe für eine schwebende, ihre Virtualität im Text weitgehend bewahrende Ausdrucksweise hervorheben und darauf hinweisen, dass durch deren Verwendung die semantische Valenz der Sprache erhöht wird 2 . Hugo Friedrich, nachdem er vom «begrenzten Vokabular» und von der «reichen Unbestimmtheit» Petrarcas gesprochen hat, bringt den komplexen Vorgang auf eine Formel: «Durch begrenzte Sprachmittel Entgrenzung der Gehalte zu erreichen, das ist Petrarcas Kunst» 3 . Auch er vermerkt das Fehlen von Wörtern des Konkreten: So verwende Petrarca im Canzoniere an die achtzig Mal das Wort «fiore», wohingegen spezifische Artbezeichnungen wie «rosa» oder «viola» eher selten vorkämen und das in der lyrischen Tradition vielfach bezeugte «giglio» sogar ganz fehle 4 . «Erba e fior’» ist eine solche generelle, für vielerlei Bedeutungen offene Ausdrucksweise, ein nominales Wortpaar, das zunächst die blühende Natur bezeichnet. In den Trionfi gibt es dafür einen, im Canzoniere an die zwanzig Belege.Auffallend sind indes die vielen Variationen, zu denen sich der Dichter beim Disponieren dieser Nomina verleiten lässt. Sie erscheinen bald in umgekehrter Reihenfolge «tra’ fiori e l’erba» (XCIX, CXXV, CXLV, CCCXXIII), bald mit Adjektiven geschmückt «lieti fiori et felici, et ben nate herbe» (CLXII) oder diminutivisch verniedlicht «herbette e fiori» (CXIV, CXCII, CCXXXIX), bald alternierend «herba o fior» (CXXV) 1 Cf. Contini 1970: 190. 2 Contini 1970: 179. Contini spricht von «nicht aktualisierten Formen», was im Diskurs nicht möglich ist. Er bezieht sich aber offensichtlich auf den hohen Grad an Virtualität, die solche nicht referentiell zu deutende «Substanzen» im Text bewahren. 3 Friedrich 1964: 227. 4 Friedrich 1964: 213. 33 «Per Entro i Fiori e l’Erba»: Figuren der Ganzheit in Petrarcas Canzoniere oder negiert «non fiore o foglia d’erba» (CCLXXXVIII). Außerdem gibt es drei- und viergliedrige Ausdrücke wie «fior, erba e foglia» (CCLXV), «fior’, herbe e frondi» (CCCXXXVII), «frutti, fiori, erbe e frondi» (CCCXXXVII) und andere, in denen nur von der einen Blüte, nämlich von Laura, die Rede ist: «tra l’erba quasi un fior siede» (XLV, CLX). In enger Nähe zu dem von uns gewählten Wortpaar liegen weitere nominale Wortverbindungen wie das bei Provenzalen und Sizilianern gleichermaßen beliebte «fior e foglia» (CXXV, «folh’ e flor» schreibt Bernart de Ventadorn), dann «erbe e fronde» (CCXVIII), «erbe e rami» (CXLII), sowie das syntaktisch analoge,in semantischer Hinsicht jedoch verschiedene, da meist als kausal oder konsekutiv zu verstehende «fiore e frutto» (CIV, Triumph. Cup. II, 148). «Erba e fior’» bezeichnet bei Petrarca außerdem den grünen Wiesengrund, auf dem die Geliebte einherschreitet und die Blumen durch bloßes Berühren mit ihrem Fuß verzaubert (CLXII, CLXV, CXCII). Dieses Bild erinnert, wie Hugo Friedrich bemerkt, an den Aphrodite-Mythos oder vielleicht auch an Ovids Darstellung der Flora 5 . Es wird indessen, was Gestaltung und Sinn anbelangt, laufend abgewandelt, so dass bei Petrarca textbezogene Einzelinterpretationen unumgänglich sind. Immerhin ist ein allen Beispielen gemeinsames Strukturelement ersichtlich: In den drei vorhin erwähnten Gedichten wird jeweils das Auftreten Lauras in der Natur durch die Kombination von Fuß und Auge, bzw. unten und oben, dargestellt. Wird nun das Einherschreiten der meditierenden Geliebten - wie in CLXII und CLXV - zusätzlich mit deren Sprechen in Beziehung gebracht, sind metapoetische Deutungen (vgl. «piede» in der Bedeutung von Versfuß) nicht auszuschließen. Bei Stiluntersuchungen am Text des Canzoniere wird man gut daran tun, die lateinischen Dichtungen Petrarcas nicht außer Acht zu lassen. Ihr Studium erleichtert das Erkennen der klassischen Vorbilder und zeigt, wie Petrarca auch beim Gestalten des leichten Stils den antiken Autoren folgt. Im Triumphus Cupidinis (IV, 19) erwähnt er von den lateinischen Dichtern Vergil, Ovid, Catull, Tibull und Properz; von diesem weiss er, dass sich die mittlere oder untere Stillage am besten für die erotische Dichtung eignet: «Carmina mansuetus lenia quaerit Amor» 6 . Auch Vergils Bucolica sind ihm vertraut, und jener sprichwörtlich bekannte Passus aus der dritten Ekloge, der an den biblischen Paradiesmythos erinnert und schon Dante beeindruckt hat «Qui legitis flores et humi nascentia fraga, / frigidus, o pueri, fugite hinc, latet anguis in herba» (Ecl. III, 92-3), klingt im Sonett XCIX und im Triumphus Cupidinis (III, 157) an. Orpheus’ thrazischer Hügel, von dem Ovid berichtet (Met. X, 78-90), oder das horazische Refugium des Beatus ille (Ep. lib. 2) 5 Publius Ovidius Naso, Fasti, V, 185-331. Zum Thema des Aphrodite-Mythos, cf. Persius Flaccus Aulius, Saturae, II, 38, Tibullus, Eleg., II, iii und Claudianus, Carmina minora, 30. Cf. dazu auch Friedrich 1964: 203. Giosuè Carducci hingegen verweist auf die Verse 9-10 des Gedichts Lydia aus der Appendix virgiliana: «Invideo vobis, agri formosaque prata / Vos nunc illa videt, vobis mea Lydia ludit . . . / O fortunati nimium, multumque beati [agri] - in quibus illa pedis nivei vestigia ponet» (cf. Petrarca 1899: 249). 6 Sestus Propertius, Eleg. I, 9, 12. 34 G. Güntert sind hingegen Beispiele einer schönen, abgeschiedenen Natur. Ist es ein Zufall, wenn wir in Petrarcas Epistolae metricae den «flores et herba» auf Schritt und Tritt begegnen? Sie erscheinen in der dritten Epistel, die den Talboden an der Sorge als von «floribus innumeris et dulce virentibus herbis» übersät schildert; in der fünften, wo von einem Wettstreit der Blumen und Gräser die Rede ist; in der zehnten, welche die Idylle von Selvapiana als einen den Dichtern zugedachten Ort rühmt, und in der elften, welche dieselben Vorzüge dem Tal von Vaucluse zuschreibt. In solchen narrativen Texten - sei es in den Metricae, sei es in den Familiares und Seniles - finden sich zuweilen ausführliche Naturschilderungen, die jedoch stets in enger Anlehnung an den Topos des locus amoenus konzipiert sind. 2. Seiner literarischen Herkunft nach könnte das Binom «erba e fior’» tatsächlich ein Bestandteil der als locus amoenus bekannten Landschaftsschilderung sein 7 . Aber auch biblische Texte, besonders das Hohe Lied, kennen Naturszenarien, deren Metaphorik - nach D’Arco Silvio Avalle - auf die frühe italienische Dichtung eingewirkt hat 8 . Des weiteren wären die Troubadours, die sich gegenseitig im Erfinden von immer neuen Variationen zum Thema des Frühlingsanfangs übertreffen, und die allegorische Dichtung im Umkreis des Rosenromans, die bis über Boccaccio hinaus nachwirkt, als mögliche Bezugspunkte zu nennen. Doch weder vom erotischen Hohen Lied noch von der allegorischen Literatur Frankreichs führt eine direkte Verbindung zur Lyrik Petrarcas. Nur die Frühlingsbeschreibungen der Provenzalen vermitteln ihm einige wertvolle Anregungen und damit auch einen Teil des Wortmaterials (ich denke beispielsweise an die «Aura»-Sonette und an die Sestine CCXXXIX) 9 . Es bleibt als wichtigster Bezugspunkt der locus amoenus, dessen normierte Darstellungsweise in einer bis in die Antike zurückreichenden rhetorischen Tradition steht. In seiner Ars versificatoria zählt Matthäus von Vendôme die einzelnen Bestandteile der Reihe nach auf, verbindet sie mit dem jeweils passenden Zeitwort und präsentiert sie dem Leser in elegischen Distichen: Flos sapit, herba viret, parit arbor, fructus abundat, Garrit avis, rivus murmurat, aura tepet 10 . Duftende Blumen, grünes Gras, üppige, mit Früchten behangene Bäume, Vogelgezwitscher, murmelnde Wasser, laue Lüfte - sieben Elemente sind es, die bei diesem Autor den Lustort kennzeichnen. Petrarcas Aufzählung der Landschaftselemente - im Erinnerungssonett CCCIII, welches Vaucluse evoziert - besteht zunächst auch 7 Zur Thematik des locus amoenus, cf. Curtius 1961, bes. Kap. X; Thoss 1972; Avalle 1977, bes. Kap. IV: «Hortus deliciarum»; Gallais 1992, bes. Kap. 9: «Le locus amoenus»; und Hass 1998. 8 Avalle 1977: 117-29. 9 Zum Einfluß der Provenzalen auf die Sprache des Canzoniere cf. Appel 1924: 212-35; Segre 1983: 57-78; Perugi 1985 und Perugi 1990: 109-81; Casu 1992-93. 10 Matthieu De Vendome, Ars versificatoria, v. 49-50, in Faral 1924: 149. 35 «Per Entro i Fiori e l’Erba»: Figuren der Ganzheit in Petrarcas Canzoniere aus sieben, einen einzigen Vers bildenden Substantiven, zu denen sich aber im nachfolgenden Vers noch drei weitere Attribute gesellen: «Fior’ frondi erbe ombre antri onde aure soavi, / valli chiuse, alti colli e piagge apriche . . . ». Auch das Wasser fehlt nicht, da Laura und Francesco der Sorge entlang wandeln. Das metrische Experiment hat Petrarca Arnaut Daniel abgeschaut, der indes nie mehr als fünf Substantive im gleichen Vers vereint 11 . Solche Fünferreihen verwendet auch Sennuccio del Bene, ein in Avignon angesiedelter Zeitgenosse und Freund Petrarcas 12 . Wie bereits gesagt, vermeidet der Dichter im Canzoniere stereotype Beschreibungen und begnügt sich bei der Gestaltung von Naturszenen mit einzelnen wenigen Synekdochen. Man denke nur an den Anfang der berühmten Blütencanzone CXXVI, deren Landschaftsbild zunächst nur aus den Angaben «acque», «ramo», «erba e fior’» und «aere» besteht. Von den vier Elementen sind hier lediglich drei - das Wasser, die Erde und die Luft - vertreten. Das Feuer fehlt genauso wie Laura, spricht aber aus dem Wort «Amor» und lebt im Herzen des unter dem Liebesentzug leidenden Ichs weiter. In der Schlußstrophe - nachdem die Erinnerung an Laura unter dem Blütenschnee das Ich in Verzückung versetzt hat - wird «erba» stellvertretend für den ganzen Ort verwendet, an dem sich die unvergeßliche Vision ereignet hat. «Da indi in qua mi piace / questa herba sì, ch’altrove non ò pace» (CXXVI, 64-5). Somit meint «erba» als pars pro toto zugleich den erlebten und den erinnerten Raum von Vaucluse, sowie den aus Sprache geschaffenen Text-Raum, d. h. die Dichtung selbst. Auch in der unmittelbar vorausgehenden Canzone boschereccia (CXXV) wird die enge Verbindung zwischen Landschaft und Frau betont. Das lyrische Ich richtet sich hier an die «verde riva» und wünscht sich, dass diese die Spuren Lauras bewahre, damit es beim Pflücken der Blumen und Gräser - lies: beim Dichten - an Laura erinnert werde: «Così avestù riposti / de’ be’ vestigi sparsi / anchor tra’ fiori et l’erba, / che la mia vita acerba, / lagrimando, trovasse ove acquetarsi! ». Und gleich darauf: «Qualunque herba o fior colgo / credo che nel terreno / aggia radice ov’ella ebbe in costume / gir fra le piagge e ’l fiume, / e talor farsi un seggio / fresco, fiorito e verde» (CXXV, 59-63 und 69-74). Dies bedeutet zum einen, dass jede gepflückte Pflanze, jedes Kraut, an dem von Laura beseelten Ort seine Wurzeln hat, und zum andern, dass jedes Wort des Dichters sein Entstehen der Liebe zu dieser Frau verdankt. 3. Kommen wir nun zu der theoretischen Fundierung unserer Textbetrachtungen. Das Wortpaar «erba e fior’» und seine Varianten werden auf der Diskursebene des jeweiligen Textes als Figuren der Ganzheit - bei Greimas: figures de la totalité - aktualisiert, wobei hauptsächlich «erba» die Funktion des pars pro toto übernimmt 13 . Während jedoch die unzähligen Grashalme - einem anmutigen Bildgrund ver- 11 Petrarca 1996: 1174. 12 Sennuccio Del Bene, Sonett I «L’alta bellezza», in Sapegno (ed.) 1952: 44. 13 Zum Problem der Figuren der Ganzheit («figures de la totalité») cf. Greimas/ Courtés 1979: 397 (s. totalité) und Geninasca 1997: 19-28 (Kap. Sur le statut des grandeurs figuratives et des variables). 36 G. Güntert gleichbar - als anonymes Ganzes wahrgenommen werden, bilden die Blumen das herausragende, schmückende Element, das einzeln erkannt und bewundert werden kann. Erscheint die Blume ausnahmsweise im Singular, so dient sie zur Hervorhebung der Einzigartigkeit Lauras (XXXIV, XLV, CLX, CLXXXV, CCXIV). Welche Totalität aber ist hier angesprochen? Mit «erba e fior’» können im Canzoniere sowohl ein ganzes Naturszenarium als auch ein bestimmter Ort wie Vaucluse gemeint sein. Darüber hinaus verweisen solche énoncés auf den Äußerungsprozess (énonciation), d. h. auf den Text, der die vom Dichter dargestellte Welt im darstellenden Textraum in sprachlicher Form präsentiert. Wenn wir nun auch nach dem semantischen Feld der einzelnen Substantive, insbesondere nach demjenigen von «fiore» fragen, eröffnen sich uns neue interessante Sinnzusammenhänge. Schon das Wörterbuch bietet unter dem Eintrag «fiore» eine reiche Palette übertragener Bedeutungen, und der Italianist wird gleich an die franziskanischen Fioretti und an die «fiori di bel parlare» des Novellino erinnert. Entscheidend ist indessen stets der Kontext, in dem aus den virtuell vorhandenen, in einem bestimmten Kulturkreis möglichen Wortbedeutungen jeweils die eine oder andere aktualisiert wird. In Anbetracht dieser Problematik wollen wir uns nun vor allem dem rhetorischen Gebrauch von «erba e fior’» zuwenden, der bei Petrarca mehrfach nachweisbar ist. Wenn der Dichter in der Canzone CCCXXV von jener Zeit spricht, als er Laura erstmals umwarb («onde subito corsi, / ch’era de l’anno et di mi’ etate aprile, / a coglier fiori in quei prati d’intorno, / sperando a li occhi suoi piacer sì addorno»), so stimmen die Kommentatoren von Gesualdo bis Santagata überein, dass hier mit den Blumen die «fiori d’ingegno», d. h. Verse, gemeint seien. Und im Sonett CXIV, das dem babylonischen Avignon die Idylle von Vaucluse gegenüberstellt, heißt es im zweiten Quartett: «Qui mi sto solo; e come Amor m’invita / or rime e versi, or colgo erbette e fiori / seco parlando, ed a tempi migliori / sempre pensando; e questo sol m’aita». Dass das Blumenpflücken als Bild für die schriftstellerische Tätigkeit gebraucht werden kann, hat uns schon die Canzone CXXV gezeigt. Die rhetorisch-poetische Funktion von «flos» wird überdies durch eine Stelle aus dem Triumphus Famae bestätigt, wo der durch seine Redekunst alle überragende Cicero mit diesen Worten eingeführt wird: «e un al cui passar l’erba fioriva: / questo è quel Marco Tullio in cui si mostra / chiaro quanti eloquenzia ha frutti e fiori» (Triumph. Famae, 18-20). Schon bei Cicero und Quintilian wird «flos» als schmückendes Element der Rede verstanden. Beide kennen den Begriff der oratio florida und verwenden für die rhetorische Figur vor allem die Metaphern lumina und flores 14 . Auch color als Färbung der Rede ist den lateinischen Rhetorikern geläufig 15 . Es stellt sich indes die Frage, ob Petrarca Ciceros rhetorische Schriften vollständig gekannt hat, denn 14 Marcus Tullius Cicero, De Oratore 3.96 und Brut. 17. 66; Quintilianus, Institutiones Oratoriae VIII, 3,87 und XII, 10, 13. 15 Zu «color» cf. auch die Einträge in Ueding (éd.) 1994/ 2: 273-90 (s. color und colores rhetorici) und insbesondere Geoffroy de Vinsauf, Poetria nova, in Faral 1924: 220. 37 «Per Entro i Fiori e l’Erba»: Figuren der Ganzheit in Petrarcas Canzoniere diese wurden ja erst 1421 im Codex Laudensis aufgefunden, und auch Quintilians Institutiones - anläßlich des Konzils von Konstanz von Poggio Bracciolini in St. Gallen wiederentdeckt -, waren ihm noch nicht in vollem Umfang zugänglich. (In einer der Familiares bezeichnet Petrarca den Codex mit dem Quintilian-Fragment, der ihm von Lapo da Castiglionchio geschenkt wurde, als «discerptus et lacer») 16 . Die häufige Verwendung von «flos» im rhetorischen Kontext - gerade auch bei spätantiken und mittelalterlichen Autoren - läßt indessen nicht den geringsten Zweifel am hohen Bekanntschaftsgrad dieses spezifischen Wortsinns aufkommen. Hieronymus, der mehrmals auf die rhetorischen Schriften Ciceros Bezug nimmt, lobt im Vorwort der Vulgata die Eloquenz des Propheten Isaias («illo venustissimo eloquentiae suae flore») und verweist auf die Schwierigkeiten, die sich bei der Übersetzung eines derart blütenreichen Stils ergäben («ut florem sermonis eius translatio non potuerit conservare») 17 . Macrobius zeigt in den Saturnalia, wie Vergil seine Sprache durch Anleihen bei verschiedensten Autoren vervollkommnet habe («quos ex omnibus scriptoribus flores vel quae in carminis sui decorem ex diversis ornamenta libaverit Vergilius») 18 . Isidor bewundert in den Etymologiae die flores Gregors des Großen 19 . Und bei Alanus ab Insulis besteigt die allegorische Figur der Rhetorik den mit Blumen («flores») und Edelsteinen («gemmae») geschmückten Wagen des Prudentius 20 . 4. Der rhetorische Gehalt von «flos» ist auch für die romanischen Literaturen des Mittelalters hinreichend belegt, doch wollen wir uns von jetzt an auf Italien beschränken. Ich werde nun versuchen, aus einer diachronischen Perspektive den Bedeutungswandel von «erba e fior’», bzw. den von «fiore», aufzuzeigen. Im Anschluß daran werde ich den metaphorischen Gebrauch dieses Wortpaars bei Petrarca an zwei Sonetten aus dem Canzoniere exemplifizieren. «Fiori et herba» kommt bereits in der frühesten italienischen Dichtung vor: so im Cantico di Frate Sole, wo der Ausdruck «coloriti flori et herba» das vierte Element kennzeichnet, wobei nicht so sehr die Schönheit, als vielmehr die Fruchtbarkeit der mütterlichen Erde hervorgehoben wird. Bei Franziskus sind Luft und Feuer männlich («frate vento, frate focu»), Wasser und Erde weiblich («sor acqua», «sora nostra matre terra»). Hören wir nun den genauen Wortlaut: «Laudate si’, mi’ Signore, per sora nostra matre terra, / la quale ne sustenta et governa / et produce diversi fructi con coloriti flori et herba» 21 . Dass hier zunächst die nährenden «frutti» und erst anschließend, sozusagen in begleitender Funktion, die bunten Wiesen genannt werden, scheint mir für den Geist des Sonnengesangs bezeichnend. Auch in allegorischen Darstellungen der Natur - eine solche liegt Brunetto Latinis Te- 16 Cf. Familiarum Rerum, XXIV, 7 (in Petrarca 1975: 1262). 17 Hieronymus, In Zach. 11 pr. S. 881-2; De viribus ill., praefatio. 18 Macrobius, ap. Sat. 6 1,2. 19 Isidor von Sevilla, Etym. 1, in González Cuenca 1983: 76. 20 Migne, vol. CCX, col. 350 (bei Faral 1924: 91). 21 Francesco D’Assisi, Cantico di Frate Sole, in Contini (ed.) 1970: 5. 38 G. Güntert soretto zugrunde - steht die Fruchtbarkeit im Vordergrund: Die Natur erzeugt reichlich «erbi e frutti e fiori»; diese bilden indes nur einen verschwindend kleinen Teil ihrer Gaben 22 . In der vulgärsprachlichen Liebesdichtung vor dem Dolce stil nuovo stößt man weit häufiger auf das meist ethisch motivierte Wortpaar «fiore e frutto» als auf seine ästhetische Variante «erba e fior’». «Fiore» allein, manchmal auch als «rosa aulente» hervorgehoben, ist bei den Sizilianern eine topische Bezeichnung für die Angebetete, während «erba» - für sich genommen - oft in Texten magisch-medizinischen Inhalts vorkommt. Die zweckgebundene Wendung «fiore e frutto» scheint jedoch in dieser von der Scholastik geprägten Epoche zu dominieren. So beginnt der aus Lucca stammende Bonagiunta Orbicciani eines seiner Sonette mit der Sentenz «Tutto lo mondo si mantien per fiore / se fior non fusse, frutto non seria», wodurch die Bedeutung des für das Fortbestehen der Menschheit unentbehrlichen Liebestriebs hervorgehoben wird. In den Terzetten tritt indes das gedankliche Fundament in den Hintergrund, denn hier wird nur noch mit der Liebesmetapher gespielt: «Eo son fiorito e vado più fiorendo; / in fiore ho posto tutt’ il mi’ diporto; / per fiore aggio la vita certamente. / Com’ più fiorisco, più in fior m’intendo; / se fior mi falla, ben sarïa morto, / vostra mercé, Madonna, fior aulente» 23 . Maestro Rinuccio versinnbildlicht das Heranwachsen der Liebe mit der Allegorie des Baumes, und sein Sonett «Amore ha nascimento e foglia e fiore» endet wie folgt: «Il fior d’amore è ’l primo nascimento / de lo disio ch’è posto nascoso; / la foglia del disio s’alarga e monta; / poi ven lo frutto e guarda compimento / di quello onde lo core è disioso, / sì come il frutto che per sol sormonta» 24 . Etwas skeptischer lautet ein Sprichwort aus der Sammlung Garzos: «Fiori con frutti / non fanno arbori tutti» 25 . Ästhetischem Empfinden begegnet man am ehesten in den Monatssonetten der sogenannten poeti realisti und in den meist etwas stereotyp gehaltenen Beschreibungen der Jahreszeiten. Präsentiert uns Folgore da San Gimignano im Monat April eine «gentil campagna / tutta fiorita di bell’erba fresca» 26 , so beschwert sich die Compiuta Donzella im Frühling darüber, dass ihr Vater sie zur Heirat zwinge und ihr die Lust an der «stagion che ’l mondo foglia e fiora» verderbe 27 . Wie Frühlingsanfänge darzustellen seien, war in den mittelalterlichen Poetiken nachzulesen. Darüber hinaus wirkte das Beispiel der Troubadours nach, doch die Wendung «erba e fior’» sucht man in der Lyrik des frühen Duecento vergebens. Im Dolce stil nuovo tritt das Frauenlob in den Vordergrund. Bei der Charakterisierung der Geliebten verbinden sich nun Naturbilder mit Lichtmetaphern, Irdisches mit Überirdischem. So vergleicht Guinizzelli die schöne Frau sowohl mit 22 Brunetto Latini, Il Tesoretto, in Contini (ed.) 1960/ 2: 183. 23 Bonagiunta Orbicciani, Sonett VII, in Contini (ed.) 1960/ 1: 271. 24 Maestro Rinuccino, «Amore ha nascimento . . . », in Contini (ed.) 1960/ 1: 432. 25 Garzo, Proverbi, in Contini (ed.) 1960/ 2: 301. 26 Folgore Da San Gimignano, D’aprile, in Contini (ed.) 1960/ 2: 409. 27 Compiuta Donzella, Sonett I, in Contini (ed.) 1960/ 1: 434. 39 «Per Entro i Fiori e l’Erba»: Figuren der Ganzheit in Petrarcas Canzoniere dem Morgenstern als auch mit der frühlingshaften Natur 28 . Noch intensivere Bilder erfindet Cavalcanti, der die Locus amoenus-Elemente vermehrt in seine Liebesdichtung einbaut, gleichzeitig aber eigene dichterische Wertmaßstäbe setzt. So wie der Himmel unvergleichlich größer und erhabener sei als die Erde, schreibt er in «Biltà di donna», so übertreffe der Glanz der geliebten Frau nicht nur den der Natur in voller Blütenpracht, sondern auch den kostbarster, kunstvoll gearbeiteter Edelsteine: «Rivera d’acqua e prato d’ogni fiore; / oro, argento, azzurro ’n ornamenti: / ciò passa la beltate e la valenza / de la mia donna . . . » 29 . Erotischer geht’s in der Ballata «In un boschetto trova’ pastorella» zu, wo die schöne Hirtin selbst die Initiative ergreift und die Naturszene Sinnlichkeit verströmt. Die traditionellen Metaphern «fior’ e foglia» werden hier ironisch verwendet: «Per man mi prese, / d’amorosa voglia, / e disse che donato m’avea ’l core; / menommi sott’una freschetta foglia, / là dov’i’ vidi fior d’ogni colore; / e tanto vi sentìo gioia e dolzore, / che ’l die d’amore - mi parea vedere» 30 . Eine noch stärkere Verbundenheit mit der Tradition des locus amoenus finden wir bei Dante, der am Läuterungsberg und insbesondere im Paradiso terrestre Vergils Elysische Felder in christliche Jenseitslandschaften verwandelt. Dabei formt er viermal das Wortpaar «dall’erba e dalli fior» (Purg. VII, 76), «tra l’erba e’ fior» (Purg. VIII, 100), «[l’aura] tutta impregnata dall’erba e da’ fiori» (Purg. XXIV, 147) und - mit einem deutlichen Anklang an Ovids Mythos vom Goldenen Zeitalter (Met. I, 101-2) - «vedi l’erbetta, i fiori e li arbuscelli / che qui la terra sol da sé produce» (Purg. XXVII, 134-35). Die schlichte Ausdrucksweise «erb(ett)a e fior’» verweist auf die Beschreibung des Irdischen Paradieses (Purg. XVIII); sie verträgt sich indessen gut mit dem Stilideal des sermo humilis, der manchenorts Sprache und Atmosphäre des Purgatorio prägt. Bei Dante findet man außerdem die bewußte metapoetische Verwendung von Naturbildern. So stellt er die Blumenmetapher schon in seiner ersten Ballata in einen poetologischen Kontext, da er von den «parolette mie novelle, / che di fiori fatto han ballata» spricht 31 . Im ersten Paradiso-Gesang reimt er sogar «erba» mit «verba», indem er das mythologische Glaukus-Motiv kunstvoll mit der Ankündigung einer neuen Poetik («trasumanar significar per verba . . . ») verknüpft. Eine weitere Fundgrube für unser Blumen-Gras-Motiv bilden die rime petrose, hier oft in der Negierung der schönen Naturszenarien: So heißt es in der Canzone «Io son venuto al punto de la rota», die von der Frühlingssonne zum Leben erweckten Zweige seien wie Gras und Blumen verdorrt, nur «in lauro, in pino o in abete» halte sich noch das Grün 32 . Diese wenigen Zitate zeigen, dass sich Petrarca bezüglich der vielfachen Bedeutung von «erba e fior’» vor allem an Dante halten konnte. Bei keinem anderen Dichter fand er eine ähnlich große Beliebtheit dieses einfachen Wortpaars. 28 Guido Guinizzelli, Sonett XV, in Contini (ed.) 1960/ 2: 472. 29 Guido Cavalcanti, Sonett V, in Contini (ed.) 1960/ 2: 494. 30 Contini (ed.) 1960/ 2: 556. 31 Dante Alighieri 1965: 39. 32 Dante Alighieri 1965: 154. 40 G. Güntert 5. Wenden wir uns nun einzelnen Gedichten Petrarcas zu. Im Sonett CXCII «Stiamo,Amor, a veder la gloria nostra» wird Laura zunächst in gewohnter Weise als Geschenk des Himmels, bzw. der Natur, dargestellt 33 . Das lyrische Ich fordert Amor auf, mit ihm gemeinsam die ungewöhnliche Schönheit dieser Frau zu betrachten. Durch die anaphorische Satzkonstruktion und die Wiederholung des Imperativs «vedi» fügen sich die Vorzüge Lauras schon in den ersten beiden Strophen zu einem Gesamtbild. Auffallend ist das Wort «abito», womit nicht ein farbenfrohes Kleid, sondern Lauras Benehmen und - metonymisch - ihre Person selbst gemeint sind 34 . Beziehen wir nämlich den Inhalt des zweiten Quartetts auf Laura, so erweist sich die syntaktische Verknüpfung in Vers 7 («che dolcemente i piedi e gli occhi move») als einfacher Relativsatz. Andere lesen das Pronomen «che» exklamativ, im Sinne von ‘quanto, che dolcemente! ’ und beziehen die Verse 7 und 8 ebenfalls auf «vedi». Da beide Lesarten die Kohärenz des Textes erhöhen - sei es durch die Erweiterung der Anapher, sei es in der Zentrierung der Aussage auf Laura -, erachte ich die eine wie die andere als akzeptabel. Die drei Verbformen «dora», «’mperla» und «’nostra» beschreiben, wie gesagt, nicht ein buntgeschecktes Kleid, sondern die ästhetischen Vorzüge Lauras: ihr goldenes Haar und ihre weiß-rote Gesichtsfarbe. Bemerkenswert ist ferner die in Vers 7 erscheinende, weiter unten ausgebaute Gegenüberstellung von Auge und Fuß, bzw. von oben und unten, womit Lauras strahlender Blick und ihr die Natur zum Erblühen bringender Fuß gemeint sind. Wenn wir nun, einer semiologischen Betrachtungsweise folgend, die Aussage der Quartette mit jener der Terzette vergleichen, so scheiden gewisse, von der Petrarca-Kritik vorgebrachte Deutungsvorschläge als mit dem Textsinn nicht kompatibel aus: Insbesondere betrachte ich im Relativsatz von Vers 4 das Substantiv «cielo» und nicht etwa «lume», bzw. «che», als Subjekt. Das hat seine Bewandtnis: In den Quartetten erscheint Laura als ein vom Himmel erschaffenes Wunder, das durch Süße («dolcezza»), Licht, Eleganz («arte») und Schönheit gefällt. In den Terzetten hingegen wird Laura selbst - bzw. ihr Auge - zum aktiv strahlenden Licht, während ihr Fuß die Blumen und Gräser zu neuem Glanz erweckt. Die Relation zwischen Spender und Empfänger, zwischen dem gebenden Himmel und der nehmenden Erde, wendet sich damit in ihr Gegenteil: Laura selbst wird zur sinngebenden Mitte, und darin zeigt sich das eigentliche Novum von Petrarcas Dichtung. Lesen wir nun das Sonett CXCII: Stiamo, Amor, a veder la gloria nostra, cose sopra natura altere e nove. Vedi ben quanta in lei dolcezza piove, vedi lume che ’l cielo in terra mostra. 33 Cf. auch CLIX: «In qual parte del ciel . . . ». 34 Noferi 1980: 29-49. Bezüglich des Wortsinns von «abito» akzeptiert diese Interpretin beide Lesarten und verweist auf den für Petrarca typischen Bedeutungsreichtum (p.33). Andrerseits ist festzuhalten, dass «abito» im Canzoniere nie bloß ‘Kleid’ bedeutet (cf. XXIII, LXXI, CC, CCXV, CCLXX, CCCXLVI). 41 «Per Entro i Fiori e l’Erba»: Figuren der Ganzheit in Petrarcas Canzoniere Vedi quant’ arte dora e ’mperla e ’nostra l’abito eletto e mai non visto altrove, che dolcemente i piedi e gli occhi move per questa di bei colli ombrosa chiostra. L’erbetta verde e i fior’ di color’ mille sparsi sotto quel’ elce antiqua e negra, pregan pur che ’l bel pe’ li prema o tocchi; e ’l ciel di vaghe e lucide faville s’accende intorno, e ’n vista si rallegra d’esser fatto seren da sì belli occhi. Dem Kenner der mittelalterlichen Poetiken fällt auf, dass sowohl die Eigenschaften Lauras («dolcezza», «lume» und «colori») als auch die ihretwegen wiederaufblühenden «fiori» eine rhetorische Konnotation enthalten. Auch die als Himmelsgabe gedeutete «arte», im Sinne von leggiadria, legt eine metapoetische Deutung nahe. Der Leser wird die poetologische Komponente jedoch vor allem in den Terzetten suchen, wo Petrarca sein eigenes Weltbild vorstellt. Hier wird er in der Tat nicht enttäuscht: Lauras Berühren der Blumen und Gräser unter der alten schattigen Steineiche - ein solcher Baum erscheint sowohl in Vergils VI. Ekloge als auch im horazischen Beatus ille - kommt einer poetischen Neubelebung der Sprache gleich. Gleichzeitig erfüllt ihr Leuchten den Himmel, der nun von ihr sein Licht erhält. Mit diesen Bemerkungen will ich Laura nicht zu einer Allegorie der Dichtung hochstilisieren. Da aber die Geliebte für das Ich zur einzig sinngebenden Instanz wird, übernimmt auch die ihr gewidmete Dichtung eine sinnstiftende Funktion: Laura und die Poesie bilden in Petrarcas Welt die alles belebende Mitte. Es fällt auf, dass seit dem Duecento das Frauenlob aus Metaphern besteht, die den semantischen Bereichen von lumen, flores und color entnommen sind. Schon Guittone d’Arezzo vertritt die Meinung, solche Vergleiche würden viel zu oft gebraucht, um ihren Zweck erfüllen zu können: Naturbilder wie «fiore», «stella» oder «gemma» seien schon deshalb ungenügend, weil die Schönheit der Frau alles sinnlich Wahrnehmbare übertreffe. Ich zitiere aus dem Sonett «S’eo tale fosse» die Strophen II und III: che, quando vuol la sua donna laudare, le dice ched è bella come fiore, flos e ch’è di gem[m]a over di stella pare, lumen e che ’n viso di grana ave colore. color Or tal è pregio per donna avanzare ched a ragione mag[g]io è d’ogni cosa che l’omo pote vedere o toccare 35 ? 35 Guittone D’arezzo, Sonett XXII, in Contini (ed.) 1960/ 1: 255. 42 G. Güntert Auch Guinizzellis berühmtes Sonett «Io voglio del ver la mia donna laudare» ist im ersten Teil nach dem rhetorischen Muster flores-lumen-colores aufgebaut. Die innovative Aussage manifestiert sich vor allem in den beiden Terzetten. Sie ist indessen derart bedeutsam, dass sie Dante in der Vita Nuova zu einem seiner schönsten Gedichte angeregt hat: «Tanto gentile e tanto onesta pare» 36 . Man beachte nun die kanonische Gliederung des Frauenlobs in den Quartetten, die das stilnovistische Programm der Terzette vorbereiten und es plausibel machen: Io voglio del ver la mia donna laudare ed assembrarli la rosa e lo giglio: flos più che stella dïana splende e pare, e ciò ch’è lassù bello a lei somiglio. lumen Verde rivèr a lei rasembro e l’âre tutti color di fior’, giano e vermiglio, color oro ed azzurro e ricche gioi per dare: gemmae medesmo Amor per lei rafina meglio. Passa per via adorna, e sì gentile ch’abbassa orgoglio a cui dona salute, e fa ’l de nostra fé se non la crede; e no.lle pò apressare om che sia vile; ancor ve dirò c’ha maggior vertute: null’om pò mal pensar fin che la vede 37 . Das rhetorische Muster lumen-flos-color wirkt auch bei Petrarca nach, doch widerstrebt das Reproduzieren klischeehafter Textstrukturen seiner dichterischen Phantasie. Wo er das Modell dennoch präsent hat, baut er es bis zur Unkenntlichkeit um. Ein solcher Text, der an den herkömmlichen Bilderkatalog des Frauenlobs erinnert, gleichzeitig aber die Einzigartigkeit Lauras betont, ist das Sonett CLX. In der Eingangsstrophe sehen wir Laura, wie sie als schönste unter den Frauen spricht und lacht; die zweite Strophe lobt ihre wie Sterne leuchtenden Augen (lumen), die dem liebenden Ich als einzige Orientierung dienen; in der dritten erscheint sie selbst - im Grase sitzend oder einen Strauß von Zweigen an ihre Brust drückend -, und wird in der kalten Jahreszeit zur einzigen Blume (flos). Das Schlußbild besticht vor allem durch den kräftigen Farbkontrast von Grün und Gold (color), der dadurch entsteht, dass sich die in Gedanken Versunkene einen Kranz aufs Haupt legt. Ob mit jenen Zweigen, wie viele Kommentatoren meinen, die des Lorbeers gemeint seien, geht aus dem bisher Gesagten noch nicht eindeutig hervor. Da aber der Name Lauras mit dem «lauro» schon durch die Parono- 36 Dante Alighieri, Vita Nuova, XXIV. 37 Guido Guinizzelli, in Contini (ed.) 1960/ 2: 472. 43 «Per Entro i Fiori e l’Erba»: Figuren der Ganzheit in Petrarcas Canzoniere masie verbunden ist und die Szene zudem in der rauhen Jahreszeit spielt, ist diese Bedeutung nicht von der Hand zu weisen. Auch eine Dante-Reminiszenz aus den Petrosen spräche für den Lorbeer: «Ramo di foglia verde a noi s’asconde / se non in lauro, in pino o in abete / o in alcun che sua verdura serba; / e tanto è la stagion forte ed acerba / c’ha morti i fioretti per le piagge, / li quai non poten tollerar la brina: » 38 . Wir lesen nun das Sonett CLX: Amor et io sì pien di meraviglia come chi mai cosa incredibil vide, miriam costei quand’ella parla o ride che sol se stessa, et nulla altra, simiglia. Dal bel seren de le tranquille ciglia sfavillan sì le mie due stelle fide, ch’altro lume non è ch’infiammi et guide chi d’amar altamente si consiglia. Qual miracolo è quel, quando tra l’erba quasi un fior siede, over quand’ella preme col suo candido seno un verde cespo! Qual dolcezza è ne la stagione acerba vederla ir sola coi pensier’ suoi inseme, tessendo un cerchio a l’oro terso e crespo! In den Quartetten wird der gesellschaftliche Bereich (Laura unter den Frauen) dem persönlich-amourösen Beziehungsfeld Ich-Laura gegenübergestellt. Die Terzette scheinen wiederum den Gegensatz zwischen unten (Lauras Beziehung zur Natur) und oben hervorheben zu wollen (Lauras Haupt, während sie sich den Kranz aufsetzt). Als nicht weniger signifikant für diesen Text erachte ich jedoch den Parallelismus zwischen den Strophen I und III, bzw. zwischen II und IV, weil in den beiden letzteren nicht so sehr das bewundernde Staunen, als vielmehr die emotionale Teilnahme des Ichs betont wird. Die Isotopie des Lichtes und der Flamme in Strophe II («sfavillan», «infiammi») trägt ihrerseits dazu bei, die Intensität dieser nicht bloß kontemplativen Beziehung zu verstärken. Beim Vergleich der anaphorischen Strophenanfänge in den Terzetten ergibt sich eine analoge Differenzierung: Im Gegensatz zu dem Staunen bezeugenden Ausdruck «qual miracolo» (III), der die Wendung «pien di meraviglia» aus I wiederaufnimmt, wird mit «qual dolcezza» (IV) ein emotionales Partizipieren an der von Laura ausgehenden ‘Süße’ angedeutet. Das Ich hat an Lauras Meditation, aus welcher Dichtung entsteht, teil. Auch die Figur des Lorbeerkranzes, die unseres Erachtens hier nun doch gemeint ist, stützt diese metapoetische Interpretation der Schlußstrophe, zumal das reine Gold der Haare («oro terso») und der kreis- 38 Dante Alighieri 1965: 154. 44 G. Güntert förmige Blätterkranz («cerchio») als Bilder der Vollkommenheit gedeutet werden können. 6.Wir kommen zum Schluß. Das Thema, das uns hier beschäftigt hat, ist nicht leicht einzugrenzen. Dies hat seine Gründe: Zunächst sind wir mit dem Wortpaar «erba e fior’» von bloßen Figuren und nicht von Bedeutungen ausgegangen, dies obschon uns bewußt war, dass gleiche Figuren je nach Kontext verschiedene semantische Funktionen übernehmen können. Zudem haben wir uns nicht auf «erba e fior’» beschränkt, sondern sind - vor allem in den literaturhistorischen Exkursen - auch verwandten Wortpaaren und insbesondere der Metaphorik von «fiore» nachgegangen. Der spezifische Charakter von Petrarcas Lyrik stellt sich indessen gerade im Vergleich mit der früheren Dichtung in aller Deutlichkeit heraus. Dabei ergeben sich teilweise neue Einsichten in die Entwicklung der italienischen Dichtung: etwa die Erkenntnis, dass der Ausdruck «erba e fior’» zunächst im Sonnengesang des Franziskus, dann in Dantes Purgatorio und schließlich mit auffallender Häufigkeit im Canzoniere vorkommt, derweilen er bei andern großen Lyrikern des Duecento fehlt. Es scheint, als werde Petrarca beim Evozieren poetischer Orte auch an den dantesken Mythos vom Irdischen Paradies erinnert: beides sind Naturszenarien und mythische Orte der Glückseligkeit, die den Dichter einerseits zur Einfachheit verpflichten, andrerseits zu poetischen Höchstleistungen anspornen. Eine gewisse Geschlossenheit in der Darstellung des zu untersuchenden Wortmaterials ergab sich erst aus der Bevorzugung der rhetorischen Funktion von «erba e fior’». Diejenige von «fiore» war der Forschung zwar hinreichend bekannt, und auch hier soll nochmals Hugo Friedrich zu Wort kommen: «Der Komplex “Dichten” deutet ebenfalls in landschaftliche Elemente, nämlich vermittels des Wortes fiore, das als rhetorischer Terminus Schmuck des Ausdrucks, eine Figur der Redekunst bedeutet und mühelos zu Versen über blumenreiche Wiesen hinlenkt» 39 . Beim systematischen Durchgehen der in Frage kommenden Textstellen stellte sich aber heraus, dass nicht so sehr «fiore», als vielmehr «erba» die poetologische Funktion einer Figur der Ganzheit erfüllt, mit der sowohl das Naturszenarium als auch der Textraum gemeint sein können (vgl. den Schlußvers der fünften Strophe von CXXVI). Bisher haben wir den Canzoniere als einen in sich geschlossenen Makrotext betrachtet und seine Sonderstellung innerhalb der lyrischen Tradition untersucht. Eine andere Perspektive, die das Nachwirken dieser Dichtung in der europäischen Lyrik aufzeigen würde, konnte hier nicht eingebracht werden. Zum Schluß möchte ich aber den Rahmen des bisher Dargestellten doch noch durch einen Ausblick auf den Petrarkismus erweitern. Ich werde mich dabei auf ein einziges repräsentatives Beispiel, den großen französischen Lyriker Pierre de Ronsard, beschränken. Das dritte Gedicht des Second livre des Sonnets pour Hélène erweist sich als Wiederaufnahme und poetische Neugestaltung von Petrarcas Sonett CXCII, das 39 Dante Alighieri 1965: 199. 45 «Per Entro i Fiori e l’Erba»: Figuren der Ganzheit in Petrarcas Canzoniere wir interpretiert haben, wobei Ronsard zudem das andere von uns betrachtete Gedicht, nämlich CLX, präsent hatte. Wenn ein Dichter der Renaissance Petrarca liest, ergeben sich beinahe zwangsläufig signifikante ideologische Veränderungen: So tritt in Ronsards Sonett III nicht nur die göttliche Natur, bzw. der Himmel, sondern auch Amor in der Rolle des Destinateur auf. Doch die Umkehrung der Spender-Empfänger-Beziehung, die uns bei Petrarca als das eigentliche Novum erschienen ist, zeigt sich auch in diesem Gedicht. Die Quartette preisen das Wesen, die Terzette das Tun Hélènes. Zunächst sehen wir ihr Auge heller als die Lichter in Amors Tempel leuchten (I) 40 . Anschließend wird gesagt, ihr beispielhaft schöner Körper gleiche der Morgenröte und ihr edler Geist herrsche über Schicksal und Natur (II). In den Terzetten triumphiert nun die handelnde Hélène einerseits über Amor, indem sie wie eine neue Aphrodite Blumen um sich sprießen läßt, andrerseits über die göttliche Natur, weil ihrem strahlenden Auge ein Frühling entspringt und die von ihr ausströmende Liebe Welt und Himmel verschönert: Amour, qui as ton regne en ce monde si ample, Voy ta gloire et la mienne errer en ce jardin: Voy comme son bel oeil, mon bel astre divin, Surmonte de clairté les lampes de ton Temple. Voy son corps des beautez le portrait et l’exemple, Qui ressemble une Aurore au plus beau d’un matin: Voy son esprit, seigneur du Sort et du Destin, Qui passe la Nature, en qui Dieu se contemple. Regarde-la marcher toute pensive à soy, T’emprisonner de fleurs et triompher de toy, Pressant dessous ses pas les herbes bien-heureuses. Voy sortir un Printemps des rayons de ses yeux: Et voy comme à l’envy ses flames amoureuses Embellissent la terre et serenent les Cieux 41 . So wie Laura, steht auch Hélène in einer metonymisch-metaphorischen Beziehung zur Poesie. Im Vergleich zu Petrarca geht Ronsard jedoch, das Aemulatio- Prinzip auf die Spitze treibend, insofern einen Schritt weiter, als er in Hélène den Ausdruck einer Schöpfung sieht, welche die geschaffene Welt an Schönheit und Wirkung übertrifft. Wie ist das zu verstehen? Die Quartette beschreiben Hélène als einzigartige Frau, die Terzette als Figur der Dichtung, wie sie in Gedanken vertieft über blühende Auen wandert, während ihr strahlendes Auge der Welt einen neuen Frühling schenkt. Dass Ronsard die rhetorisch-poetologische Verwendung 40 Cf. Ronsard 1993/ 1: 380s., die den Text der Werkausgabe von 1584 reproduziert. In der Ausgabe von 1578 lautet Vers 4 noch: «Reluit comme une lampe ardente dans un temple». 41 Ronsard 1993/ 1: 380. 46 G. Güntert der Blumen-Gras-Metaphorik kannte, steht außer Zweifel, stammt doch von ihm jene berühmte Definition der Dichtung, mit der ich meine Ausführungen schließen möchte: AU LECTEUR (1587) Poème et Poésie ont grande différence. Poésie est un pré de diverse apparence, Orgueilleux de ses biens, et riche de ses fleurs, Diapré, peinturé de cent mille couleurs, Qui fournist de bouquets les amantes Pucelles, Et de vivre les camps des Abeilles nouvelles. Poème est une fleur, ou comme en des Forés Un seul Chesne, un seul Orme, un Sapin, un Cyprès, Qu’un nerveux Charpentier tourne en courbes charrues, Ou en carreaux voutez des navires ventrues, Pour aller voir après de Thetis les dangers, Et les bords enrichis des biens des estrangers . . . 42 . Zürich Georges Güntert Bibliographie Appel, C. 1924: «Petrarka und Arnaut Daniel», Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen CXLVII: 212-35 Avalle, d’A. S. 1977: Ai luoghi di delizia pieni, Milano-Napoli Casu, A. 1992-93: La tradizione lirica provenzale nei RVF. Contributi ed ipotesi per un repertorio, tesi di laurea discussa presso la Facoltà di Lettere e filosofia dell’Università di Pisa Contini, G. 1960 (ed.): Poeti del Duecento, 2 vol., Milano-Napoli Contini, G. 1970 (ed.): Letteratura italiana delle origini, Firenze Contini, G. 1970: Varianti e altra linguistica. Una raccolta di saggi (1938-1968), Torino Curtius, E.R. 1961: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern Dante Alighieri 1965: Rime, ed. G. Contini, Torino Dante Alighieri 1996: Vita Nuova, ed. G. Gorni, Torino Faral, E. 1924: Les Arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge, Paris Friedrich, H. 1964: Epochen italienischer Lyrik, Frankfurt a.M. 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