eJournals Vox Romanica 63/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
631 Kristol De Stefani

Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen

121
2004
Ricarda  Liver
vox6310036
Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen In questo articolo viene abbozzato un quadro complessivo del campo semantico della comunicazione verbale nel romancio dei Grigioni in una prospettiva sia sincronica sia storica. In un primo momento si descrivono le espressioni per ¢ dire , ¢ parlare , ¢ lingua , ¢ parola nonché i lessemi relativi al ¢ chiacchierare e alle diverse realizzazioni acustiche del parlare ( ¢ mormorare , ¢ bisbigliare ecc.) nella loro distribuzione attuale nelle regioni romance. La parte centrale del contributo traccia la storia dei singoli termini, tenendo conto della posizione del romancio nell’ambito delle parlate alpine confinanti (lombardo alpino e ladino dolomitico) e in quello più vasto della Romania. Si conclude che le espressioni situate nel nucleo del campo sono per la gran maggior parte di origine latina, spesso di una latinità speciale dove la lingua giuridica ha una parte importante. Sorprende in special modo l’assenza dei derivati di parabola, parabolare. Nelle sfere secondarie ( ¢ chiacchierare , ¢ mormorare ecc.) prevalgono le basi onomatopeiche e le derivazioni con suffissi fortemente espressivi. 1. Einleitung «Solo homini datum est loqui», sagt Dante in seinem Traktat über die italienische Sprache, De vulgari eloquentia (I,ii,1). Hier und an anderen Stellen (so im Convivio) betont er, dass die Sprachfähigkeit das spezifische Merkmal des Menschen ist, das auch dessen Stellung im Kosmos bestimmt: unterhalb der rein geistigen Wesen, die keine Sprache brauchen, und oberhalb der übrigen animalia, die keine Sprache besitzen. Wie die Sprachen (die konkreten Einzelsprachen) das Phänomen des Sprechens behandeln, hat schon zu zahlreichen Untersuchungen Anlass gegeben. Für die romanischen Sprachen ist die Arbeit von René Chatton aus der Mitte des letzten Jahrhunderts (1953) immer noch eine reiche und zuverlässige Quelle. Auch zum Bündnerromanischen ist dort Wesentliches gesagt. Die folgende Darstellung wird Einiges davon wiederaufnehmen. Sie möchte jedoch darüber hinaus ein zusammenhängendes Bild des Wortfelds der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen entwerfen, in dem sowohl die heutige Verteilung der lexikalischen Typen als auch deren historische und geographische Einordnung zum Ausdruck kommt. Chatton hat sich im Wesentlichen auf die zentralen Verben für ¢ sprechen , ¢ sagen und ¢ reden beschränkt. Hier sollen auch semantisch affine Bereiche einbezogen werden. Damit sind in erster Linie die Inhalte ¢ plaudern und ¢ schwatzen gemeint. Die Verben, die diesen Bereich abdecken, teilen eine Grundbedeutung ‘sprechen’, angereichert durch mehr oder weniger pejorative Zusatzbedeutungen. Vielfach können Verben dieser Art jedoch wertfrei den Sprechakt ausdrücken, so bagliaffar im Sutselvischen, tavellar im Engadinischen. Ähnlich ist schwätze z. B. im Baseldeutschen das geläufige Verb für ‘sprechen, reden’. 37 Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen Ausgeschlosssen aus der folgenden Untersuchung bleiben die zahlreichen Verben, die eine verbale Äusserung bezeichnen, ohne den Sprechakt im eigentlichen Sinn zum Ausruck zu bringen 1 . Mitberücksichtigt werden dagegen Verben, die besondere Realisierungen des Sprechens bezeichnen, wie undeutliches oder leises Sprechen (murmeln, flüstern . . .). Nach einer Bestandesaufnahme der Formen und deren geographischer Verteilung im heutigen Bündnerromanischen soll in einem zweiten Schritt der Blick auf die Sprachgeschichte und auf die nähere romanische Nachbarschaft (Oberitalienisch und Dolomitenladinisch), teilweise auch auf die Gesamtromania, erweitert werden. Daraus ergibt sich das Profil des Wortfeldes der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen in Synchronie und Geschichte. 2. Bestandesaufnahme 2.1 ¢ Sagen , ¢ sprechen , ¢ reden ; ¢ Sprache , ¢ Wort 2.1.1 Verben des Sprechens Für transitiv ¢ sagen herrscht in ganz Romanischbünden der Typus dicere, genau wie in Italien und Frankreich. Die phonetischen Abweichungen von der vorherrschenden Lautung dir, vor allem in Mittelbünden, sind im Artikel dir i des DRG (5: 251-63, Decurtins) verzeichnet. Weniger einheitlich ist das Bild, das sich im Bereich ¢ sprechen, reden ergibt. Einige Worttypen finden sich in allen oder doch mehreren Idiomen, wobei ein bestimmtes Verb zum Teil nicht überall dieselbe Bedeutung hat, zum Teil in den verschiedenen Regionen verschiedenen Sprachvarietäten angehört. Zudem variiert die Rangfolge, in der die verschiedenen Typen in den einzelnen Idiomen auftreten: Im Surselvischen und im Ladinischen stehen tschintschar/ tschantschar und discuor(r)er für die Bedeutung ‘sprechen’ an erster Stelle (im Surselvischen ist tschintschar, im Engadinischen discuorrer häufiger), während in der Sutselva bagliafar, im Surmeir ruschanar diesen Platz einnehmen. In der Mitte des letzten Jahrhunderts scheint discuorer in der Surselva gegenüber tschintschar diaphasisch noch eine höhere Position eingenommen zu haben. Diese Auskunft erhielt jedenfalls René Chatton von Andrea Schorta, der sich auch im Artikel discuorrer in DRG 5: 286 (1968-72) in diesem Sinn äusserte. Inzwischen scheint discuorer jedoch weitgehend mit tschintschar gleichzuziehen. Eine Verwendung wie el discuora tudestg, die Schorta damals noch ausgeschlossen hatte, ist heute absolut normal. So sagen z. B. zwei von fünf Personen, die in der Tageszeitung La Quotidiana vom 25. September 2003 zu ihrer Meinung über die Ein- 1 Die Entsprechungen von dt. bemerken, meinen, fragen, antworten, erzählen, versichern, verlauten lassen etc. 38 Ricarda Liver führung der Einheitssprache rumantsch grischun in die Schule befragt wurden: «Sch’in affon . . . discuora . . . mo pli rumantsch grischun», «sch’ei vegness discurriu rumantsch grischun sil radio», während die drei anderen für «eine Sprache sprechen» die Verben tschintschar und risdar verwenden. Diaphasisch deutlich höher angesiedelt als tschintschar/ tschantschar und discuor(r)er sind plidar (surs. und suts.) und favlar, -er (eng.), die beide ‘sprechen’ bedeuten. Plidar steht als gewähltere Variante für ‘sprechen’ in der Surselva neben discuorer und tschintschar, in der Sutselva neben bagliafar und raschunar. In ganz Romanischbünden hat es zudem die technisch-juristische Bedeutung ‘plädieren’ (vor Gericht). Gewählt, heute nur noch literarisch, ist auch eng. favlar, -er ‘sprechen’. Im Altengadinischen, bei Travers, Bifrun und Chiampel, war es noch in der Bedeutung ‘sprechen, reden’ geläufig (cf. DRG 6: 172). Plidar ist schon in der Einsiedler Interlinearversion aus dem 11. Jh., einem der spärlichen Texte aus dem rätoromanischen Mittelalter, in der Bedeuung ‘sprechen’ belegt: si plaida ille diauolus, periphrastische Übersetzung von lateinisch dicens (Liver 1991: 101). Dass das Verb in dieser Bedeutung in früheren Zeiten auch ausserhalb des rheinischen Gebiets lebendig war, bezeugen altengadinische Texte (cf. Chatton 1953: 111) und die Ableitung plededar ‘Redner’ bei Bifrun (Apg. 24,1). Auch der in ganz Romanischbünden präsente Typus plidentar ‘ansprechen’ (so surs. und vall.) setzt eine Basis plidar voraus. Zudem spricht auch die Tatsache, dass die Resultate von placitum (surs. plaid, sonst pled) im gesamten Gebiet ‘Wort’ bedeuten, für eine frühere allgemeine Präsenz von placitare. Im Engadin steht neben discuorrer und tschantschar auch tavellar für ‘sprechen, reden’. Obschon dieses Verb auch die Bedeutungen ‘plaudern, schwatzen’ aufweist (dazu unten 3.), ist es in denotativer Hinsicht oft austauschbar mit discuorrer/ tschantschar. Diaphasisch kann es als familiär markiert bezeichnet werden. Für surs. raschunar verzeichnet Decurtins 2001 nebst der Bedeutung ‘reden’ auch ‘erzählen’, ‘plaudern’ sowie eine deutlich abweichende Bedeutung ‘schätzen, einschätzen, werten’. Derselbe Worttypus hat dagegen im Sutsilvan (raschunar) und im Surmiran (ruschanar, 3. raschunga) ausschliesslich die Bedeutung ‘sprechen’. Im Surmiran ist ruschanar das vorherrschende Verb des Sprechens. Im Engadin steht derselbe Worttypus, vall. radschunar, put. radschuner, dagegen für ‘räsonieren, diskutieren’. Schliesslich ist noch surs. risdar zu erwähnen, das ebenfalls ‘sprechen’ bedeutet 2 , nebst ‘erzählen’ und ‘berichten’. Dasselbe Verb hat im Sutsilvan und Surmiran ausschliesslich die Bedeutung ‘erzählen’, im Engadin (vall. resdar, put. resder) dagegen bedeutet es ‘rezitieren, aufsagen, hersagen’. Peer 1962 verweist auf das offenbar geläufigere recitar. 2 Surs. risdar wird sogar in der Bedeutung ‘eine Sprache sprechen’ verwendet, so im erwähnten Interview in LQ 25.09.03: «Sch’ei vegn risdau plirs romontschs a casa» (Sonja Hossmann, Castrisch). 39 Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen Die folgende Tabelle fasst die beschriebene, reichlich unübersichtliche Situation der Verben für ‘spechen, reden’ im Bündnerromanischen zusammen. Die in einem bestimmten Idiom vorherrschende Form wird fett, die diaphasisch als «hoch» markierten Formen werden kursiv gedruckt. surs. suts. surm. put. vall. tschintschar tschantscher tschantschar discuorer dascurer discorrer discuorrer discuorrer bagliafar raschunar raschunar ruschanar baterlar risdar tavellar plidar plidar favler favlar 2.1.2 Wort Von der gesamtbündnerromanischen Verbreitung von plaid/ pled war schon die Rede. Wie ital. parola besetzt plaid/ pled in RB sowohl den Raum von fr. mot als auch den von parole: surs. scazi da plaids ‘Wortschatz’, il plaid da Diu ‘das Wort Gottes’. Daneben kennen alle Idiome (mit Ausnahme des Surmiran, wo neben pled der Italianismus parola vorhanden ist) das stilistisch deutlich höher angesiedelte vierv. 2.1.3 Sprache Für ¢ Sprache im Sinne von ‘Einzelsprache, Muttersprache’ herrscht von der Surselva über die Sutselva bis ins Surmeir lungatg, während das Engadin lingua hat. In der Surselva ist lingua nur literarisch und gegenüber lungatg deutlich sekundär. Im Engadin kommt linguach vornehmlich in der Verbindung linguach matern vor. Zwei weitere Worttypen, faviala/ favella und viarva/ verva, sind ebenfalls stilistisch gehoben. Surs. faviala, suts. faveala, surm. favela, vall./ put. favella wird von den Wörterbüchern vorwiegend als ‘Sprachfähigkeit, Sprachvermögen’ definiert, daneben auch als ‘Sprache’ (lit.). Surs. viarva bedeutet nach Decurtins 2001 ‘Sprache, Rede’ (gehoben), während surm. verva nach Sonder/ Grisch 1970 nebst ‘Sprache’ auch ‘Schwung, Feuer’ (in der Sprache) bedeutet, wie fr. verve. 40 Ricarda Liver Einem stilistisch hohen Register gehören auch die metonymischen Verwendungen von plaid/ pled und vierv in der Bedeutung ‘Sprache’ an. In allen Idiomen finden sich deverbale Ableitungen von tschintschar/ tschantschar, wobei immer eine Bedeutung ‘Gerücht, Gerede, Geschwätz’ mit der Bedeutung ‘Sprache, Rede’ einhergeht. Laut Decurtins 2001 ist surs. tschontscha zunächst ‘Sprache, gesprochene Sprache’, in zweiter Linie ‘Gerede, Geschwätz, Gerücht’. Im Sutselvischen tschàntscha, das ebenfalls diese beiden Bedeutungen aufweist, scheint dagegen die zweite Bedeutung (‘Gerücht’) vorherrschend zu sein. Die Wörterbücher für das Surmiran und das Engadinische stellen jeweils ‘Sprache’ vor ‘Gerücht’, wobei Peer 1962 vall. tschantscha, put. tschauntscha ‘Sprache’ als «gehoben» charakterisiert. 2.2 Wertneutrales Sprechen und negativ bewertetes Plaudern, Schwatzen, Klatschen Einige Verben des Sprechens oder Ausdrücke für ¢ Sprache haben im Bündnerromanischen neben der neutralen Bedeutung ‘sprechen’ zusätzlich eine mehr oder weniger negativ markierte Bedeutung ‘plaudern’, ‘schwatzen’, ‘klatschen’. In gewissen Gebieten besetzt ein Worttypus, der anderswo ‘schwatzen’ bedeutet, den Raum des neutralen Sprechens, ein Phänomen, das auch aus anderen Sprachgebieten bekannt ist. Das ist der Fall bei suts. bagliaffar ‘sprechen’. Derselbe lexikalische Typus steht in allen anderen Regionen Romanischbündens für ‘schwatzen’, oder, noch negativer, für ‘aufschneiden, lügen’ (cf. DRG 2: 43s.). Ähnlich bedeutet vall. baderlar, surs. paterlar, suts. batarlar ‘plaudern, schwatzen’, während surm. baterlar neben diesen eher pejorativen Bedeutungen auch für neutrales ‘sprechen’ verwendet wird (cf. DRG 2: 27s. und Ebneter 1981: 44). Vall. tavellar, von Peer 1962 als ‘reden, plaudern’ definiert, ist oft austauschbar mit den wertneutralen Verben discuorrer und tschantschar. Bei Biert, Müdada finden sich 34 Belege für tavellar neben 31 für tschantschar und 66 für discuorrer. Oft ist eine freundschaftliche und gemütliche Unterhaltung gemeint; die negative Färbung, je nach Kontext stärker oder schwächer, ist nie so deutlich wie etwa in baderlar. Im Oberengadin scheint dagegen taveller stärker pejorativ zu sein (Pallioppi 1895: ‘schwatzen’). Dagegen nimmt im Münstertal taveller (mit Akzentrückzug auf den Stamm, wie dort üblich) den Platz von vall. discuorrer ein. Gross 2002: 35 bemerkt: «El (scil. il Jauer) tavella . . . enstagl da ‘discuorrer’». Für deutlich negativ markiertes Sprechen, deutsch etwa ‘schwatzen, klatschen, tratschen’, kennen die einzelnen Idiome verschiedene weitere lexikalische Typen. Die negative Bewertung kommt teils durch bestimmte Suffixableitungen von neutralen Verben des Sprechens zustande, teils beruht sie auf expressiven Wortstämmen (dazu unten 3.3). Von surs. tschintschar ‘sprechen, reden’ sind die pejorativen Verben tschintscherlar ‘schwatzen, plappern, faseln’ und tschintschergnar ‘drauflos schwatzen’ 41 Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen abgeleitet. Auch im Sutselvischen ist tschantscherlar ‘plappern, quatschen, schwatzen’ geläufig, während ein Simplex *tschantschar von den suts. Wörterbüchern nicht ausgewiesen wird (wohl aber tschantscha ‘Rede, Sprache’, neben ‘Gerede, Gerücht’ an erster Stelle). Das Surselvische kennt nebst den erwähnten Verben noch tschatscher(l)ar (auch surm.: tschatscherlar) und scaffergnar, scafferlar ‘ausplaudern, ausschwatzen, ausposaunen’, ferner parlahar, parlatar und tarlahar. Der in suts. talatgear ‘plaudern, quatschen, schwatzen’ vorliegende Worttypus setzt sich nach Osten hin fort in surm. talatger, put. talacker, vall. taloccar. Nur im Surmeir ist baitar belegt, ausschliesslich im Unterengadin bajoccar und pataflar. Dazu kommt noch put. bajer, vall. bajar. Diese ziemlich unübersichtliche Situation im Bereich ‘schwatzen, plappern’ fasst die folgende Tabelle zusammen. surs. suts. surm. put. vall. paterlar batarlar baterlar baderler baderlar bigliaffar bagliaffar bagliaffer bagliaffar tschintschergnar tschintscherlar tschantscharlar tschatscher(l)ar tschatscharlar tscharlatar scaffergnar, scafferlar talatgear talatger talacker taloccar taveller tavellar bajoccar baitar bajer bajar pataflar parlahar, parlatar tarlahar tapperlar 42 Ricarda Liver 2.3 Akustisch unterschiedliche Realisierungen des Sprechens Zwei Arten der Realisierung sprachlicher Äusserungen schlagen sich in den bündnerromanischen Idiomen in einer Reihe von Worttypen nieder: 1. das undeutliche, schlecht artikulierte Sprechen (murmeln, brummen, knurren, stammeln, lallen) 2. das leise Sprechen mit Ausschaltung der Stimmbänder (flüstern). In beiden Bereichen herrschen expressive Bildungen vor, die meist onomatopoetischen Ursprungs sind (dazu unten 3.3). Vor allem in der ersten Gruppe ist es oft nicht klar, ob eine rational interpretierbare sprachliche Äusserung oder ein unartikuliertes Geräusch gemeint ist. Die Erläuterungen in den Wörterbüchern sind hier wenig hilfreich; erst die konkreten Redebedeutungen können Auskunft geben. Die folgende Tabelle listet die Verben für undeutliches Sprechen in ihrer Verteilung in den bündnerromanischen Idiomen auf: surs. suts. surm. put. vall. murmignar marmugnear murmagner marmugner marmuognar barbotter barbottar sburbatar sbarbatar (s)burblatar burblattar sburbigliar sburbaglear bruncler brunclar bruntuler bruntular gnugnar gnurgnear gnugnier rugnier rugner rögnar tugnar tugnear tuntignar Die folgende Tabelle enthält die Verben für ‘flüstern, leise sprechen’, wobei gewisse Überschneidungen mit dem Bereich des undeutlichen Sprechens vorkommen: bei bisbigliar geben einige Wörterbücher (sutselvisch, engadinisch) auch ‘lispeln’ als deutsche Übersetzung an. 43 Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen surs. suts. surm. put. vall. scultar scultar scultergiar scutar scutter scuttar scutinar scutinar scutinar scuttiner scuttinar scusatar scusatar scusinar bisbigliar bisbiglear bisbiglier bisbiglier bisbigliar tschular 3. Auswertung: Etymologische Basen und geographische Verbreitung 3.1 Die etymologischen Basen In den meisten Fällen ist die etymologische Basis der unter 2. erwähnten lexikalischen Typen klar. Einzelne Probleme werden von Fall zu Fall diskutiert. Grob gesehen zerfallen die lexikalischen Typen für ¢ sprechen und Affines in zwei Gruppen. Eine erste Gruppe lässt sich durchweg auf lateinische Etyma zurückführen. Die zweite Gruppe beruht vorwiegend auf onomatopoetischen Basen. Die erste Gruppe umfasst alle Verben für ¢ sagen , ¢ sprechen , ¢ reden mit Ausnahme von tschintschar/ tschantschar, das onomatopoetischen Ursprungs ist, sowie die Ausdrücke für ¢ Wort und ¢ Sprache , ¢ Rede ausser dem von tschintschar/ tschantschar abgeleiteten tschontscha/ tschantscha. 3.2 Lateinische Etyma der Verben des Sprechens und der Ausdrücke für ¢ Wort und ¢ Sprache Die lateinischen Verben, die den bündnerromanischen Ausdrücken für ¢ sagen , ¢ sprechen , ¢ reden zugrunde liegen, sind dicere, discurrere, fabellare/ fabulare, placitare, rationare und recitare. Einzig im Fall von dicere dir ‘sagen’ ist die Bedeutung im Romanischen dieselbe wie im Lateinischen. In allen anderen Fällen liegt entweder eine Bedeutungsveränderung vor, oder das Basisverb gehört erst einer späteren Latinität und/ oder einer spezifischen Gebrauchssphäre an. Lat. discurrere ‘überall herumlaufen’ wird erst in der Spätantike zu einem Verb des Sprechens, offenbar nach dem Vorbild von gr. διελ ει ´ ν , Inf. aor. von δι ρ μαι 44 Ricarda Liver ‘erörtern, erzählen, besprechen, vortragen’. Diese Bedeutungen weisen auf eine Gebrauchssphäre hin, die den rhetorisch-literarischen sowie den forensischen Bereich abdeckt. Eine Bedeutungsentwicklung von ‘erörtern, besprechen’ zu ‘sprechen’ schlechthin, wie sie im Bündenerromanischen und in einigen italienischen Dialekten vorliegt (cf. Chatton 1953: 115s.; dort auch galloromanische und katalanische Beispiele 3 ), ist auch bei Gregor dem Grossen belegt, ep. 9,3 (cf. Blaise s. discurrere). Nicht ohne weiteres durchsichtig ist der Fall von eng. favlar, -er. Der entsprechende Artikel im DRG (6: 172) ordnet das Verb der Basis fabellare zu, ohne Alternativen in Betracht zu ziehen. Ebenso verfährt das HR s.v. (313). Aber schon Chatton 1953: 44 bemerkt: «Im Rätoromanischen sind die Formen von fabulare und *fabellare nicht immer eindeutig auseinanderzuhalten.» Er führt in der Folge Beispiele von endungsbetonten Formen auf, in denen die Synkope mögliche lautliche Unterschiede verschleiert, seltsamerweise aber nicht diejenige oberengadinische Form, die eindeutig auf fabulat und nicht auf fabellat zurückgeht, nämlich die 3. Person Ind. Präs. fevla (Peer 1962). Auch im betreffenden DRG- Artikel, wo diese Form zwar zitiert ist, fehlt jeglicher Kommentar dazu. Pallioppi, dessen Etymologien bekanntlich nicht immer zu trauen ist, gibt als Etymon von favler lat. fabulari. Er könnte in diesem Fall Recht haben. Es ist durchaus möglich, dass in Graubünden das in der lateinischen Umgangssprache geläufige fabulari, von dem span. hablar, port. fallar herkommen, präsent war, bevor das jüngere (nur in Glossen belegte) fabellare (vielleicht über ital. favellare) dazukam. Das Paradigma des Indikativ Präsens im Puter dürfte sich aus der Mischung der beiden Basen erklären: eau favel, tü favellast, el favella/ fevla 4 . Bei Chiampel, wo in den Vorreden zum Cudesch da psalms (dem eigenen Vorwort und der Übersetzung von Johannes Zwicks Verteidigung des Kirchengesangs) fawlar, in eindeutiger Synonymie mit tschantschar, mehrfach vorkommt, lautet die 3. Person Singular immer fawella (Introd. XXI,66; XXVI,80; XXVI,90). Auch bei Bifrun, NT findet sich fauella in derselben Funktion (Mt. 10,20). Chatton zitiert des weiteren eine Stelle aus Grass, Psalms, einem surselvischen Text von 1683: mo sch’ell mai ün pled favella. In DRG 6: 172 fehlt dieser Beleg 5 . Wir schliessen hier die Diskussion von tavellar an, das in der Literatur zum Teil mit favellar in Verbindung gebracht wurde. Trotz der Verwandtschaft der Lautkörper von favellar und tavellar hat die (nicht weiter begründete) Auffassung von Ch. Pult, in tavellar hätte sich fvon favellar zu tgewandelt (Pult 1897, §197), keine Nachfolge gefunden. HR tendiert, ohne den Vorschlag für gesichert zu halten («ungeklärt»), für eine Anbindung des Verbs an *tabellare, Ableitung von tabella ‘Brettchen’. Ausgehend von oberital. und friulan. Parallelen, wo tavelà 3 Ebenso zu Reflexen von discurrere in der italienischen und französischen Schriftsprache. 4 Vonmoos 1942: 159 gibt allerdings für die 3. Person nur favella, ebenso Vellemann 1929: 211. 5 Möglicherweise wollte der Autor des Artikels (Stricker) nicht den Anschein erwecken, favlar sei auch im Surselvischen geläufig gewesen. Grass war ursprünglich Engadiner. 45 Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen ‘pflastern’ bedeutet, wird eine Bedeutungsentwicklung von ‘pflastern’ über ‘lärmen’ zu ‘reden’ (in Anlehnung an favlar) postuliert. Naheliegender scheint mir die schon von REW 8509 s. tabella vorgeschlagene Anknüpfung an ital. tabella ‘Karfreitagsklapper’ zu sein, umso mehr, als hier auch eine übertragene Bedeutung ‘ciarlone’ bezeugt ist (DEI s. tabella) 6 . placitare, ein Terminus der Rechtssprache, der im mittelalterlichen Latein in verschiedenen juristisch-technischen Bedeutungen vital war (cf. Niermeyer s.v.), lebt in br. plidar weiter, das überall ‘plädieren’ bedeutet, darüber hinaus in Rheinisch Bünden (Surselva und Sutselva) aber auch ‘sprechen’. Diese Bedeutung ist auch im älteren Engadinischen belegt, so bei Chiampel: Ün chi ssaa bain tschantschar u plidar (Introd. XXVII,142). Auch im Friulanischen ist nach dem Nuovo Pirona plaidâ ‘parlare’ als «alt» ausgewiesen, neben dem geläufigen favelà. Die allgemeine Verbreitung der Resultate von placitum für ‘Wort’ (surs. plaid, sonst pled) unterstreicht die starke Präsenz des lexikalischen Typus in Romanischbünden 7 . Eine spätere Ableitung von plaid/ pled ist surs. pladir, suts. pladir, plidir, surm. pladeir ‘dingen, anstellen’. rationare, die Basis von surs./ suts. raschunar, surm. ruschanar, ist erst im mittelalterlichen Latein belegt. Dort hat der Neologismus juristische und technische Bedeutungen. Niermeyer verzeichnet: 1. ‘compter’, 2. ‘arpenter’, 3. ‘plaider’. Der Übergang zu einem Verb des Sprechens, wie er in afr. raisnier, araisnier, ait. ragionare ‘parlare’ und den zitierten bündnerromanischen Formen belegt ist, dürfte von der letzten, juristischen Bedeutung ‘plaider’ ausgehen, ähnlich wie plidar von placitare. Die Karte AIS VIII: 1627, Gli parlerei io . . . (se lo trovassi), weist den Typus rationare für ‘parlare’ vereinzelt für die Toskana aus, ferner für Teile des Dolomitenladinischen. Nach den neueren Wörterbüchern ist er vor allem in Gröden und Fassa vital: Forni 2002 rujené ‘sprechen’, rujeneda ‘Sprache’; Dellantonio Tajina 1993 rejonér ‘parlare’, rejonèda ‘lingua parlata’ (neben lengaz ‘lingua’). Im Gadertal scheint der Typus vor baié zurückzuweichen: Mischí 2000 gibt als erste Bedeutung von ‘sprechen’ baié, als zweite rajoné. Videsott/ Plangg 1998, wo bajé ebenfalls an erster Stelle steht, vermerken zu rajoné «rar». ‘Sprache’ ist nach beiden Wörterbüchern lingaz. Das heute nur in der Surselva als Verb des Sprechens schlechthin geläufige risdar beruht wie suts./ surm. risdar ‘erzählen’, put. resder, vall. resdar ‘rezitieren’ auf lat. recitare ‘laut vorlesen’. 6 Gestützt wird diese Auffassung auch durch die Parallele von surs. (alt) battagliar ‘schwatzen’ zu battagl ‘Klöppel, Glockenschwengel’ und vall. dar dal battagl ‘schwatzen, klatschen’. Cf. auch unten 3.3.1.2 zu *talakk- und *tarl-. Cf. ferner die dt. Redensart sein (ihr) Mundwerk geht wie eine Karfreitagsratsche (Röhrich 1974: 481). 7 Im Galloromanischen sind entsprechende Bedeutungen ebenfalls vorhanden, aber viel weniger zentral als in Graubünden. Cf. Chatton 1953: 110-14, FEW 9: 6-10. 46 Ricarda Liver Auf eine weitere Verbreitung der Bedeutung ‘sprechen’ in früherer Zeit weist eine Stelle im altengadinischen Spill co ilg Filg da Dieu ais naschieu (Decurtins 1900/ 5: 358, v. 1190) hin: Ma quaista noat ’ns ho’l (scil. Dieu) risdô, Et tres seis Aungels ’ns ho’l àvisô, Cha nus nun dessans par si’ amur Plü turner tiers Herodes quel traditur! Es spricht einer der heiligen drei Könige. Die Bedeutung von risdô dürfte sein: ‘gesprochen, aufmerksam gemacht’. Chatton 1953: 141 denkt für risdar ‘sprechen’ an einen kirchensprachlichen oder juristischen Ursprung (recitare orationes, recitare legem). Für kat. resar, span./ port. rezar ‘beten’ liegt die Herkunft aus der Kirchensprache auf der Hand. Da im Bündnerromanischen entsprechende Entwicklungen nicht bekannt sind, ist hier eine Anknüpfung an die juristische Sprache wahrscheinlicher (cf. placitare, rationare). Von placitum plaid, pled ‘Wort’ war schon die Rede. Neben diesem heute absolut vorherrschenden, allein geläufigen Ausdruck für ‘Wort’ sind die Reflexe von verbum deutlich gehoben, einer gewählten Stilschicht angehörig: surs. vierv, suts. vierv, vearv, eng. vierv. Metonymisch kann vierv zudem ‘Sprache’ bedeuten, wie auch die Resultate des Plurals verba: surs. viarva, surm. verva (surm. auch ‘Schwung, Feuer’ [in der Sprache], wie eng. verva). Im Altengadinischen scheint vierv ‘Wort’ noch geläufig gewesen zu sein; jedenfalls verwendet Bifrun vierv oft neben pled in dieser Bedeutung 8 . Die heute vorherrschenden Bezeichnungen für ‘Sprache’ im Sinn von ‘Einzelsprache’, ‘Muttersprache’, eng. lingua, surs./ suts./ surm. lungatg, sind keine einheimischen Resultate der zugrundeliegenden lateinischen Etyma lingua bzw. lingua + -aticu. Vielmehr handelt es sich um Entlehnungen aus dem Italienischen, wobei lingua jünger, lungatg älter ist (cf. DRG 11: 278-80 und 280-82). Die einheimischen Reflexe von lingua sind eng. lengua, surs. lieunga, was in erster Linie ’Zunge’ bedeutet, nur vereinzelt und literarisch auch ‘Sprache’ (cf. DRG 11: 74-84). Bei den Abkömmlingen des Typus fabella, surs. faviala, suts. faveala, surm. favela, eng. favella steht heute die Bedeutung ‘Sprachfähigkeit’ im Vordergrund. Die Bedeutung ‘Sprache’ (Einzelsprache, Muttersprache) ist modern eher gewählt. Im Altengadinischen scheint sie noch allgemeiner verbreitet gewesen zu sein (cf. DRG 6: 168s.). 8 So Mt. 4,4; 27,14. Bifrun verwendet auch eine Kollektivform verva, z. B. Lu. 2,19; 24,11. Luzi Gabiel hat an allen entsprechenden Stellen plaid, plaids. 47 Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen 3.3 Vorwiegend onomatopoetische Basen für ¢ schwatzen , ¢ murmeln , ¢ flüstern 3.3.1 ¢ Schwatzen 3.3.1.1 Allgemeines Die bündnerromanischen Verben des Sprechens mit lautmalerischem Ursprung sind äusserst zahlreich, aber es sind - mit wenigen Ausnahmen - nicht die zentralen Verben des Sprechens, die ihrerseits vorwiegend lateinische Etyma aufweisen, sondern Ausdrücke für ‘plaudern’, ‘schwatzen’, ‘murmeln’, ‘flüstern’ (cf. oben 2.2 und 2.3). Überblickt man das Inventar der Verben für ¢ schwatzen und Affines im Bündnerromanischen, so fällt zunächst die ausserordentliche und variantenreiche Fülle von lexikalischen Typen auf. Dass diese Typen innerhalb des Sprachgebiets unterschiedlich verteilt sind, ist nicht unerwartet. Analoges kennt man aus allen Bereichen des bündnerromanischen Wortschatzes. Die Ausdrücke für ¢ schwatzen haben eine ausgeprägte Expressivität gemeinsam, die teils auf den onomatopoetischen Basen, teils auf den jeweiligen Suffixen (oder der Verbindung von beidem) beruht. Dass die etymologischen Verhältnisse in vielen Fällen ungeklärt sind, ist keine Besonderheit des Bündnerromanischen. Auch bei den deutschen Ausdrücken für ¢ schwatzen ist die Herkunft vielfach unsicher 9 . In einem ersten Schritt (3.3.1.2) besprechen wir die Verben für ¢ schwatzen , die auf eine onomatopoetische Basis zurückgehen: 1. * c an c -, c ar-, c a c -, 2. *bat-, 3. *bai-, 4. *talakk-, 5. *tarl-, 6. *tapp-. Es folgen die Formen, die an ital. parlare anknüpfen (3.3.1.3). In einem dritten Abschnitt (3.3.1.4) gehen wir auf problematische und umstrittene Etymologien ein. 3.3.1.2 Onomatopoetische Basen 1. * c an c -, * c ar-, * c a c - Wie ital. cianciare geht eng. tschantschar, -er, surs. tschintschar ‘sprechen’ auf eine lautmalerisches Basis c an c zurück. Durch Ableitung mit den pejorativ gefärbten Suffixen -ergnar und -erlar sind Ausdrücke für ¢ schwatzen entstanden: surs. tschintschergnar, tschintscherlar, suts. tschantscharlar. Die Basis von ital. ciarlare, * c ar-, findet sich in der Romania verschiedentlich (span. charlar, prov. charrar etc.; cf. DEI s.v. ciarlare). Ein entsprechendes Simplex fehlt im Bündnerromanischen. Dagegen gehört hierhin surm. tscharlatar mit dem auch anderwärts pejorativen Suffix -atar (cf. unten parlatar). Schliesslich gehört zu dieser Gruppe die Basis c a c - (cf. ital. ciacciare), die ebenfalls in suffigierten Verben auftritt: surs. tschatscherar, tschatscherlar, surm. tschatscharlar. 9 Cf. Kluge 1989 s. schwatzen, Quatsch. Ratschen, tratschen werden als onomatopoetisch qualifiziert. 48 Ricarda Liver 2. *bat- Das geläufigste Verb für ‘schwatzen’, auch, weniger negativ, ‘plaudern’, ist paterlar/ baderlar. Es ist im ganzen Gebiet vital: surs. paterlar, suts. batarlar, surm. baterlar, put. baderler, vall. baderlar. Die Anbindung an im antiken Latein nicht belegtes batare ‘den Mund aufmachen’ 10 , die DRG 2: 27 vorschlägt, ist überzeugend und allgemein akzeptiert. Die in der bündnerromanischen Bildung kombinierten Verbalsuffixe -erare und -ulare -erlar sind schon lateinisch häufig expressiven Verben des Sprechens eigen, wie DRG 2: 27 bemerkt: fabulare, garrulare, ululare etc. Cf. die besprochenen Verben surs. tschintscherlar, tschatscherlar, surm. tschatscharlar. Ausserhalb Romanischbündens ist die Bedeutung ‘schwatzen’ des Typus *baterulare selten; ital. baderlare, zweifellos gleicher Herkunft, bedeutet ‘indugiare’, ‘perder tempo’ 11 . Dagegen ist im Dolomitenladinischen ein Typus *batulare gut vertreten 12 . 3. *bai- Zu einer onomatopoetischen Basis, die das Bellen des Hundes abbildet (FEW 1: 299 bau, bai), gehören eine Reihe von Verben, die im Bündnerromanischen ‘schwatzen’ bedeuten. Put. bajer, vall. bajar ‘plaudern, schwatzen, plappern, aufschneiden’ ist eine unmittelbare Ableitung dieser Basis, wie ital. baiare (neben abbaiare). Oberitalienische Parallelen (cf. DRG 2: 57) weisen auf einen alten Zusammenhang zwischen dem Engadin und dem alpinlombardischen Nachbargebiet hin. Das auf das Surmeir beschränkte baitar ‘schwatzen, plaudern’, eine Ableitung von derselben Basis mit dem Suffix -ittare, scheint eine spätere Entlehnung aus dem angrenzenden Alpinlombardischen zu sein, wo entsprechende Formen, teils in leicht abweichender Bedeutung (z. B. Bormio baitar ‘sgridare, bajare, sbraitare’), bezeugt sind. Cf. DRG 2: 77. Auch vall. bajoccar ‘schwatzen’ ist laut DRG 2: 75 «durch engadinische Rückwanderer aus Italien importiert». Weniger sicher ist der Zusammenhang mit der Basis *baiin Falle von surs. bigliaffar, vall. bagliaffar, dessen Varianten in ganz Romanischbünden ‘schwatzen’ bedeuten, ausser im Sutsilvan, wo das Verb für ‘sprechen’ schlechthin steht. Zwar 10 Erst ein angelsächsisches Glossar des 8. oder 9. Jh.s bezeugt die Bedeutung ‘gähnen’ für batare: battat : ginath (FEW 1: 287). 11 Zu den lautlichen Problemen (pfür b- und -tfür -din gewissen Mundarten) cf. DRG 2: 27s. und HR 565. 12 Grödnerisch batulé (Forni 2002), gadertalisch batolè (Mischì 2002). Videsott/ Plangg 1998 verzeichnen für das Ennebergische kein entsprechendes Verb, jedoch die Substantive batolun, batolona ‘Aufschneider, Aufschneiderin’, die davon abgeleitet sind. Im fassanischen Wörterbuch (Dellantonio Tajina 1998) erscheint batolèr im italienisch-fassanischen Teil als Übersetzung von chiacchierare, während die Bedeutung desselben Verbs im fassanisch-italienischen Teil mit ‘pettegolare, spettegolare’ angegeben wird. 49 Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen liegt der Zusammenhang des bündnerromanischen Verbs mit oberital. baiafá ‘cianciare, mentire’ (VSI 2: 60s.) auf der Hand. Dessen Anbindung an *baiwird jedoch von Sganzini, dem Verfasser des betreffenden Artikels, in Frage gestellt. Er postuliert einen Zusammenhang mit Formen, die auf eine onomatopoetische Basis *baff («che esprime lo schiocco fatto con le labbra») zurückgeführt werden, so emil. sbafaiá, piem. bafoié, prov. bafoiá; baiafá wäre dann durch Metathese «promossa dall’analogia semantica con baiá ‘latrare, ciarlare’» entstanden 13 . 4. *talakk- Von der Bezeichnung für ‘Kuhschelle’, surs. talac, suts. talac, talatg, surm. talatg, put. talac, vall. taloc besteht in den meisten Idiomen eine verbale Ableitung, die ‘schwatzen’ bedeutet: suts. talatgear, surm. talatger, put. talacker, vall. taloccar. Der Worttypus ist auch im Surselvischen vorhanden, aber nicht in der Bedeutung ‘schwatzen’, sondern als talaccar ‘schellen, läuten’, und übertragen als ‘trödeln, bummeln’. Die dem Substantiv zugrundeliegende Onomatopöie ist unmittelbar einleuchtend. 5. *tarl- Von einem onomatopoetischen Ansatz *tarl-, der ein klapperndes Geräusch nachahmt, ist surs. tarlahar ‘schwatzen’ abgeleitet. Dieselbe Basis liegt surs. tarlaccar zugrunde. Tarlàca ‘raganella’ ist für Biasca bezeugt (Decurtins 2001 s. tarlaccar). Ferner sei daran erinnert, dass im Berndeutschen chlappere ebenfalls ‘plaudern, tratschen’ bedeutet. 6. *tapp- Surs. tapperlar, ‘geschwätzig sein, drauflos plaudern’ wird von Decurtins 2001 zu tappa I ‘Schwätzer, Maul’ gestellt, das auf eine onomatopoetische Basis tappzurückgeht. Oberitalienische Parallelen (Bormio, Como) bezeugen eine weitere Verbreitung des lexikalischen Typus. Cf. auch FEW 13: 7 tabb-. 3.3.1.3 Ital. parlare Surs. parlahar und parlatar, stark pejorativ markierte Verben für ‘schwatzen’, schliessen an ital. parlare an. Obschon keine Onomatopöie vorliegt, werden diese 13 Die Diskussion um die Lautung / / in br. bigliaffar, bagliaffar, wie sie in den verschiedenen Wörterbüchern geführt wird, gelangt zu keinen schlüssigen Resultaten. Schorta (DRG 2: 44) sieht eine Schwierigkeit darin, dass rtr. / / nicht ital. / j/ , sondern / gj/ , / kj/ entspreche: eng. vegl/ ital. vecchio. Es ist aber nicht einzusehen, warum das toskanisch geprägte Standarditalienische und nicht das Oberitalienische zum Vergleich herbeigezogen wird. In einem Nebensatz wird denn auch auf die Gleichung rtr. paglia/ oberital. paja hingewiesen. Warum Sganzini in seiner (oben referierten) Erklärung die Rechtfertigung des br. Palatals sieht, ist nicht einsichtig. 50 Ricarda Liver Formen hier besprochen, weil sie sich in ihrer Expessivität in den Kreis der besprochenen Verben für ‘schwatzen’ einfügen. Zwar ist parlatar von parlata abgeleitet, das tel quel aus dem Italienischen übernommen ist; es liegt jedoch nahe zu vermuten, dass das Suffix -atar, das von Decurtins 2002 wiederholt als «intensiv» bezeichnet wird (cf. sburbatar, sfugatar, tschallatar, tscharlatar), von den Sprechern als Ausdruck von Expressivität empfunden wird. Dasselbe gilt mit Sicherheit für das Suffix -ahar in parlahar. Es begegnet ausser hier noch in cumahar, Nebenform von cumandar, und in tarlahar, von dem gleich die Rede sein wird. Die für eine romanische Sprache auffällige Lautung / h/ , die im Surselvischen oft in Entlehnungen aus dem Deutschen auftritt, kennzeichnet auch eine Reihe von substantivischen Ableitungen von parlahar: parlahada, parlahanza ‘Geschwätz, Wortschwall’, parlahader, parlahauner ‘Schwätzer’. 3.3.1.4 Problematisches Vall. pataflar ‘schwatzen, plappern’ gehört mit einiger Sicherheit zur onomatopoetischen Basis patt-, die fr. patte zugrundeliegt und vor allem im Galloromanischen eine semantisch weitgefächerte Palette von Repräsentanten und Ableitungen entwickelt hat (cf. FEW 8: 29-51). Neben dem Verb stehen im Engadinischen patafla, patafcha, patüfla ‘Schwätzerei, Aufschneiderei’ und pataflunz, -a ‘Schwätzer(in)’. Auch surs. patahefla ‘unwahres, sinnloses Geschwätz’ und surm. patefla ‘Geschwätz’ (zitiert bei Decurtins 2001 s. patahefla; fehlt in den Wörterbüchern) gehören hierhin. Sowohl HR 567 s. patüfla als auch Decurtins 2001 s. patahefla bezeichnen die Herkunft als ungeklärt. HR zieht jedoch die Herleitung von onomatopoetisch pattin Betracht, vermisst jedoch oberital. Belege mit der Bedeutung ‘schwatzen’ und vermutet «möglicherweise . . . Reliktgut, das RB mit der Galloromania verbindet». Dazu ist beizufügen, dass der Typus pattauch in der in der Galloromania vorherrschenden Bedeutung ‘Pfote’ in Oberitalien und Graubünden nur schwach vertreten ist. AIS VI: 1119 la zampa del gatto bezeugt den Typus patta für das Engadin (neben tschatta), das Bergell und einen einzigen Punkt im Veltlin (227 Albosaggia). Friulan. pataf, patuf ‘schiaffo’, das Decurtins unter patahefla zum Vergleich anführt, gehört zu den Ausformungen von patt-, die ein Geräusch bezeichnen (so mfr. patac ‘bruit désordonné’, FEW 8: 45). Eine Spezialisierung oder Weiterentwicklung dieser Bedeutung stellen die Ausdrücke dar, die in Richtung ‘schwatzen, plappern’ gehen (z. B. fr. patati patata). Hierhin dürfte auch patarat ‘fandonie’ gehören, das FEW 8: 46 für Como zitiert, womit immerhin eine Parallele (allerdings ohne das in unserer Wortgruppe charakteristische -fl-) aus dem benachbarten Lombardischen vorliegt. Schwieriger ist der Fall von surs. scaffergnar, scafferlar. Klar ist zunächst, dass beide Suffixe pejorativen Charakter haben, ferner, dass sie oft austauschbar sind. Beiden sind wir bei den Verben für ¢ schwatzen schon begegnet, -ergnar in tschintschergnar, -erlar in paterlar, tschintscherlar, tschatscherlar. Problematisch ist der Stamm. 51 Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen Zwei Erklärungsversuche liegen vor. Decurtins 2001 s. scaffergnar erklärt das Verb, dessen erste Bedeutung ‘ausforschen, ausschnüffeln’ ist, die zweite ‘ausplaudern, ausschwatzen, ausposaunen’, als Intensivbildung zu caffergnar ‘herumschnüffeln’. Dieses wiederum wird im Artikel scaffergnar an lat. cavare, surs. cavergnar ‘stochern’ angeknüpft, «mit späterer Einwirkung von scaffa ‘Schrank’». Im Artikel caffergnar wird allerdings eine andere Erklärung vorgeschlagen: «viell. zu schwdt. gaffe n ‘herumspähen’. Unter scafferlar findet sich der Verweis «vgl. oben → scaffergnar, hier mit Suffixwechsel -erlar nach → paterlar». Die Erklärung des HR geht andere Wege. Unter scafferlar liest man: «Abl. von → scaffa (mit der Nebenbed. ‘Anschlagkasten für Bekanntmachungen’ . . .) . . . entstand wohl über ‘das Herumerzählen dessen, was im Anschlagkasten an Neuigkeiten zu finden ist’». Bei scaffergnar findet sich die gleiche Erklärung, mit dem Zusatz: «die Bed. ‘ausforschen’ leitet sich über ‘den Schrank durchsuchen’ her.» Beide Erklärungsversuche sind unbefriedigend. Der erste, weil darin zwei verschiedene Vorschläge zur Herleitung von caffergnar undiskutiert nebeneinanderstehen. Der zweite, weil er scaffergnar, -erlar aufgrund der (nicht auf Anhieb einleuchtenden) scaffa-Hypothese herauslöst aus dem Verband der formal und semantisch verwandeten Verben caffergnar, cavergnar, fuffergnar. Geht man von der (einleuchtenden) Annahme von Decurtins aus, scaffergnar sei eine Intensivvariante von caffergnar, erübrigt es sich, scaffa zur Erklärung beizuziehen. Es könnte höchstens ein sekundärer Motivationsversuch vorliegen. Für Decurtins ist also caffergnar die Basis, scaffergnar sekundär. Umgekeht für das HR, wo der Ausgangspunkt für beides scaffa ist. Unter caffergnar findet sich ein Verweis auf scaffergnar. Was bedeutet das für caffergnar? Die Autoren müssen wohl von einer (nach ihrer Hypothese) unetymologischen Interpretation des / / als Intensivpräfix ausgehen, das dann in Analogie zu andern Fällen, wo eine Auswahl mit und ohne Präfix vorliegt (z. B. allg. surs. cavergnar vs. Trun scavergnar), fallengelassen worden wäre. Gesagt wird das jedoch nicht. Verfolgt man die von Decurtins gelegte Spur (Anknüpfung von caffergnar an cavergnar) weiter, stellt sich die Frage nach der Erklärung des / f/ . Es liegt nahe, das Problem mit demjenigen in Verbindung zu bringen, das vall. chafuol ‘tief’ aufwirft. In beiden Fällen stehen Formen mit / v/ , die sich problemlos auf lat. cavare zurückführen lassen, solchen mit / f/ gegenüber. DRG 3: 151 s. chafuol (der Autor des Artikels ist A. Decurtins) zieht die Einwirkung eines «noch dunklen» Stammes in Betracht, der in einer Reihe von Geländebezeichnungen für ‘Schlucht, Höhle, Loch’ auftritt: surs. cafugna, cafuglia, cafotta, surm. cafunga. HR dagegen möchte die Lautung / f/ durch den Einfluss von a fuond erklären. Die einzig mögliche Parallele zu cafugna, cafuglia etc., die ich zu finden vermag, ist ital. cafagnare, ein Terminus technicus der Landwirtschaft, 1686 bei Baldinucci belegt, mit der Bedeutung ‘preparare il terreno per piantarvi alberi, facendovi buche o formelle’. DEI verweist auf calabr. cafagnare ‘premere, schiacciare’. 52 Ricarda Liver Eine weitere Möglichkeit, / f/ in caffergar zu erklären, könnte die Einwirkung des semantisch naheliegenden fuffergnar ‘durchwühlen, schnüffeln’ sein. DEI 6: 663 führt den auch im Oberitalienischen, Dolomotenladinischen und Friulanischen bezeugten Verbalstamm (dort mit dem Suffix -ignar) auf eine onomatopoetische Basis fufzurück, die das Blasen imitiert 14 . All das passt recht gut zu scaffergnar ‘durchwühlen’, weniger jedoch zu scaffergnar ‘ausplaudern’. Dazu ist zu sagen, dass diese zweite Bedeutung sehr viel seltener ist als die erste, gegenüber scafferlar auch im Gebrauch deutlich sekundär. Die Belege sind zudem durchweg spät. Ein native speaker aus Surrein erklärt, dass in seiner Sprache caffergnar ‘schnüffeln’ deutlich von scafferlar ‘ausplaudern’ geschieden ist; scaffergnar gehört nicht ins Repertoire. Die bisherigen Feststellungen führen zu einem Vorschlag, der vielleicht das Gewirr der besprochenen Probleme entflechten könnte. Scaffergnar ‘ausplaudern’ muss - was die Herkunft betrifft - von scaffergnar ‘durchwühlen’ getrennt werden. Letzteres gehört, wie dargelegt, in den Zusammenhang von cavergnar, caffergnar; scaffergnar ‘ausplaudern’ dagegen wird als eine (durch Suffixwechsel -ergnar für -erlar entstandene) Variante von scafferlar aufgefasst. Somit wäre es nicht als eine polysemische Variante von scaffergnar ‘durchwühlen’, sondern als ein auf eigenem Wege entstandenes Homonym dazu zu deuten. So erübrigt sich auch die semantisch schwierige Erklärung einer Entwicklung von ‘durchwühlen’ zu ‘ausplaudern’. Nach dem Vorschlag von HR wäre scafferlar von scaffa ‘Schrank’ abgeleitet, mit dem Suffix -erlar, das verschiedenen Verben für ‘schwatzen’ bildet, vor allem das geläufigste, paterlar. Die semantische Rechtfertigung dieser These, «das Herumerzählen dessen, was im Anschlagkasten an Neuigkeiten zu finden ist», wurde schon erwähnt (cf. oben). Es muss in diesem Zusammenhang auch an die scherzhaften metonymischen Verwendungen von scaffa erinnert werden 15 . Richtig überzeugend wirkt dieser Erklärungsversuch jedoch nicht. Im Blick auf die Gesamtheit der Verben für ‘schwatzen’ drängt es sich auf, auch hier eher an eine onomatopoetische Basis zu denken. In Frage käme sklaff-, das DEI als Ausgangsform für ital. schiaffo postuliert 16 . Von einem hypothetischen *sclafferlar könnte durch Dissimilation scafferlar entstanden sein. Wie auch immer die Geschichte von scafferlar im Einzelnen rekonstruiert wird: wichtig scheint mir die Trennung von scafferlar von scaffergnar ‘durchwühlen’. 14 Dieselbe Basis ist auch für surs. feffa, eng. füffa ‘Mehlstaub’ (DRG 6: 661s. s. füffa I) und eng. füffa ‘Angst, Furcht’ (= ital. fifa. DRG 6: 662s. s. füffa II) verantwortlich. 15 Surs. scaffa da mustgas, suts. stgafa da mustgas ‘Schwätzer(in)’, surs. scaffa da paternos ‘Frömmler(in)’. 16 Cf. ahd. klaffon, nhd. klaffen ‘bösartig schwatzen’, südd. Klapf ‘Ohrfeige’. Cf. FEW 2: 732 klapp-. 53 Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen 3.3.2 Undeutliches Sprechen Die Ausdrücke für undeutliches Sprechen (murmeln, brummeln etc.; cf. oben 2.3) gehen alle auf onomatopoetische Basen zurück, die auch anderswo in der Romania, vor allem aber im oberitalienischen Raum, vertreten sind. Wir gehen sie kurz durch. 1. *murmur- Die Basis von lat. murmurare lebt in der ganzen Romania weiter. In Romanischbünden ist das Suffix -oneare: surs. murmignar, suts. marmugnear, surm. murmagner, put. marmugner, vall. marmuognar. 2. *burb- Wie ital. borbottare stellen put. barbotter, vall. barbottar Ableitungen dieser Basis mit dem Intensivsuffix -atar -uttare dar. Surs. sburbatar, suts. sbarbatar weisen zusätzlich das Intensivpräfix / / , hier in der stimmhaften Variante / / , auf. In suts. (s)burblatar, surm. burblattar erklärt sich -llaut DRG 2: 165 als Resultat einer Metathese von älterem barbotlar, das in der Emilia in verschiedenen Varianten bezeugt ist. Surs. sburbigliar, suts. sburbaglear haben das Suffix -igliar wie ital. borbogliare. 3. *bront- Nur engadinisch sind put. bruncler, vall. brunclar, put. bruntuler, vall. bruntular. Während die letzteren Formen sich deutlich als junge Entlehnungen von ital. brontolare zu erkennen geben, weist die Lautung / kl/ in bruncler, brunclar auf eine ältere Übernahme. Cf. DRG 2: 536. 4. *ñan-, ñañ, ñoñ-, ñorñ- Surs. gnugnar, suts. gnurgnear, surm. gnugnier ‘brummeln, knurren, undeutlich reden’ fügen sich in einen im Galloromanischen sowie im Italoromanischen verbreiteten Typus onomatopoetischer Herkunft ein. Cf. DRG 7: 589. 5. *grunjare So lautet nach REW 3893 die Basis von ital. grugnare und verwandten Formen im Oberitalienischen, zu denen venez. ruñar, friul. ruñá und die bündnerromanischen Formen surm. rugnier, put. rugner, vall. rögnar gehören. 6. *tunt- Zu surs. tuntignar ‘brummen, murren, maulen’, das eine onomatopoetische Basis *tuntmit dem Suffix -oniare verbindet, gibt es zahlreiche oberital. Parallelen. Cf. REW 8988. In diesen Zusammenhang gehören auch surs. tugnar, suts. tugnear, von 54 Ricarda Liver HR und Decurtins 2001 als Kurzform zu tuntignar, eventuell unter dem Einfluss von gnugnar, gewertet. 3.3.3 Leise sprechen, flüstern Bei einigen der oben aufgelisteten Verben für ‘flüstern, leise sprechen’ stellt sich ein Problem, das für HR und Decurtins 2001 keines zu sein scheint: Sind die Formen mit dem Stamm scult-, scutwirklich alle auf lat. auscultare zurückzuführen, und wenn ja, wie erklärt sich eine Bedeutungsentwicklung von ‘horchen’ zu ‘flüstern’? Decurtins 2002 verzeichnet unter scultar 1. ‘flüstern, lispeln’, 2. ‘horchen’. Beides wird auf lat. auscultare zurückgeführt. Scultergiar ‘eifrig flüstern’ wird als Ableitung dazu mit dem Intensivsuffix -ergiar bezeichnet. Unter scutar wird auf scultar verwiesen. Scutinar ‘flüstern, tuscheln, raunen’ wird als Ableitung von scutar, Nebenform von scultar, mit dem Intensivsuffix -inar erklärt. HR gibt für scultar nur die Bedeutung ‘flüstern, tuscheln, raunen’, nicht aber ‘horchen’. Scutinar wird dort als Ableitung von scultar bezeichnet. Dass scultar ‘horchen’ auf a(u)scltare zurückgeht, ist einleuchtend. Die Etymologie wird von den Verhältnissen im Domolmitenladinischen gestützt, wo derselbe Worttypus vielfach präsent ist: grödn. scuté su (Forni), fassan. scutèr (Dellantonio Tajina), gadertal. ascutè (sö) (Mischì), enneberg. ascuté, scuté (Videsott/ Plangg). Ausser ‘horchen’ bedeutet scuté in Gröden und Enneberg zusätzlich ‘schweigen’ (cf., ausser den zitierten Wörterbüchern, AIS VIII: 1644 taci! zitto! , P. 305 und 312). Es liegt ausserhalb der Aufgaben dieses Artikels, diese nur für Teile des Dolomitenladinischen bezeugte Bedeutung von scuté historisch zu klären. Nur soviel: Eine Bedeutungsentwicklung von ‘horchen’ zu ‘schweigen’ könnte allenfalls glaubhaft gemacht werden. Es ist jedoch auch nicht ausgeschlossen, dass hier Onomatopoetisches mitspielt (cf. fr. chut). Im Falle der bündnerromanischen Verben für ‘flüstern’ gibt es verschiedene Faktoren, die dafür sprechen, diese Formen von surs. scultar ‘horchen’ und damit von der etymologischen Basis a(u)scultare zu trennen. Da ist zunächst die Schwierigkeit, eine Bedeutungsentwicklung von ‘horchen’ zu ‘flüstern’ glaubhaft zu machen. Zweitens macht das völlige Fehlen von Zeugnissen für ‘flüstern’ im Dolomitenladinischen, die der Basis a(u)scultare zugeordnet werden könnten, skeptisch. Drittens (und das ist wohl das gewichtigste Argument) sind die Verben für Flüstern in den romanischen Sprachen (und nicht nur dort) durchweg von onomatopoetischen Basen abgeleitet. Warum sollte nicht auch kutauf eine lautmalerische Sequenz zurückgehen? Freilich ist es mir nicht gelungen, genau diese Basis anderswo festzumachen. Es sei aber an folgende Formulierung aus FEW 13: 381s. s. t ut (hierhin gehören chuchoter, chut) erinnert: «Die konsonantengruppe t , resp. der konsonant , eignen sich vortrefflich, um das tonlose geräusch des flüsterns zu malen». Surs./ suts. scusatar, suts. scusinar lässt sich mit Decurtins 2002 an discus ‘heimlich’ von ad-absconsus anschliessen. Der im ganzen Gebiet präsente Typus bis- 55 Das Wortfeld der verbalen Kommunikation im Bündnerromanischen bigliar (so surs./ vall.; suts. bisbigliear, surm./ put. bisbiglier) ist aus ital. bisbigliare, seinerseits eine Onomatopöie, übernommen (DRG 2: 355). Bleibt schliesslich surm. tschular, das von Sonder/ Grisch für ‘flüstern’ an dritter Stelle nach bisbiglier und scutinar angegeben wird. Die Ableitung tschulem ‘Gepfeife, Geflüster’ legt nahe, tschular mit tschivlar ‘pfeifen’ sibilare in Verbindung zu bringen. Die Lautung tschuerinnert an schular, das surselvische Resultat von sibilare 17 . 4. Schluss Überblickt man das hier dargestellte lexikalische Material zum Sinnbereich des Sprechens im Bündnerromanischen, ergeben sich einige Schlussfolgerungen. Im Bereich des wertneutralen Sprechens und der Ausdrücke für Wort und Sprache bewegt sich das Bündnerromanische, abgesehen vom Fall des allerdings zentralen Verbs tschintschar/ tschantschar, ganz im Rahmen des lateinischen Erbes. Es ist freilich, wie auch in anderen Sektoren des bündnerromanischen Wortschatzes, eine spezielle Latinität, die hier ihren Niederschlag findet. Besonderes Gewicht kommt der Rechtssprache zu, der plidar, plaid, raschunar, ruschanar und eventuell risdar zuzuschreiben sind. parabola ‘Wort’ und parabolare ‘sprechen’, eine Neuerung der inneren Romania, hat Rätien nicht erreicht. Hier lebt parabola in surs./ surm. praula, put. parevla, vall. parabla, tarabla in der Bedeutung ‘Märchen’ fort 18 . Im Bereich der Ausdrücke für ‘schwatzen’, aber auch für ‘undeutlich sprechen’ und ‘flüstern’ ist der Anteil der Onomatopöien übermächtig. In Verbindung mit Suffixen, die oft intensive und pejorative Bedeutung haben, entsteht eine reiche Palette von stark expressiven Verben. Das ist bestimmt nicht ein Zug, der dem Bündnerromanischen allein eigen ist. Das Wuchern solcher Bildungen kann aber wohl als Kennzeichen einer wenig genormten, stark von der Mündlichkeit bestimmten Sprache gewertet werden. Es könnte lohnend sein, in diesem Punkt einen Vergleich zwischen dem Bündnerromanischen und schweizerdeutschen Dialekten anzustellen. In zahlreichen Fällen konnten wir eine Übereinstimmung des Bündnerromanischen mit alpinlombardischen Nachbardialekten oder dem Dolomitenladinischen feststellen. Die Parallelen sind jedoch, wie auch in anderen Sektoren des Lexikons zu beobachten, nur partiell. Die unterschiedlichen historischen Bedingungen der einzelnen Dialekträume haben in vielen Fällen verschiedene lokale Entwicklungen und verschiedene Resultate bewirkt. Lützelflüh Ricarda Liver 17 So die Wörterbücher. Aber vielleicht ist hier eher vom Typus *subilare auszugehen, den FEW 11: 565s. in weiten Gebieten nachweist. 18 HR s. praula erklärt den Anlaut von vall. tarabla durch Einfluss von tavellar. 56 Ricarda Liver Bibliographie AIS = Jaberg, K./ Jud, J. 1928-40: Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, 8 vol., Zofingen Biert, C. 1962: La müdada, Thusis Bifrun, NT cf. Gartner 1913 Blaise, A. 1954: Dictionnaire latin-français, Turnhout Chatton, R. 1953: Zur Geschichte der romanischen Verben für ‘sprechen’ ‘sagen’ und ‘reden’, Bern (RH 44) Chiampel cf. Ulrich 1906 Decurtins, C. 1900: Rätoromanische Chrestomathie. Vol. 5: Oberengadinisch, Unterengadinisch. Das XVI. Jahrhundert, Erlangen Decurtins, A. 2001: Niev vocabulari romontsch sursilvan - tudestg, Chur DEI = Battisti, C./ Alessio, G. 1968: Dizionario etimologico italiano, 5 vol., Firenze Dellantonio Tajina, A./ Vögeli, M. 1998: Dizionér talian - fascian - talian, Trent Deplazes, G. 2003: Sco igl effel va ell’onza, Cuera DRG = Dicziunari rumantsch grischun, Cuoira 1938s. Ebneter, Th. 1981: Wörterbuch des Romanischen von Obervaz Lenzerheide Valbella/ Vocabulari dil Rumantsch da Vaz, Tübingen Eichenhofer, W. 2002: Pledari sutsilvan - tudestg/ Wörterbuch deutsch - sutsilvan, Chur FEW = Wartburg, W. v. 1922-2002: Französisches etymologisches Wörterbuch, Bonn Forni, M. 2002: Wörterbuch deutsch - Grödner-Ladinisch/ Vocabuler tudësch - ladin de Gherdeina, St. Martin in Thurn (Gabriel, L.) 1820: Ilg Nief Testament da niess Senger Jesu Christ, Cuera Gartner, Th. (ed.) 1913: Das Neue Testament. Erste rätoromanische Übersetzung von Jakob Bifrun (1560). Neudruck, mit einem Vorwort, einer Formenlehre und einem Wörterverzeichnis, Dresden (Gesellschaft für romanische Literatur 32) Gross, M. 2002: «La schuorsch sa zoppa do ün salzer. Reflexiuns davart il dialect da la Val Müstair al cunfin tranter il Vnuost, la Vuclina e l’Engiadina», AnSR 115: 7-50 HR = Bernardi, R. et al. 1994: Handwörterbuch des Rätoromanischen, 3 vol., Zürich Kluge, F. 1989: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage, Berlin/ New York Liver, R. 1991: Manuel pratique de romanche sursilvan - vallader. Deuxième édition revue et corrigée, Cuira (RR 4) LQ = La Quotidiana (rätoromanische Tageszeitung) Mani, C. 1977: Pledari sutsilvan rumàntsch - tudestg/ tudestg - rumàntsch, Tusàn Mengaldo, P. V. (ed.) 1979: De vulgari eloquentia, in: Dante Alighieri, Opere minori, vol. II, Milano/ Napoli, 3-237 Mischì, G. 2000: Wörterbuch deutsch - gadertalisch/ Vocabolar todësch - ladin (Val Badia), San Martin de Tor Niermeyer, J. F. 1976: Mediae latinitatis lexicon minus, Leiden Pallioppi, Z. ed E. 1895: Dizionari dels idioms romauntschs d’Engiadin’ota e bassa, della Val Müstair, da Bravuogn e Filisur, Samedan Peer, O. 1962: Dicziunari rumantsch ladin - tudais-ch, Samedan Pirona, G. A. et al. 1972: Il nuovo Pirona. Vocabolario friulano, Udine Pult, G. (1897): Le parler de Sent (Basse-Engadine), Lausanne Röhrich, L. 1974: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 2 vol., Freiburg/ Basel/ Wien Sonder, A./ Grisch, M. 1970: Vocabulari da Surmeir rumantsch - tudestg/ tudestg - rumantsch, Coira Ulrich, J. (ed.) 1906: Der engadinische Psalter des Chiampel, Dresden (Gesellschaft für romanische Literatur 9) Vellemann, A. 1929: Dicziunari scurznieu da la lingua ladina pustüt d’Engiadin’Ota, Samaden Videsott, P./ Plangg, G. 1998: Ennebergisches Wörterbuch/ Vocabolar mareo, Innsbruck Vonmoos, J. 1942: Terratsch ladin. Lehrbuch der ladinischen Sprache, Thusis VSI = Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana, Lugano 1952s.