Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniTakeshi Matsumura (éd.), Jourdain de Blaye en alexandrins. Edition critique par T.M., 2 vol., Genève (Droz) 1999, lxxviii + 1162 p. (TLF 520)
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Peter Wunderli
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fin du Moyen Âge» (hintere Umschlagseite) darstellt. Um dies zu erkennen, so führt sie aus, sei es notwendig, den Bezug der Prosaversion «à son époque et à son publique» (20) zu berücksichtigen und «le piège du rapport exclusif avec la source» (20) zu vermeiden. Dem kann ich nur ganz zustimmen. Nicht mehr zustimmen kann ich dann allerdings M. Colombo Timelli in der Art und Weise, wie sie diese These nachzuweisen versucht. Hier vergleicht sie (15-44) einzig und allein Chrétiens Werk mit der Prosaversion. Bei diesem Vergleich werden zwar einige überzeugende Ergebnisse erbracht: Nicht-Erwähnung von Enide in den Kapitelüberschriften der Version B; unterschiedliche Gestaltung der Monologe und Dialoge bei Chrétien und in der Prosafassung; Wandel von histoire (so Chrétien) zu compte (so Prosaversion); Unterdrückung der psychologischen Dimension in der Prosafassung u. a. Wenn man aber nachweisen will, daß die Neufassung eines Stoffes dem Zeitgeschmack angepaßt ist, und wenn man richtigerweise betont, daß der ausschließliche Vergleich Chrétien - Prosaversion zu «appréciations . . . viciées» (19) führt, dann darf man sich selbst anschließend nicht allein auf eben diesen Vergleich beschränken. Hier hätten zeitgenössische Quellen (Chroniken, Viten u. a.) in die Analyse einbezogen werden müssen. Und in diesem Zusammenhang hat es nun absolut auch keinen Sinn, da keinerlei Beweiswert, die Anzahl der Verse bei Chrétien mit der Anzahl der Zeilen in der Prosaversion zu ermitteln und in Prozenten miteinander zu vergleichen (30-33 und Annex 2 [242]) und über den «accueil que notre Erec reçut dans le milieu même qui l’avait produit» (21s.) zu spekulieren. Die Einleitung hätte im übrigen an Wert gewonnen, wenn auf derartige wiederholt zu findende spekulative Äußerungen (16s., 28, 33s., 50s. u. a.) sowie auch auf die zahlreichen didaktisierenden Passagen (16, 18, 24, 33 u. a.) verzichtet worden wäre. Schließlich bietet M. Colombo Timelli in der Einleitung eine umfassende und sehr überzeugende Analyse der Sprache der Handschrift B (67-96). Der Edition sind am Ende beigegeben: fünf Annexe (239-55) (Verwendung von compte und histoire in den Handschriften B und P; Vers- und Zeilenlänge in Chrétiens Werk und in der Prosafassung; Kapitelüberschriften in B und P; «Interventions d’auteur» (246s.) und Kollation der Manuskripte B, P, O; drei «Table(s)» (257s.) (Eigennamen, Personifikationen und Sprichwörter); ein umfangreiches «Glossaire» (267-326),in dem erfreulicherweise «les termes qui n’ont pas survécu dans le français d’aujourd’hui», . . . «les mots dont le sens ou l’emploi ont varié» (267) erklärt werden, sowie schließlich eine umfassende Bibliographie (327-45). M. Colombo Timelli hat eine (von einigen kleinen Einschränkungen abgesehen) überzeugende, von enormem Fleiß und profunder Sachkenntnis zeugende Edition vorgelegt und damit eine seit langem vorhandene Forschungslücke geschlossen. Dafür gebühren ihr Dank und Anerkennung. Der Nachweis jedoch, daß die burgundische Prosaversion gegenüber der Originalfassung Chrétiens nicht «le simple ‘dérimage’ de l’œuvre originale» (hintere Umschlagseite) ist, sondern vielmehr «des critères d’acculturation . . . indispensables pour une approche objective . . . de la littérature bourguignonne» (20) liefert, ist ihr jedoch wegen ihres verfehlten methodischen Vorgehens nur zum Teil gelungen. A. Arens H Takeshi Matsumura (éd.), Jourdain de Blaye en alexandrins. Edition critique par T.M., 2 vol., Genève (Droz) 1999, lxxviii + 1162 p. (TLF 520) Späte chansons de geste in Alexandrinern, zudem noch aus mittelfranzösischer Zeit, gehören nicht gerade zu den Lieblingsobjekten der Mittelalterphilologie. Dabei sind sie keineswegs nur klägliche Dekadenzprodukte, wie oft behauptet wird, sondern dürfen in vie- 333 Besprechungen - Comptes rendus lerlei Hinsicht als hochinteressante Zeitzeugen angesehen werden, die nicht nur den Geschmack des Publikums spiegeln, sondern auch literatursoziologisch wertvolle Informationen über die ideologischen Aspirationen des jeweiligen Zielpublikums liefern; sie stellen so unverzichtbare Dokumente für die Rekonstruktion der Mentalität in der Endphase des Hundertjährigen Kriegs und kurz nach dessen Ende dar. Umso verdienstvoller ist es, daß Takeshi Matsumura die mühevolle Aufgabe auf sich genommen hat, den in seiner Ausgabe 23193 Verse umfassenden Jourdain de Blaye in der späten Alexandrinerversion zu publizieren. Seine Leistung bleibt allerdings auf den traditionell philologischen Bereich beschränkt; eine literatursoziologische, rezeptologische oder mentalitätsgeschichtliche Auswertung des Textes fehlt vollkommen und bleibt ein Desiderat; sie kann natürlich auch in einer kurzen Rezension nicht geleistet werden. Zudem müßte eine derartige Studie auch die eng mit dem Jourdain de Blaye verzahnte Alexandrinerversion von Ami et Amile und weitere zeitgenössische Epen in Alexandrinern berücksichtigen - und von diesen Texten gibt es leider keine vergleichbaren Ausgaben! Wie man aus den «Remerciements» (vii) erfährt, handelt es sich bei dieser Publikation um die überarbeitete Fassung einer Thèse von Paris iv, die unter der Betreuung von Claude Thomasset entstanden ist; weiter haben beratend auch Gilles Roussineau, François Suard und Michel Zink mitgewirkt. Weitere Unterstützung erhielt Verf. von Gilles Roques, May Plouzeau, Jean-Pierre Chambon sowie vom DEAF-Team durch Frankwalt Möhren, Thomas Städtler und Stephen Dörr - eine durchaus prominente und hochqualifizierte «Hintermannschaft» also! Die Ausgabe beginnt mit einer «Introduction» (ix-lxxviii), auf die dann der «Texte critique» folgt (1-883); der Apparat befindet sich am Fuß der Seiten, doch gibt es zusätzlich auch ergänzende «Notes» (885-900), wobei die Zuordnung zu Apparat und Anmerkungen nicht immer auf Anhieb einsichtig ist; immerhin läßt sich sagen, daß die Notes tendentiell länger sind. Es folgt dann eine umfassende «Table des noms propres» (901-70), ein nicht weniger umfangreiches «Glossaire» (971-1145), und schließlich noch eine «Bibliographie» (1157-62). Eine nur schon quantitativ gewichtige Publikation! Aber auch inhaltlich ist die Arbeit von Matsumura beeindruckend. In der «Introduction» wird zuerst einmal die Handschriftenlage dargestellt. Es gibt heute nur noch ein vollständiges Manuskript des Textes (B; Paris, Arsenal 3144); das zweite Manuskript (C; Tournai, Bibliothèque de la ville 102) ist 1940 bei einem deutschen Luftangriff verbrannt; immerhin existiert davon noch eine 1928 von Abbé Delplanque angefertigte moderne Kopie (T), die sehr zuverlässig zu sein scheint. Dazu kommen noch eine Reihe von Textauszügen in um die Jahrhundertwende entstandenen Dissertationen, so daß der Informationsstand über die zerstörte Handschrift doch als gut bezeichnet werden darf. Als Basis für die Edition kommt aber gleichwohl nur die Pariser Handschrift (B) in Frage. Ein Kuriosum stellt die Tatsache dar, daß sich das Ende der Alexandrinerversion von Ami et Amile und der Anfang des Jourdain de Blaye teilweise überschneiden, und zwar in unterschiedlichem Umfang (zwischen 35 und 214 Versen) je nach Handschrift. Verf. diskutiert ausführlich die Frage, ob Teile von Ami et Amile im Jourdain de Blaye kopiert worden seien oder umgekehrt (xvii). Er kommt zu keinem eindeutigen Ergebnis, neigt aber doch eher zur Auffassung, daß die Sequenz aus dem Jourdain in Ami et Amile übernommen worden sei; die benutzte Handschrift soll B nahe gestanden haben, ist aber nicht mit ihr identisch. Datierung und Lokalisierung werden p. xxis. diskutiert. Sowohl in B wie in C nennt sich der Kopist in den letzten 11 Versen in der Form eines Akrostichons: er heißt in beiden Fällen Druet Vignon. Dieser Elfsilbler liefert auch die Datierung: B wäre 1455, C 1461 fertiggestellt worden. Allerdings stellt sich noch die Frage, ob Druet Vignon wirklich ein reiner Kopist sei, oder ob er nicht vielleicht der Bearbeiter bzw. Autor der Alexandrinerversion sein könnte. Matsumura geht allen Indizien sorgfältig nach und kommt zu keinem eindeutigen Ergebnis. Er neigt aber eher zu 334 Besprechungen - Comptes rendus einer reinen Kopistenfunktion, und zwar aufgrund der Formulierungen in C.Allerdings läßt er eine Möglichkeit außer acht: Vignon könnte durchaus der Bearbeiter sein (eine Möglichkeit, die durch die Formulierungen in B eröffnet wird) und seinen eigenen Text dann später noch einmal selbst kopiert haben! Wenn nun auch die Handschriften eindeutig datiert sind, stellt sich immer noch die Frage nach der Datierung des Textes. Wenn Vignon auch der Bearbeiter ist, käme dafür 1455 (oder ein Zeitpunkt wenig davor) in Frage; die Datierung müßte also lauten: 1455 oder wenig früher. Und wenn er nur der Kopist ist? Denn stellt sich das Problem in neuer Form. Es gibt einen Gobelin im Museo civico von Padua, in dem eine Szene dargestellt wird, die in dieser Form nur in der Alexandrinerversion vorkommt. Da der Wandteppich zwischen 1390 und 1400 datiert wird, liefert er uns eine Art terminus post quem (xxivs). Gleichwohl bleibt Matsumura bei einer Datierung des Textes um die Mitte des 15. Jahrhunderts. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß es in Ami et Amile eine Reihe von Anspielungen auf den Jourdain de Blaye gibt, die aber durch umgekehrte Anspielungen im Letzteren gewissermaßen neutralisiert werden (xxxs.). Es läßt sich somit nicht sagen, welche der beiden Alexandrinerversionen der anderen voranging, ja Matsumura wagt sogar die Hypothese, wir hätten es mit zwei Parallelredaktionen zu tun (xxxv). Dies scheint mir eher unwahrscheinlich; vielmehr würde ich auch für diese Texte eher auf die Spekulationstheorie von Alfred Adler zurückgreifen 1 . Was die Lokalisierung des Textes angeht, so spricht sich Matsumura aufgrund der sprachlichen Analyse für den Norden des domaine d’oïl (Pikardie) aus. Die Untersuchung von Phonetik und Morphologie (xxxvii) ist sehr umsichtig und kenntnisreich und bestätigt diese Annahme sowohl für den Autor/ Bearbeiter als auch für den Kopisten (was zumindest die Hypothese, diese könnten zusammenfallen, als möglich erscheinen läßt). In die gleiche Richtung weisen auch die lexikalischen Regionalismen, eine Untersuchung, die sich allerdings nicht in der Edition findet, sondern separat als Aufsatz in der Revue de linguistique romane publiziert wurde 2 . Es ist bedauerlich, daß Verf. diese Darlegungen nicht wenigstens in verkürzter Form hier wieder aufgenommen hat. Die Untersuchung des Versbaus (lvs.) ergibt nichts wesentlich Neues: Der Autor bzw. Bearbeiter bewegt sich ungefähr im gleichen Rahmen wie die Verfasser des Lion de Bourges in Alexandrinern und des Tristan de Nanteuil 3 . Auf den ersten Blick befremdlich ist, daß der Versbau des Jourdain nicht mit demjenigen von Ami et Amile verglichen wurde, denn die Ergebnisse hätten durchaus bedeutsam für die Autorfrage sein können. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß es keine moderne Ausgabe der Alexandrinerversion von Ami et Amile gibt; Matsumura hätte also eine gewaltige Zusatzbelastung auf sich nehmen müssen, wenn er dieses Desiderat hätte erfüllen wollen; bei der doch eher bescheidenen Tragweite möglicher Ergebnisse läßt sich ein Verzicht durchaus rechtfertigen. Als vorletzter Teil der Einleitung folgt die Inhaltsanalyse (lxiii-lxxiii). Die Zusammenfassung ist korrekt, ist aber schwer zu lesen und wirkt oft gestückelt und ohne Zusammenhang. Dies rührt daher, daß im wesentlichen nur Geschehnisse, Ereignisse, Handlungen gereiht werden; auf Übergangselemente, Begründungen und Argumentationen wird weitestgehend verzichtet, was natürlich den Text deutlich verkürzt; der Verlust an Lesbarkeit scheint mir dafür aber ein allzu hoher Preis zu sein. 335 Besprechungen - Comptes rendus 1 Cf. A. Adler, Epische Spekulanten. Versuch einer synchronen Geschichte des altfranzösischen Epos, München 1975. 2 Cf. T. Matsumura, «Les régionalismes dans Jourdain de Blaye en alexandrins», RliR 62 (1998): 129-66. 3 Cf. W. W. Kibler/ J.-L. G. Picherit/ Th. S. Fenster (éd.), Lion de Bourges. Poème épique du xiv e siècle, 2 vol., Genève 1980; K. Val Sinclair (éd.), Tristan de Nanteuil. Chanson de geste inédite, Assen 1971. Der letzte Teil der Einleitung ist mit «Toilette du texte» überschrieben (lxxv-lxxii) und liefert die Editionsprinzipen. Abkürzungen werden prinzipiell aufgelöst, aber im Text nicht durch Kursivierungen markiert. Dies ist umso bedauerlicher, als die gewählte Auflösung in der Regel nicht hinreichend begründet, ja in einigen Fällen schlicht fragwürdig ist. Warum werden z. B. klme, kles und klon (jeweils mit Überstrich) als Charlemagne, Charles und Charlon aufgelöst und nicht als Karlemagne, Karles, Karlon? Wir befinden uns doch im pikardischen Raum! Warum wird Jhs (mit Überstrich) als Jesus und nicht als Jhesus, das in mittelalterlichen Texten vollkommen geläufig ist, wiedergegeben? Warum erscheinen qa, qi, qe als qua, qui, que und nicht als qa, qi, qe, die in diesem Raum alles andere als ungewöhnlich sind? Wieso wird q als ques (z. B. onques) aufgelöst? Onque etc. (ohne «adverbiales» s) ist doch recht häufig! Und was gibt es für einen Grund, 9 e als comme und nicht als come wiederzugeben? Die Liste zweifelhafter Entscheidungen dieser Art ist damit bei weitem noch nicht erschöpft. Ungewöhnlich ist auch, daß Korrekturen, ergänzte Wörter, Verse usw. durch Kursivierung und nicht durch eckige Klammern markiert werden 4 . Der Text selbst macht trotz dieser Ausstellungen einen zuverlässigen und gepflegten Eindruck und liest sich flüssig; umfangreiche Stichproben haben keine Mängel im Bereich von Versmaß und Reim ergeben. Gewisse Probleme ergeben sich dagegen beim Namensindex. Wieso werden Appellativa wie angele, bisse (biche), carterier (‘geôlier’) usw. zu den Eigennamen gestellt? Natürlich bezeichnen sie im Text handlungsrelevante «Personen», aber dies ändert doch nichts an ihrem Status als Appellativa. Das eigenartige Verfahren zwingt dann den Herausgeber auch noch dazu, zwischen zwölf verschiedenen Engeln, drei verschiedenen Kerkermeistern usw. zu unterscheiden (die jeweils entsprechend indiziert sind! ) Und wie bereits erwähnt: Die Aufnahmekriterien für das Glossar sind nicht durchsichtig. Es scheint zwar nichts zu fehlen, was unbedingt aufgenommen werden muß, aber es ist mit Sicherheit vieles drin, was eigentlich selbstverständlich und damit überflüssig ist. Und was die Bedeutungsangaben angeht, so sind sie allzu kontextgebunden; sie sind zwar für die jeweilige Stelle angemessen und korrekt, aber die für eine lexikographische und lexikologische Nutzung notwendige Abstraktions- und Typisierungsarbeit ist kaum je geleistet. Alles in allem: Die Ausgabe des Jourdain de Blaye in Alexandrinern von Takeshi Matsumura ist eine bewundernswürdige Arbeitsleistung von guter Qualität, die einen brauchbaren und gut lesbaren Text liefert, der überdies mit einem reichhaltigen Hilfskontext versehen ist. Dies verhindert aber nicht, daß im Detail zahlreiche Wünsche offen bleiben. P. Wunderli H Frédéric Duval (éd.), Le Romuleon en françois. Édition critique, introduction et notes, Genève (Droz) 2000, lviii + 634 p. (Textes Littéraires Français 525) Frédéric Duval, La Traduction du Romuleon par Sébastien Mamerot, Genève (Droz) 2001, 480 p. (Publications Romanes et Françaises 228) Les deux ouvrages qu’il s’agit de présenter ici sont rigoureusement complémentaires, et il faudra les lire et consulter simultanément, l’un à la lumière de l’autre, si l’on veut en tirer tout le profit qu’ils sont susceptibles d’offrir. Malgré cette interdépendance évidente, la dé- 336 Besprechungen - Comptes rendus 4 Zur Trennung von Apparat und «Notes» cf. oben.
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