Vox Romanica
vox
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Francke Verlag Tübingen
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2002
611
Kristol De StefaniAnmerkungen zur Würzburger Federprobe
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2002
Ricarda Liver
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Anmerkungen zur Würzburger Federprobe Die sogenannte Würzburger Federprobe, eine Schreiberglosse aus dem 10./ 11. Jh., die sich in einem St. Galler Codex von Ciceros De officiis findet, der heute in Würzburg aufbewahrt wird, gilt als ältestes Zeugnis rätoromanischer Schriftlichkeit. Die Lektüre des 2001 erschienenen Buches von Gerold Hilty, Gallus und die Sprachgeschichte der Nordwestschweiz (cf. die Besprechung in diesem Band p. 314), hat mich dazu angeregt, einige Probleme neu zu überdenken, die sich im Zusammenhang mit diesem Sprachdokument stellen. Hilty nimmt ganz am Schluss seiner Darstellung (137-39) und ausführlicher im Anhang 19 (213-18) Stellung zu diesem Text, der wie alle frühen und kurzen Zeugnisse romanischer Schriftlichkeit äusserst interpretationsbedürftig ist. Ich rechne mit dem Verständnis Gerold Hiltys für meine neu aufgestiegenen Zweifel an der Gültigkeit und vor allem der Schlüssigkeit der bisherigen Deutungen. Niemand weiss besser als er, der sich intensiv mit den Strassburger Eiden, der Eulalia- Sequenz, dem Indovinello veronese und anderen frühen Texten befasst hat, wie hypothetisch alle Interpretationsvorschläge auf diesem unsicheren Terrain sind. Auslöser meiner Zweifel an einer Deutung, die ich selbst bisher vertreten hatte 1 , war der Hinweis Hiltys auf den Beitrag von Roncaglia «Dieci mosche» 2 . Der Vorschlag von Roncaglia, eine Sprichworttradition anzunehmen, in der ein Begriff «zehn Fliegen» die Bedeutung der italienischen Redensart «un pugno di mosche» hätte, mag auf den ersten Blick bestechen. Sieht man sich aber im Material des Thesaurus proverbiorum medii aevi (TPMA) 3 um, was seit dem eben erfolgten Abschluss dieses Werkes inzwischen leicht möglich ist, findet man nichts, was die Annahme Roncaglias stützen könnte. Wo die Zahl 10 in Sprichwörtern vorkommt, steht sie gerade nicht für eine kleine, unbedeutende Menge, sondern im Gegenteil für eine grosse Zahl, oft in Gegenüberstellung zu 1 als Repräsentanten einer kleinen Zahl (nach dem Schema: besser 1 x als 10 y). Man könnte nun argumentieren, angesichts der in der Sprichworttradition ebenfalls gut bezeugten Bedeutung ‘Wertlosigkeit’ für die Fliege müsste auch ein Ausdruck «zehn Fliegen» für einen geringen Wert (‘fast nichts’) stehen können. Das würde ich überhaupt nicht bestreiten. Was mich jedoch veranlasst, alternative Interpretationsmöglichkeiten des Textes, in denen diege nicht Zahlwort, sondern eine Verbform ist, von neuem in Betracht zu ziehen, ist die unbefriedigende Interpretation, die bisher für das Fehlen eines Plural-s im Substantiv muscha vorgebracht worden ist. 1 Liver 1991, Liver 1995. 2 Roncaglia 1970. 3 Der letzte, 13. Band ist anfangs 2002 erschienen. Cf. Bibliographie unter TPMA. 179 Anmerkungen zur Würzburger Federprobe Der Vorschlag von Hubschmied (Bischoff-Müller 1954: 141), muscha als Kollektiv des Typs diesch bratscha zu verstehen, überzeugt nicht, da es hier nicht um einen Massbegriff wie bei bratscha geht, der die morphologisch ausgefallene Form des Substantivs rechtfertigt. Eine Verbindung von Zahlwort und Kollektiv (man stelle sich etwa surs. *diesch crappa vor! ) ist undenkbar. Ein Versehen des Schreibers anzunehmen, der das Pluralzeichen einfach vergessen hätte (Hilty 2001: 215), ist eine ultima ratio, zu der man nicht gerne Zuflucht nimmt. Der Vorschlag von Contini (Bischoff-Müller 1954: 143), den Hilty ablehnt, ist meiner Meinung nach nicht so abwegig, wie das bisher dargestellt wurde, und verdient wenigstens eine neue Prüfung. Contini (loc. cit.) schlägt vor, habe diege als habere debet zu verstehen. Was habe als Infinitiv angeht, kommt man nicht an der Form time der Einsiedler Interlinearversion vorbei, die ohne Zweifel einem lateinischen timere entspricht, so erstaunlich diese Form auch in jener Zeit anmuten muss 4 . Diege als Resultat von debet ist allerdings lautlich nicht vertretbar, wohl aber als Reflex des Konjunktivs debeat. Eine palatale Affrikata ist das normale Ergebnis von lat. -bjrespektive -jin debeat, so noch im heutigen Surselvischen deigi 5 . Der Palatal ist im übrigen auch in Konjunktiven der altitalienischen Sprache der Lyrik (degia, deggia) geläufig. Schwieriger ist (trotz vereinzelten Parallelen im ital. Sprachraum 6 ) die Diphthongierung des Tonvokals zu rechtfertigen.Was die Wortstellung angeht, die als Einwand gegen die Deutung von Contini angeführt worden ist (Hilty 2001: 215), darf an die vulgärlateinischen Verbalperiphrasen erinnert werden, die zum Futur und zum Konditional eines grossen Teils der Romania geführt haben. Auch die Anekdote aus den Casus Sancti Galli, die Hilty gegen den Schluss seiner Darstellung zitiert (Hilty 2001: 134s.), operiert mit einem als romanisch eingestuften Zitat, in dem das konjugierte Verb an zweiter Stelle steht (cald est). Ohne eine entsprechende Lösung als die richtige oder auch nur die bessere darstellen zu wollen, könnte ich mir eine Deutung des Textes im Sinne von Contini, unter Berücksichtigung des überzeugenden Vorschlags von Sabatini zu ne ( inde), wie folgt vostellen: Diderros inde habere debeat muscam, mit der Übersetzung: «Diderros soll davon nichts erhalten/ damit nichts verdienen». Die Interpretion von musca/ muscha als ‘nichts, eine Kleinigkeit, ein Pfifferling, ein Pappenstiel . . .’ ist gut gestützt sowohl durch die lateinische Tradition als auch die Zeungnisse der Sprichwörter aus dem romanisch-germanischen Mittelalter 7 . Die bisherige Deutung Diderros inde habet decem muscas hat durchaus auch ihre Überzeugungskraft, allerdings mit dem nicht unbeträchtlichen Schönheitsfehler des fehlenden Plural-s. 4 Cf. L IVER 1986: 400s. 5 Cf. D ECURTINS 1958: 154s. 6 Cf. Monaci/ Arese 1955: 52 (30,166). 7 Cf. Sueton., Domit. 3. Petron. 42. TPMA Artikel FLIEGE. 180 Ricarda Liver Ist die Würzburger Federprobe tatsächlich das älteste Zeugnis rätoromanischer Schriftlichkeit? Die Wahrscheinlichkeit und die Überlieferungslage sprechen dafür; einen strikten Beweis gibt es allerdings nicht. «Wir dürfen es jedoch glauben», wie mir ein bekannter Bündner Pater in Bezug auf die Authentizität der Reliquien des hl. Placidus sagte. Bern Ricarda Liver Bibliographie Decurtins, A. 1958: Zur Morphologie der unregelmässigen Verben im Bündnerromanischen, Bern (RH 62) Hilty, G. 2001: Gallus und die Sprachgeschichte der Nordostschweiz, St. Gallen Liver, R. 1986: «i-Plurale im Altsurselvischen», in: G. Holtus/ K. Ringger (ed.), Raetia antiqua et moderna. W. Th. Elwert zum 80. Geburtstag, Tübingen: 391-406 Liver, R. 1991: Manuel pratique de romanche. Sursilvan - vallader. Deuxième édition revue et corrigée, Cuira (RR 4) Liver, R. 1995: «Bündnerromanisch», in: LRL 2/ 2: 68-81 Monaci, E./ Arese, F. 1955: Crestomazia italiana dei primi secoli. Nuova edizione riveduta e aumentata. Roma/ Napoli/ Città di Castello Roncaglia, A. 1970: «Dieci mosche», CN 30: 131-34 TPMA = Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Begründet von Samuel Singer. Ed. Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Vol. 1-13, Berlin/ New York 1995-2002
