Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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2003
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Kristol De StefaniRudolf Engler (1930-2003)
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2003
Ricarda Liver
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Rudolf Engler (1930-2003) Am 5. September 2003 verstarb Rudolf Engler in seinem Heim in Worb bei Bern. Obschon wir wussten, dass seine Gesundheit seit einigen Jahren nicht mehr die beste war, hat die Nachricht uns alle, die wir Rudolf kannten, schätzten und liebten, überrascht und erschüttert. Rudolf Engler hinterlässt in der Landschaft der schweizerischen Sprachwissenschaft eine grosse Lücke. Er war der Saussure-Experte, und er verkörperte mit seiner Verbindung von Sprachtheorie und Philologie einen Typus des Gelehrten, der heutzutage nur noch selten anzutreffen ist. Die Biographie und die wissenschaftliche Leistung von Rudolf Engler sind in der Festschrift, die ihm zu seinem 60. Geburtstag gewidmet wurde, ausführlich beschrieben 1 . Ich beschränke mich hier auf einige wesentliche Fakten. 1 R. Liver/ I. Werlen/ P. Wunderli (ed.): Sprachtheorie und Theorie der Sprachwissenschaft. Geschichte und Perspektiven. Festschrift für Rudolf Engler zum 60. Geburtstag, Tübingen 1990. 357 Rudolf Engler (1930-2003) Rudolf Engler kam am 25. Oktober 1930 im appenzellischen Teufen zur Welt, wo sein Vater an der Sekundarschule Sprachen und Geschichte unterrichtete. Seine Liebe zum Französischen bewog ihn, mit den Kindern diese Sprache zu sprechen, nicht St. Galler Dialekt, wie es seine Herkunft nahegelegt hätte. Da die Mutter aus Süddeutschland stammte, wuchs Rudolf in französisch-deutscher Zweisprachigkeit in dialektaler Umgebung auf, eine Ausgangslage, die sicher eine Rolle spielte in seiner späteren fachlichen Ausrichtung. Zunächst galt jedoch sein Hauptinteresse der Geschichte. Dieses Fach belegte er nach seiner 1949 in St. Gallen bestandenen Matura nebst Romanistik an der Universität Bern, wo damals Werner Näf lehrte. Rudolf hatte die Absicht, in Geschichte zu promovieren, aber zwei neue Herausforderungen, die an ihn herangetragen wurden, lenkten ihn in eine andere Richtung. Georges Redard und Siegfried Heinimann suchten einen Bearbeiter für eine kritische Ausgabe des Cours de linguistique générale von Ferdinand de Saussure, und, ebenfalls in Bern, sollte der Nachlass von Karl Jaberg, eine bedeutende dialektologische und gesamtromanistische Bibliothek, geordnet und in eine in das Romanische Seminar der Universität Bern integrierte Bibliothek übergeführt werden. Rudolf Engler übernahm beide Aufgaben. 1958 erwarb er sein Gymnasiallehrerdiplom. In den Auslandaufenthalten in Florenz, Paris und Poitiers hatte Rudolf Engler seine Sprachkenntnisse gefestigt und wertvolle Erfahrungen gesammelt. Verschiedene Tätigkeiten in Schule und Universität trugen zum Lebensunterhalt bei. 1957 heirateten Rudolf Engler und Marianne Kummer und liessen sich in Worb bei Bern nieder, wo Marianne als Lehrerin wirkte. In den folgenden Jahren kamen ihre vier Kinder zur Welt. 1963 wurde der ein Jahr zuvor erschienene Aufsatz «Théorie et critique d’un principe saussurien: l’arbitraire du signe» zusammen mit der Vorlage der kritischen Ausgabe des Cours in Bern als Dissertation angenommen 2 . 1971 habilitierte sich Rudolf Engler mit einer (leider nie im Druck erschienenen) Arbeit über Leonardo Salviatis Avvertimenti della lingua sopra ’l Decamerone. 1972 wurde er zum nebenamtlichen ausserordentlichen, 1982 zum ordentlichen Professor für Romanische Philologie ernannt. Diese Aufgabe, in die laut Venia legendi auch die Allgemeine Sprachwissenschaft eingeschlossen war, füllte er bis zu seiner Emeritierung 1996 aus. Im akademischen Jahr 1987/ 88 stand er der Philosophisch- Historischen Fakultät der Universität Bern als Dekan vor. Lange Jahre leitete er zudem den Cercle Ferdinand de Saussure und zeichnete verantwortlich für die Herausgabe der Cahiers Ferdinand de Saussure. 2001 verlieh ihm die Universität Genf den Doctor honoris causa für seine Verdienste um die Genfer Linguistik. Nach seiner Emeritierung ging Rudolf Engler weiterhin seinem Hauptinteresse, der Saussure-Forschung, nach. Die Entdeckung handschriftlicher Originalnotizen aus Saussures Frühzeit in Genf im Jahre 1996, die ihm zur Bearbeitung übergeben wurden, gaben seiner Forschertätigkeit neuen Auftrieb. Mit Begeisterung 2 Alle bibliographischen Angaben bis 1989 finden sich in der Festschrift 1990. Für 1990-2003 cf. unten. 358 Ricarda Liver berichtete er in den letzten Jahren von den Funden, die unsere Kenntnis der Ideen und Konzeptionen des Begründers der Genfer Schule erweitern und bereichern würden. Leider ist es Rudolf Engler nicht mehr vergönnt gewesen, all seine Erkenntnisse aus diesen neuen Entdeckungen der Wissenschaft zugänglich zu machen. Die Texte wurden jedoch 2002 im Band Écrits de linguistique générale par Ferdinand de Saussure. Texte établi et édité par Simon Bouquet et Rudolf Engler, in der Bibliothèque de Philosophie von Gallimard publiziert. Schon aus diesen knappen Angaben zum Lebenslauf von Rudolf Engler geht hervor, wo die Schwerpunkte seiner Forschung lagen: in erster Linie bei der Sprachwissenschaft Ferdinand de Saussures, dazu im Gebiet der Romanischen Philologie, wo wiederum Sprachtheorie und Theorie der Sprachwissenschaft (so der Titel der Festschrift, mit der Engler 1990 geehrt wurde) im Zentrum seines Interesses standen. Die Beschäftigung mit dem Gedankengut Ferdinand de Saussures sollte Rudolf Englers linguistische Arbeit Zeit seines Lebens bestimmen. Eine gewisse Affinität der Interessen und Sichtweisen und die differenzierte Art des Umgangs mit wissenschaftlichen Problemen, die beiden Forschern eigen ist, lassen diese Wahl verstehen. Englers Beiträge zur Saussure-Forschung sind kapital. Da ist in erster Linie die kritische Ausgabe des Cours de linguistique générale zu nennen (vol. 1, Faszikel 1-3 1967/ 68, vol. 2, Faszikel 4 1974), die durch die Publikation zusätzlicher Quellen Saussures Sprachkonzeption aus der vereinfachenden und vielfach verfälschenden Sicht, die die Vulgatafassung vermittelt, herauslöst. Leider sind die geplanten Ergänzungen von Band 2 nicht zustande gekommen. Eine gewisse Kompensation dafür stellt jedoch das höchst nützliche Lexique de la terminologie saussurienne (1968) dar, das über das terminologische Repertorium hinaus wertvolle Interpretationen enthält. Verbunden mit der Arbeit an der kritischen Ausgabe des Cours sind eine Reihe von Aufsätzen zu Kernbegriffen der Saussureschen Theorie (System, Linearität, Zweiseitigkeit des Zeichens, Arbitrarietät, Semiologie), aber auch die intensive Auseinandersetzung mit den Beiträgen von Kollegen, die sich im gleichen Bereich bewegen. Davon zeugen zahlreiche Rezensionen, vor allem jedoch die in sechs Folgen erschienene Bibliographie saussurienne 3 , die die Flut von Publikationen dokumentiert, die in der Zeitspanne von 1970 bis 1997 zu Saussure erschienen ist. Die Auseinandersetzung mit Fachkollegen führte Rudolf Engler aber auch immer im direkten Gespräch. Mit befreundeten Saussureforschern wie Tullio de Mauro, René Amacker, Peter Wunderli, Konrad Koerner und anderen diskutierte er engagiert die Probleme, die ihn beschäftigten. Er pflegte auch Kontakte über die Fachgrenzen hinaus, so mit dem Theologen Kurt Stalder, zu dessen postum erschienenem Buch Sprache und Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes (Freiburg [Schweiz] 2000) er den Beitrag «Stalder und Saussure. Ein Kommentar zu den beiden Texten» beisteuerte. 3 Die letzte in CFS 50 (1997): 247-95. 359 Rudolf Engler (1930-2003) Auch in den romanistischen Arbeiten Englers ist der grosse Genfer stets präsent, sei es explizit, sei es eher als latenter Nährboden, auf dem sich die Argumentation bewegt. Zwei Themenkreise dominieren in diesem Bereich: «Saussure und die Romanistik» (so schon der Titel der Antrittsvorlesung von 1976) und die Sprachdiskussion in der italienischen Renaissance, insbesondere die Sprachkonzeption von Leonardo Salviati und die Anfänge der Accademia della Crusca. Immer wieder gelingt es Rudolf Engler, Bezüge aufzudecken zwischen verschiedenen Momenten, Personen und Konzepten, die in der Geschichte der Sprachwissenschaft eine Rolle spielen. Ein schönes Beispiel (unter vielen) ist der Aufsatz «Geografia linguistica e assiomatica saussuriana: di una convergenza ideologica nel primo Novecento» von 1982 4 . Rudolf Engler betonte immer wieder, dass er Linguistik ohne Philologie als unvollständig betrachtete. Empirie und Abstraktion mussten für ihn zusammenwirken, wenn die Komplexität der sprachlichen Verhältnisse adäquat erfasst werden sollte. Diese Haltung spiegelte sich ausser in seinen Schriften auch in seinem universitären Unterricht, und sie erklärt seine Enttäuschung und Empörung, mit der er auf die Entwicklungen der letzten Jahre an der Universität Bern (und natürlich nicht nur dort) reagierte. Damit komme ich zur Würdigung des Universitätslehrers und Kollegen Rudolf Engler. Seit 1982, als die Berner Fakultät nach dem Rücktritt von Siegfried Heinimann eine Verdoppelung des Lehrstuhls für Romanische Philologie beschloss (das waren noch Zeiten! ) und wir gleichzeitig als Ordinarien berufen wurden, teilten wir uns in die Aufgaben des Unterrichts. Da unsere Schwerpunkte, jedenfalls in geographischer Hinsicht, ziemlich ähnlich gelagert waren, wechselten wir uns in den Veranstaltungen des Grundstudiums ab: Einführung in die Romanische Philologie,Altfranzösisch und Altitalienisch übernahmen wir abwechslungsweise. Nie hat sich eine Unstimmigkeit ergeben, obschon wir in der Gewichtung der Inhalte und im Stil des Unterrichts ziemlich verschieden vorgingen. Auch für die Studenten war diese Situation kein Nachteil. Sie schätzten vielmehr die unterschiedliche Art der Vermittlung und akzeptierten die Verschiedenheit ihrer Dozenten. Rudolf Engler ersparte seinen Hörern die Differenziertheit, die seinen eigenen Umgang mit linguistischen Fragen kennzeichnete, keineswegs. Für schwächere Studenten mochte seine Art, ein Problem anzugehen, eine Position zu skizzieren, um sie dann von allen möglichen Seiten her in Frage zu stellen, zu modifizieren und vielleicht auf den Kopf zu stellen, schwer verständlich und vielleicht abschreckend sein; für die Interessierten und Aufgeweckten war sie eine Herausforderung. Wenn Rudolf Engler auch nicht ein Dozent war, der seinen Hörern die Lehrinhalte in bequemen Appetithäppchen servierte, so war er doch immer ein freundlicher und verständnisvoller Gesprächspartner seiner Schülerinnen und Schüler. Er nahm Anteil an ihren Problemen, den universitären und den persönlichen. Als die Romanische Philologie in Bern als Fach und Methode von vielen Seiten her angefeindet und 4 Nr. 62 in der Bibliographie der Festschrift. 360 Ricarda Liver zurückgedrängt wurde, waren Rudolf Engler und ich Bundesgenossen auf verlorenem Posten. Der so bescheidene, zurückhaltende und sanfte Rudolf konnte in den Auseinandersetzungen, die sich damals abspielten, zuweilen energisch und heftig werden. Rudolf Engler war ein engagierter Wissenschaftler, einem klaren Ziel verpflichtet. Er war ein Universitätslehrer, der sich ganz für seine Aufgabe und für seine Schüler einsetzte. Er war für seine Freunde und Kollegen ein immer anregender und immer liebenswürdiger Partner. Sein Zentrum jedoch hatte er in seiner Familie, deren Freuden und Sorgen die seinen waren. Seine Frau Marianne mit ihrer starken Vitalität und ihrem gesunden Wirklichkeitssinn war Zeit seines Lebens die Stütze des sensiblen Gelehrten. Lützelflüh Ricarda Liver Publikationen von Rudolf Engler 1990-2003 5 85. R. Amacker/ R. Engler (ed.), Présence de Saussure. Actes du Colloque International de Genève (21-23 mars 1988), Genève 1990 (Publications du Cercle Ferdinand de Saussure 1) 86. «Présentation», in: Amacker/ Engler 1990: v-viii 87. «La parte di Saussure», in: P. Montani/ M. Prampolini (ed.), Convegno Roman Jakobson (Roma, 25-29 novembre 1986), Roma 1990: 40-43 88. «Heureux qui comme Ulysse a fait un beau voyage . . . », CFS 45 (1991): 151-65 89. «La discussion italienne sur la norme et sa réception en Europe», in: P. Knecht/ Z. Marzys (ed.), Écriture, langues communes et normes: formation spontanée de koinès et standardisation dans la Galloromania et son voisinage. Actes du colloque (Neuchâtel, 21-23 septembre 1988), Neuchâtel/ Genève 1994: 205-25 (Recueil de travaux publiés par la Faculté des Lettres de l’Université de Neuchâtel 42) 90. *P. Wunderli, Principes de diachronie: contribution à l’exégèse du «Cours de linguistique générale» de Ferdinand de Saussure, Frankfurt etc. 1990; VRom. 52 (1993): 293-98 91. «La forme idéale de la linguistique saussurienne», in: T. de Mauro/ Sh. Sugeta (ed.), Saussure and Linguistics Today, Roma 1995: 17-40 92. «Iconicity and/ or arbitrariness», in: R. Simone (ed.), Iconicity in language, Amsterdam/ Philadelphia 1995: 39-45 (Current Issues in Linguistic Theory 110) 93. «Niveau et distribution d’éléments dans le rapprochement de théories linguistiques», in: M. Arrivé/ C. Noemand (ed.), Saussure aujourd’hui. Colloque (Cerisy La Salle, 12-19 août 1992), Paris 1995: 187-99 (Linx, numéro spécial) 94. «Borghini,Vincenzo», «Gauchat, Louis», «Gilliéron, Jules», «Godel, Robert», «Pictet,Adolphe», «Salviati, Leonardo», «Saussure, Ferdinand», «Speroni, Sperone», «Varchi, Benedetto», in: H. Stammerjohann (ed.), Lexicon grammaticorum. Who’s who in the History of World Linguistics, Tübingen 1996: s. v. 95. «Ferdinand de Saussure (1857-1913)», in: J. Wüest (ed.), Les linguistes suisses et la variation linguistique. Actes du colloque organisé à l’occasion du centenaire du Séminaire des langues romanes de l’Université de Zurich, Basel/ Tübingen 1997: 21-30 (RH 116) 96. «Bibliographie saussurienne 6», CFS 50 (1997): 247-95 (siehe dazu auch: «Errata corrige», CFS 51 [1998]: 295-97) 5 Die Publikationen bis 1989 sind in der Festschrift von 1990 verzeichnet. Sie umfassen 87 Titel, wobei die drei letzten (Nr. 85-87) damals noch im Druck waren. Wir beginnen hier neu mit Nr. 85. 361 Rudolf Engler (1930-2003) 97. «Ferdinand de Saussure: De l’essence double du langage. Présentation d’un extrait du dossier Sciences du langage [1891]», CFS 50 (1997): 201-05 98. «La géographie linguistique», in: S. Auroux (ed.), Histoire des idées linguistiques, vol. 3: L’hégémonie du comparatisme, Hayen 2000: 139-52 (Philosophie et langage) 99. «La langue, pierre d’achoppement», Modèles linguistiques 21/ 1 (2000): 9-18 100. «Stalder und Saussure», in: K. Stalder, Sprache und Erkenntnis der Wirklichkeit Gottes. Texte zu einigen wissenschaftstheoretischen und systematischen Voraussetzungen für die exegetische und homiletische Arbeit, ed. Urs von Arx unter Mitarbeit von Kurt Schori und Rudolf Engler, Freiburg (Schweiz) 2000: 122-47 (Oekumenische Beihefte 38) 101. «Entre Bally, Spitzer, . . . Saussure», CFS 54 (2001): 61-81 102. «Die Accademia della Crusca und die Standardisierung des Italienischen», in: S. Auroux et al., History of Language Sciences/ Geschichte der Sprachwissenschaften/ Histoire des sciences du langage. An International Handbook of the Study of Language from the Beginnings to the Present/ Ein internationales Handbuch zur Entwicklung der Sprachforschung von den Anfängen bis zur Gegenwart. Vol. I/ 1 Berlin/ New York 2000: 815-28 (HSK 18) 103. S. Bouquet/ R. Engler (ed.), Écrits de linguistique générale par Ferdinand de Saussure, Paris 2002 (Bibliothèque de Philosophie) 104. R. Engler/ I. Vilkou-Poustovaïa, «À propos de la réflexion phonologique de F. de Saussure», HL 30, 1/ 2 (2003): 99-128
