eJournals Vox Romanica 61/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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2002
611 Kristol De Stefani

Monika Türk, «Lucidaire de grant sapientie»: Untersuchung und Edition der altfranzösischen Übersetzung I des «Elucidarium» von Honorius Augustodunensis, Tübingen (Niemeyer) 2000 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie; vol. 307).

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2002
S.  Dörr
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Monika Türk, «Lucidaire de grant sapientie»: Untersuchung und Edition der altfranzösischen Übersetzung I des «Elucidarium» von Honorius Augustodunensis, Tübingen (Niemeyer) 2000 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie; vol. 307). In der Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts wandte sich die Geschichtswissenschaft in Deutschland verstärkt anthropologischen Ansätzen zu, die nur ungenau mit der Bezeichnung «Mentalitätsgeschichte» etikettiert sind. Diese «neue» Sicht rückte eine Reihe von Texten in das Zentrum des historischen und philologischen Interesses, an denen man die Lebenswelt des einfachen Volkes im Mittelalter zu erkennen suchte. Einem dieser Texte, dem Elucidarium, und seinen verschiedenen Übersetzungen und Bearbeitungen in französischer Sprache widmete sich das Teilprojekt «Die Rezeption des Elucidarium im französischen Mittelalter» des Würzburger Sonderforschungsbereiches 226 «Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur des Mittelalters». Das Elucidarium des Honorius Augustodunensis, verfaßt um 1100, ist ein Lehrdialog, der die Inhalte der christlichen Glaubenslehre von der Entstehung der Welt bis zu ihrem Ende darstellt und der durch die große Zahl von volkssprachlichen Übersetzungen als Katechismus des praktischen Glaubens diente. Frau Türk beschließt die Reihe der Ausgaben französischer Elucidaires 1 mit der Edition der sogenannten altfranzösischen Übersetzung I. Im ersten Hauptteil (1-203), nur kurz Untersuchung überschrieben, analysiert sie folgende Bereiche: 1. Entstehung und Überlieferung des Lucidaire (1-52): Die 21 Handschriften, die den Text überliefern, werden genau beschrieben und klassifiziert. Das wichtigste Ergebnis ist die Entscheidung für den Kodex BN fr. 19920 als Leithandschrift und die Bestimmung des Textdatums: 1. Viertel des 13. Jahrhunderts. 2. «Pur ceus ki ne sevent mie Ne lettreüre ne clergie» - Glaubenswissen in der Volkssprache (53-87): Frau Türk weist in diesem Abschnitt nach - die Überschrift führt ein wenig in die Irre -, daß der Übersetzer die lateinische Vorlage im allgemeinen präzise wiedergibt, wobei die von ihr konstatierten Veränderungen im Text (z. B. Kürzen oder Weglassen von Bibelzitaten, Konkretisieren von Allegorien oder zusätzliche Erklärungen schwieriger Textpassagen) auf ein wenig gebildetes Publikum zielen. 3. Theologisch bedingte Veränderungen (88-132): Anhand von drei Bereichen, nämlich der Sakramentenlehre, der Prädestination und der Eschatologie, belegt Frau Türk die durch den theologischen Fortschritt bedingten zaghaften Modernisierungsversuche und das Aussparen umstrittener Themen. Einzelne Kopisten gehen auf diesem Weg weiter, ohne daß von einer grundlegenden Umgestaltung des Textes gesprochen werden kann. 4. Der Lucidaire als Spiegel volkstümlicher Glaubens- und Lebenswelt (133-46): Anhand der Bereiche Teufel/ Seele der Gerechten/ Bestand für die Toten werden volkstümliche Glaubensvorstellungen dokumentiert. 5. Funktion und Publikum des Lucidaire (147-72): In diesem rezeptionsästhetischen Exposé kommt Frau Türk zu dem Ergebnis, daß der Text nicht für eine spezifische Schicht von Lesern ausgelegt ist, sondern sowohl Geistliche als auch Laien ansprechen kann. Die Veränderungen in einzelnen Handschriften können auf geistliche Auftraggeber schließen lassen. Kann man aber ausschließen, dass ein Autor-Schreiber seine eigenen Vorstellungen einbringt? 6. Vom Einzeltext zur Enzyklopädie (173-99): Dieses Kapitel belegt, wie in einigen Handschriften der Lucidaire als in sich geschlossener Text Bestandteil eines enzyklopädisch ausgerichteten Gesamtprogramms ist. Frau Türk zeigt auf, daß die Zusammenstellung von Texten unterschiedlicher Wissensgebiete in den Manuskripten als Vorform enzyklopädischer Kompilation begriffen werden kann. 7. Der Lucidaire - eine Erfolgsgeschichte (200-02): Dieses, den ersten Hauptteil abschließende Kapitel, möchte den Erfolg des Lucidaire belegen, wobei die 325 Besprechungen - Comptes rendus 1 DEAF-Sigel: ElucidaireIT; die anderen Editionen sind ElucidaireII/ IV/ VK; ElucidaireIIID (nicht in Würzburg entstanden); ElucidaireGilR; ElucidaireSecR. Argumente (21, teilweise fragmentarisch erhaltene Handschriften; drei Texte, denen der Lucidaire als Quelle gedient hat; Rezeption des Textes in anderen Sprachen, leider ohne Belege) relativ schwach sind. Der zweite Hauptteil, Edition (207-404), wird eingeleitet von Methodischen Vorbemerkungen zur Edition (207-09), in denen Frau Türk die Wahl des Kodex BN fr. 19920 als Leithandschrift begründet und die Prinzipien der Edition darlegt (alle Eingriffe in die Basishandschrift sind im kritischen Apparat dokumentiert, in dem sich zusätzlich noch eine Auswahl der Lesarten der übrigen Handschriften findet). Die eigentliche Edition und der dazugehörige Variantenapparat machen einen sehr zuverlässigen Eindruck und können als Modell für Editionen dienen, die eine größere Zahl von zum Teil divergierenden Handschriften berücksichtigen müssen. Abgeschlossen wird die Arbeit von einem Auswahlglossar (mit Verweisen auf TL, Gdf und FEW; DEAF und AND scheinen unbekannt zu sein; das ist im Jahre 2000 inakzeptabel) (405-32), einem Namensindex (433-34), der Bibliographie (435-47) und dem Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen (448). Mit dieser Arbeit gelingt Frau Türk ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der mittelalterlichen Geistesgeschichte. Auch die französische Sprachgeschichtsschreibung wird von der Auswertung des Lucidaire nur profitieren können. Abschließend einige kleinere Anmerkungen: (12) Nach LångforsIncip 74 findet sich ab f° 110 v°b ApostropheCorpsB 2 ; die Hs. BN fr. 1036 ist die Basis der Ausgabe L°, die Frau Türk offensichtlich entgangen ist; (17) «einen Traité de fauconnerie (f. 83-87r°)»: es handelt sich um zwei Texte, ab f° 83 r° um DancusT, ab f° 85 v° um FaucGuillT; «eine Übersetzung der vier Evangelien» = BiblePar; auf f° 319-320 finden sich Lieder von Perrin [S 80]; (19) Oxford, Bodleian Library 652 l. Oxford, Bodleian Library Bodl. 652; die Handschrift wird im Katalog auf die 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert; N94: 301 l. 300-301; (22) London, British Museum l. London, British Library; (23) BN fr. 423 datiert der DEAF auf den Anfang des 14. Jahrhunderts; (25) BN fr. 187 ist auf die Mitte des 14. Jahrhunderts zu datieren; (27) Lille, Bibliothèque Municipale 190: Nummer fraglich, im Katalog Rigaux hat die Handschrift die Nr. 190, bei Le Glay die Nr. 11; N152: 102 l. 101; (53) «Als im 13. Jahrhundert der anonyme Übersetzer des Lucidaire zu arbeiten begann, hat das Französische als Literatursprache einen ersten Höhepunkt bereits erreicht; es dient vor allem der Abfassung poetischer Werke»; diese Aussage berücksichtigt zum einen nicht das Textdatum 1. Viertel 13. Jahrhundert und lässt zum anderen die Werke von Philippe de Thaon, Lapidarien, medizinische Texte oder auch Enzyklopädien außer acht, die vor der Mitte des 13. Jahrhunderts verfaßt worden waren; zur Edition: 216, 11: oil l. oïl (auch 256, 5; etc.); 221, 9 pales l. palés (auch 221, 11; etc.); 262, 7 trai l. traï; 264, 1 reancon l. reançon; 267, 5 aincois l. ainçois (leider wurde prinzipiell auf die Verwendung der Cedille verzichtet); 273, 10 poes l. poés; 288; 361, 1 en une posé l. en une pose (cf. TL 7, 1629 pose ‘Zeitraum, Zeit lang’); zum Glossar: das Auswahlglossar «enthält nur die weniger geläufigen altfranzösischen Wörter, die in der Leithandschrift des Lucidaire, gelegentlich auch in den übrigen Handschriften vorkommen». «Weniger geläufig» ist einerseits kein Kriterium für ein wissenschaftliches Glossar und andererseits widersprechen die aufgenommenen bzw. nicht aufgenommenen Wörter dieser Vorgabe. So sind abatre, achoison, besant, doutance aufgenommen, es fehlen aber zum Beispiel: anginial ‘engelhaft’, 228, 11, Ms. 14. Jh. (fehlt FEW 24, 562b); commere ‘Gevatterin’, 314, 5 (wenig belegt, cf. FEW 2 2 , 945b); corone ‘Preis’, 342, 2 (schlecht belegt, cf. TL 2, 887; FEW 2 2 , 1209a), lascemenz (var. lanchemenz) ‘Band’, 314, 4 (einziger Beleg im Französischen, vgl. apr. lasamen ‘lien’, FEW 5, 178a); sofflement de nés ‘Geruchsinn’, 232, 7 (fehlt 326 Besprechungen - Comptes rendus 2 Alle hier verwendeten Sigel sind die des DEAF. Die Konsultation der Bibliographie des DEAF (jetzt on-line unter: www.haw.baden-wuerttemberg.de/ projekte/ deaf.html) hätte geholfen, einige Ungenauigkeiten zu vermeiden und hätte zudem die Arbeit der Herausgeberin erleichtert. FEW 12, 410a); die Definitionen bestehen aus Übersetzungsangeboten und sind daher teilweise problematisch, vor allem dann, wenn mehrere «Teildefinitionen» für einen Beleg dienen sollen, so z. B. agaiteeur ‘Nachsteller, Anstifter’ (wohl eher ‘Nachsteller’); amonnestement ‘Zureden; Verführung’ (wohl ‘Verführung’); anuieuse ‘widerwärtig, verdrußbereit, langweilig’, etc.; es ist inakzeptabel, daß der Leser aus den semantisch verschiedenen Angeboten das ihm passend erscheinende aussuchen soll; außerdem spricht das Kürzel s.d. hinter der Bedeutungsangabe des FEW für eine mangelnde Vertrautheit beim Umgang mit diesem Hilfsmittel (alle Wortformen, Bedeutungen und Belege des FEW sind im Prinzip datiert); zur Bibliographie (447): Tobler-Lommatzsch, Berlin 1955l. Berlin, Wiesbaden 1925-; Wartburg, W. von, FEW Tübingen 1948l. Bonn, Heidelberg, Leipzig, Basel 1922-, auch in solchen Dingen wäre die Benutzung der DEAF-Bibliographie hilfreich und geboten. S. Dörr H Ernstpeter Ruhe (ed.), Sydrac le philosophe, Le livre de la fontaine de toutes sciences, Edition des enzyklopädischen Lehrdialogs aus dem XIII. Jahrhundert, Wiesbaden (Dr. Ludwig Reichert Verlag), 2000, xvi + 490 p. Der Livre de Sydrac le philosophe oder auch Livre de la fontaine de toutes sciences stellt eine der großen Enzyklopädien des französischen Mittelalters dar und ist aufgrund seiner Sprache wie auch seines Inhalts in eine Reihe zu stellen mit dem Livres dou Tresor des Brunetto Latini (ca. 1267, BrunLatC 1 ), der Image du Monde des Gossouin de Metz (ca. 1246/ 47 ImMonde) und dem anonymen Lehrdialog Placides et Timeo (Ende 13. Jh., PlacTimT). Abgehandelt werden in Form eines Dialogs, mit Frage und Antwort, zwischen dem Philosophen Sidrac und dem König Boctus von Bactriane alle Gebiete mittelalterlich enzyklopädischen Wissens. Mittelalterliche Übersetzungen in andere Volkssprachen existieren für das Okzitanische, Italienische (zumindest 4 Versionen), Katalanische, Flämische, Deutsche und Dänische.Auch dies ist als Beleg für die Bedeutung des Textes für die Geistesgeschichte des Mittelalters zu sehen. Überliefert wird er uns im Altfranzösischen in zwei Versionen: in einer kurzen, 613 Fragen umfassenden, und in einer langen, 1225 Fragen aufweisenden Fassung. Die Kurzfassung, auf das 3. Drittel des 13. Jahrhunderts zu datieren, wurde ediert in zwei unpubliziert gebliebenen Dissertationen in Chapel Hill von Sapelor Treanor (SidracT, 1939) und William M. Holler (SidracH, 1972). Nun legt Ernstpeter Ruhe die Edition der langen Version vor (SidraclR), die ebenfalls auf das 3. Drittel des 13. Jahrhunderts zu datieren ist. Als Basishandschrift dient ihm der Kodex London, BL Add. 17914 2 , die er anhand anderer Manuskripte, vor allem Marseille, Bibliothèque Municipale 733, und Oxford, Bodleian Library, Bodley 461 3 , kontrolliert und gegebenenfalls korrigiert (insgesamt sind 19 Kopien und 11 Druckauflagen zwischen 1486 und 1533) 4 erhalten. Da der angekündigte Untersuchungsband zu der Edition noch nicht erschienen ist, fällt es schwer, alle im Text verborgenen Schätze entsprechend zu bewerten. Es finden sich un- 327 Besprechungen - Comptes rendus 1 Alle hier verwendeten Sigel sind die des DEAF, siehe DEAFBiblEl sub www.uni-heidelberg.de/ institute/ sonst/ adw/ deaf/ index.html. 2 Nicht mehr British Museum. 3 Fundus fehlt bei Ruhe. 4 Laut DLF 2 1386 erschien die letzte Druckfassung 1537.