Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniEine Würdigung des FEW und des Lebenswerkes von Walther von Wartburg
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Max Pfister
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Eine Würdigung des FEW und des Lebenswerkes von Walther von Wartburg Festvortrag Basel 11. 4. 2003 anlässlich des Abschlusses der gedruckten Version des FEW À l’occasion de la célébration de l’achèvement du FEW dans sa forme imprimée, l’auteur évoque la genèse de cette œuvre grandiose, à travers ses propres souvenirs comme collaborateur au FEW. Il rend hommage à Walther von Wartburg et à tous ceux qui ont contribué à la réalisation du dictionnaire. Il dégage l’importance du FEW pour les dictionnaires étymologiques romans plus récents et le situe dans la tradition de la recherche romanistique suisse dont il espère qu’elle saura maintenir le flambeau. Wenn wir heute den Abschluss der gedruckten Version des FEW feiern, so blicken wir auf eine fast hundertjährige Geschichte zurück. Diese Dauer ist nicht ungewöhnlich. Das altfranzösische Wörterbuch von Tobler-Lommatzsch begann auch 1915 und wurde erst vor einem Jahr abgeschlossen. Im besten Beitrag zur Geschichte des FEW schreiben Jean-Pierre Chambon und Eva Büchi, dass das Geburtsjahr eigentlich das Jahr 1911 ist, das Erscheinungsdatum der Erstausgabe des REW von Meyer-Lübke. Walther von Wartburg war zu jenem Zeitpunkt 23 Jahre alt. Erwarten Sie an dieser Stelle keine Gesamtwürdigung seines einzigartigen Lebenswerkes. Ich beschränke mich vielmehr auf drei massgebliche Urteile: 1971 äussert sich Carl-Theodor Gossen, Nachfolger auf dem Basler Lehrstuhl für Romanische Philologie und für einige Jahre Leiter des FEW. Er spricht vom «kühnsten und gewaltigsten Forschungsunternehmen, das die Romanistik kennt»; ähnlich in der Histoire de la langue française 1914-45 von Gérald Antoine und Robert Martin. Hier lautet die Kapitelüberschrift «un des plus beaux monuments des sciences du langage: le FEW de Walther von Wartburg»; der Beitrag ist verfasst von Jean-Pierre Chambon und Eva Büchi. Abschliessend die Würdigung von seinem bedeutendsten Schüler Kurt Baldinger in der Festschrift Walther von Wartburg zum 80. Geburtstag: «L’œuvre d’une vie, conçue et développée par un seul chercheur, achevée grâce à un travail plein d’abnégation qui s’est étendu sur presque soixante années. Une œuvre qui se trouve au terme d’une tradition séculaire et clôt une phase de l’histoire de notre science, qui doit céder le pas à une autre époque, celle du travail en équipe dans le monde de l’ordinateur. Malgré le grand nombre des collaborateurs, il y a derrière le FEW la certitude rassurante d’une seule et unique grande personnalité, à savoir Walther von Wartburg. La Suisse et les romanistes sont fiers de lui et de son œuvre.» 141 Eine Würdigung des FEW und des Lebenswerkes von Walther von Wartburg Wir bewegen uns in der Welt der Superlative und Sie entschuldigen mich, wenn ich heute aus der Erinnerung heraus in der gleichen Tonlage spreche. Für einige seiner Mitarbeiter wie Kurt Baldinger, Hans-Erich Keller, Gustav Ineichen, Johannes Hubschmid, mich und andere mehr, bleibt Walther von Wartburg der Patron; die Mitarbeit am FEW war für uns das Sprungbrett für eine wissenschaftliche Karriere. Wenn wir uns die Geschichte der galloromanischen Lexikologie und Dialektologie des 20. Jhs. vor Augen führen, sind für mich fünf Namen massgebend: Adolf Tobler, Jules Gilliéron, Jakob Jud, Karl Jaberg und Walther von Wartburg. Es sind dies alles Schweizer, die für die Romanistik Entscheidendes geleistet haben. Die Geschichte des FEW ist keine kontinuierlich verlaufende Linie; es ist eine Kurve mit Rückschlägen, mit Einbrüchen, die aber dank der Beharrlichkeit seines Begründers, seiner Nachfolger, des Kuratorium FEW, des schweizerischen Nationalfonds und schliesslich des CNRS heute zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden kann. Es gab Rückschläge, die wir in der heutigen Feierstunde nicht verschweigen wollen. Eine erste Schwierigkeit galt es in der Anfangsphase zu überwinden. Chambon und Büchi sprechen von der «scission progressive entre Jud et Wartburg». Hätten wir 1930 eine Bestandsaufnahme der exzerpierten Materialien von Wartburg in Basel und derjenigen von Jud in Zürich gemacht, wären wir zu folgendem Resultat gelangt: Es gibt Hunderttausende von Fichen galloromanischer Quellen, die doppelt exzerpiert wurden: ein enormer Arbeitsaufwand für eine ähnliche Zielsetzung. Leider lassen sich derartige Alleingänge nicht vermeiden, sie wiederholen sich sogar, wenn ich an den Werdegang der altokzitanischen Lexika in Heidelberg und in München denke. Die zweite einschneidende Bruchstelle in der Geschichte des FEW ist die Publikation von Band C in den Jahren 1936-40. Es sind dies die Früchte von Wartburgs Leipziger Zeit, die Erweiterung der Materialbasis unter Einbezug der französischen Schriftsprache (Trévoux, Furetière, Académie), die umfassende Datierung der Belege, die korrigierende Veränderung der anfänglichen Wörterbuchkonzeption, die Wartburg selbst im Jahre 1961 «erreur incroyable» und «conception . . . insoutenable» nannte. Der nächste Rückschlag erfolgte in den Kriegsjahren. Wartburg verlor seine Leipziger FEW-Equipe (Hering und Zipfel waren gefallen, Hallig, Kuhn, Lausberg, Poppe, Tausch gingen eigene Wege) und Wartburg musste nach dem Krieg in Basel ein neues Team zusammenstellen. Dazu kamen in der Anfangsphase, aber auch noch in der Basler Epoche vor der Gründung des Schweizerischen Nationalfonds 1952, finanzielle Schwierigkeiten. Auf einem von Baldinger publizierten Tonband sagte Wartburg selbst: «Und dann bin ich nach Basel gekommen. Da fing’s wieder von vorne an mit dem FEW, d. h., zuerst hatte ich gar keine Mittel, dann bekam ich ein paar tausend Franken pro Jahr, mit denen ich sozusagen nichts anstellen konnte, verglichen mit dem, was ich vorher in Leipzig bekommen hatte. Und mit dem Druck war gar nichts. - Ich hatte eine Menge Manuskripte - ich fuhr wie ein Wahnsinniger kreuz und quer durch die Schweiz zu allen möglichen Stellen, und jedes Mal sagte man mir: ‹Ja wenn es ein schweizerisches Werk wäre, ein Werk, das nur die Schweiz 142 Max Pfister betrifft, dann würden wir sofort Geld geben. Aber das geht uns ja im Grunde genommen nicht viel an›». Schliesslich aber heisst es: «seit ’52 ist es [das FEW] in eine neue Sphäre getreten durch die Gründung des Schweizerischen Nationalfonds für wissenschaftliche Forschung. Die haben mir von vorn herein rasch einen sehr grossen Kredit gewährt, aus dem wir seit ’52 leben und die nötigen Assistenten auch einigermassen anständig honorieren können». Aus der Assistentenperspektive sah dies freilich etwas anders aus. Eine fürstliche Bezahlung konnten die Redaktoren-Assistenten sicher auch nicht erwarten, aber vielleicht eine Anpassung an das Lehrer-Niveau so wie es z. B. bei den Redaktoren der nationalen Wörterbücher angestrebt wurde. Als Assistenten wurden wir mit einer Stundenentschädigung versehen; der Stundensatz betrug in den 60er Jahren 2Fr.50. Als zu dieser Zeit die Redaktoren - man näherte sich 1968 - ihren Patron durch ihren Wortführer Gustav Ineichen darauf anzusprechen wagten, dass vielleicht eine Anpassung der Stundenansätze angebracht wäre, hörte sich Wartburg die Bitte schweigend an und sagte dann lakonisch: «Ich werde die Bitte an den Kommissionspräsidenten weiterleiten». Die Antwort nach drei Monaten war ernüchternd: «Herr Bonnard in Neuchâtel hat gesagt: nein, Antrag abgelehnt». Jeder Mitarbeiter wusste freilich schon vorher, entscheidend bei der Redaktionsarbeit am FEW waren Enthusiasmus für die Lexikologie und die Begeisterung, an diesem Jahrhundertwerk mitarbeiten zu können, auf materielle Anreize musste man verzichten. Rückblickend kann man wohl sagen, dass jene Mitarbeiter an ihre Arbeit in Basel am Bruderholz an der Predigerhofstatt 25 im Hause Wartburgs die angenehmsten Erinnerungen hatten, die materiell nicht hauptberuflich von der FEW-Arbeit abhängig waren. Von meiner eigenen FEW-Zeit 1959-69 - immer am Montag von morgens 8 Uhr bis 21.30 Uhr - kann ich sagen, es waren arbeitsreiche, anstrengende aber unvergessliche Stunden, die für mein eigenes späteres Wörterbuchprojekt entscheidend waren. Walther von Wartburg war eine faszinierende Persönlichkeit, von seinen Mitarbeitern geschätzt aber auch gefürchtet. Sein Arbeitsrhythmus musste genauestens respektiert werden. Zwischen 14.00 und 15.00 Uhr war die Zeit der Siesta und wehe dem Mitarbeiter, der ausgerechnet während dieser Zeit in seinem knarrenden Altbau die Toilette aufsuchen musste. Er riskierte, einen schlecht gelaunten Patron für den Rest des Tages zum Nachteil aller Mitbewohner verantworten zu müssen. Wenn man die Beständigkeit und die Regelmässigkeit des FEW-Publikationsrhythmus bewundert, muss man aber auch wissen, dass dies nur möglich war dank seiner unermüdlichen Arbeitskraft und eines Zeitplanes, der schon für das 20. Jh. fast unvorstellbar war und den mönchsartigen Lebensgewohnheiten eines Emile Littré ähnlich war. Die Knausrigkeit Wartburgs mit seiner eigenen Zeit erinnert an die Konzision und Kürze seiner FEW Artikel-Kommentare. Jede Zeile zuviel wurde als unnötiges Geschwätz abgetan. Vielleicht hat neben der verwendeten orthographisch reformierten deutschen kleingeschriebenen Sprache auch die unromanische Konzision der Ausdrucksweise mit dazu beigetragen, dass wenigstens zu 143 Eine Würdigung des FEW und des Lebenswerkes von Walther von Wartburg Lebzeiten Wartburgs das FEW in Frankreich eine eher reservierte Aufnahme fand. Wenn wir heute im Jahr 2003 auf die Publikationsfolge des FEW zurückblicken - 81 Jahre seit dem Beginn mit Faszikel 1 im Jahre 1922 - kommen wir auf einen Durchschnitt von ca. 2 Faszikeln pro Jahr mit Rekordspitzen bis zu 5 Faszikeln pro Jahr in den 60er Jahren, als teilweise in der Druckerei an bis zu 10 Bänden gleichzeitig der Text gesetzt wurde. Für den Abschluss des Werkes heute, 33 Jahre nach seinem Tode, haben viele beigetragen. Ich denke an die Anstrengungen seiner Nachfolger in der Leitung des FEW: Carl-Theodor Gossen, Otto Jänicke, Jean Pierre Chambon, Jean-Paul Chauveau, ebenso die Unterstützung durch die FEW- Kommission, deren langjähriger Präsident Gerold Hilty war, gefolgt von Georges Lüdi, dann die Finanzhilfen des Schweizerischen Nationalfonds und seit einigen Jahren auch des CNRS. Walther von Wartburg wäre freilich überrascht, dass es erst heute, eine Generation nach seinem Tode möglich ist, den überarbeiteten Buchstaben A, die unbekannten Elemente und das Gesamtregister abzuschliessen. Erinnern wir uns der von Wartburg geschriebenen Worte am 23. 2. 1940, als er den Ruf auf die Nachfolge Bloomfields in Chicago erhielt: «Si j’ai seulement Chicago, je serai forcé d’abandonner le FEW, et pendant tout le reste de ma vie je resterais sous cette impression accablante d’avoir trahi une tâche grande et belle, choisie librement, le plan de ma jeunesse». Dieses bereits in seiner Jugendzeit konzipierte Forschungsprojekt wird heute vollendet mit dem Pünktchen aufs i, wie ich das Gesamtregister bezeichnen möchte. Dieses von Eva Büchi betreute Gesamtregister wird bestimmt dazu beitragen, dass die Nutzung des FEW erleichtert und die Akzeptanz besonders in Frankreich erweitert wird. Bedeutende französische Kollegen wie Haust, Meillet, Ronjat, Duraffour, Bruneau und Straka haben immer zu den Benutzern und Bewunderern des FEW gehört. Vielleicht wird das FEW- Register aber dazu beitragen, dass auch die jüngere Romanistengeneration wieder über Einführungsveranstaltungen und Seminare leichter in die Geheimnisse und Schätze des FEW eingeführt werden kann. Die heutige Festveranstaltung würde Walther von Wartburg sicher mit Freude erfüllen. Ein Wermutstropfen wäre für ihn freilich der Abschluss seines Werkes ohne von Band 1 auch die Überarbeitung des Buchstabens B gesichert zu wissen. Anlässlich des Todes des FEW Chefredaktors Carl Theodor Gossen steht in FEW 24,III: «C’est en exprimant nos sentiments de profonde gratitude pour l’engagement du défunt au profit du FEW que nous nous portons garants de l’achèvement de la refonte des lettres A et B et de l’élaboration de l’Index général de l’œuvre entière». Der Gesamtindex und der Buchstabe A liegen vor. Für den Buchstaben B ist momentan die Bearbeitung ausgewählter Etyma vorgesehen mit Hilfe eines Finanzrahmens von 4 Jahren, übernommen vom CNRS, mit einer zusätzlichen Praktikantenstelle, welche die Schweiz finanziert. An diesem offiziellen Abschlusspunkt des FEW müssen wir uns auch fragen: Was hat das FEW der romanischen Sprachwissenschaft gebracht und welches ist seine Bedeutung für das 21. Jahrhundert? 144 Max Pfister 1) Es ist das umfassendste und beste etymologische Wörterbuch für eine einzelne romanische Sprache, das existiert. Ich wage sogar den Bogen noch weiter zu spannen und dieses Werk Wartburgs an die Spitze aller vollendeten etymologischen Wörterbücher zu stellen. 2) Solange eine Überarbeitung der 3. Auflage von Meyer-Lübkes REW aussteht, kann der FEW-Kommentar der einzelnen Wörter das Grundlagenwerk von Meyer-Lübke z. T. ersetzen. 3) Das FEW ist auch die Basis für den Kommentarteil des TLF, gar nicht zu sprechen von Reys Dictionnaire historique de la langue française, der auf dem FEW fusst, ohne dies aber mit jener Klarheit auszudrücken, wie es wissenschaftliches Ethos und Redlichkeit erwarten liessen. 4) Das FEW hat auch die Kommentare von Corominas und noch viel ausgeprägter diejenigen des DEAF von Baldinger und diejenigen des LEI beeinflusst. 5) Sowohl Baldingers lexikalisches Œuvre (DEAF, DAO und DAG) als auch mein italienisches etymologisches Wörterbuch (LEI) sind ohne die gesammelten Erfahrungen bei Walther von Wartburg unvorstellbar. Deshalb bin ich den Organisatoren dieser Feststunde dankbar, dass ich in diesem Rahmen meinem verehrten und geschätzten Vorbild Walther von Wartburg meine Dankbarkeit auf diese Art erweisen kann. Dankbar möchte ich auch die Familie von Wartburg erwähnen, welche die Schaffung einer Wartburg-Stiftung ermöglicht, die Ausstellung zum FEW und zu Walther von Wartburg unterstützt und bei der Schaffung eines Wartburg-Archivs an der Universitätsbibliothek Basel mithilft. Aber auch für die Schweizer Romanistik ergibt sich aus der heutigen Feierstunde eine Verpflichtung: Die Schweizer Romanistik ist im 20. Jahrhundert dank Meyer-Lübke, Gilliéron, de Saussure, Jud, Jaberg und von Wartburg zu weltweiter Bedeutung gelangt. Dieses Erbe gilt es zu erhalten und an die jungen Romanisten-Generationen des 21. Jahrhunderts weiter zu geben. Das Lebenswerk von Walther von Wartburg ist aber auch verpflichtend für Basel. Die Basler Romanistik ist mit dem Namen Walther von Wartburg eng verbunden. Sie steht in einer Tradition, die mit Cornu und Tappolet beginnt und sich über Walther von Wartburg, Toni Reinhard, Carl Theodor Gossen und Georges Lüdi fortsetzt. Für die iberoromanische und italienische Lexikographie sind auch die Basler Romanisten German Colón und Ottavio Lurati weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt; der Letztgenannte wird z. B. dieses Jahr in Pisa mit dem Galilei-Preis ausgezeichnet. Diese romanistische Tradition und vor allem auch die lexikographische Forschung gilt es in Basel und in der Schweiz zu erhalten. Hier hat Walther von Wartburg das Ansehen der Schweizer Romanistik entscheidend gefördert und mit seinem Französischen Etymologischen Wörterbuch das Jahrhundertwerk der Romanistik geschaffen. Saarbrücken Max Pfister
