eJournals Vox Romanica 63/1

Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2004
631 Kristol De Stefani

Philologie als Lebensform

121
2004
Ursula  Bähler
vox6310153
Philologie als Lebensform 1 Parmi les savants, plusieurs philologues, on le sait, ont pris position dans l’affaire Dreyfus. À partir de l’exemple de Gaston Paris, le présent article se propose d’analyser les raisons et motivations qui ont présidé à l’«immixtion» de ces chercheurs dans «ce qui ne les regardait pas», pour reprendre cette définition des intellectuels mise en circulation par Ferdinand Brunetière dès 1898 et devenue célèbre suite à une conférence donnée par Jean-Paul Sartre au Japon quelques soixante-dix ans plus tard. Il apparaîtra alors que c’est essentiellement en raison de leur ethos professionnel, développé au cours du processus de scientifisation de leur discipline à partir des années 1860, que les philologues (romanistes) se sont prononcés sur l’Affaire. Certes en premier lieu déclenché par le fait que la pièce maîtresse du procès Dreyfus était le fameux «bordereau» dont il s’agissait d’examiner l’écriture, activité communément assignée au domaine de compétence propre aux chercheurs en philologie, l’engagement de ces derniers dans une affaire publique fut profondément motivé par les valeurs morales qu’ils considéraient comme étant inhérentes à leur credo scientifique. Pour eux, la philologie, loin d’être une discipline scientifique dont l’impact se limite aux objets de recherche étudiés, non seulement impliquait un mode de pensée dont l’un des traits marquants était l’aspiration à l’universel et au dépassement de catégories invétérées, mais encore accédait au statut d’une véritable forme de vie. C’est aussi par cet aspect que les pères fondateurs de la philologie romane méritent encore notre attention et notre respect et nous proposent même, aussi inattendu que cela puisse paraître à ceux qui aimeraient les voir figurer dans Jurassic Park, un modèle du rôle des savants dans la cité digne, pour le moins, d’être (re)médité. * Gegen die Wissenschaft der Philologie wäre nichts zu sagen: aber die Philologen sind auch die Erzieher. Da liegt das Problem, wodurch auch diese Wissenschaft unter ein höheres Gericht kommt. Ich träume eine Genossenschaft von Menschen, welche unbedingt sind, keine Schonung kennen und «Vernichter» heissen wollen: sie halten an alles den Massstab ihrer Kritik und opfern sich der Wahrheit. Das Schlimme und Falsche soll an’s Licht! Friedrich Nietzsche, Notizen zu «Wir Philologen» 1. Der weltfremde Philolog Nein, Philologen haben es nicht einfach. Ihre Arbeit ist mühsam, ihr Ruf miserabel. In seinem Bestseller Die Anatomie der Melancholie von 1621 reiht der englische Gelehrte Robert Burton sie ohne Zögern in die Klasse der Verrückten ein, denn [sie] verraten und besudeln . . . viele Bücher guter Autoren mit ihren absurden Kommentaren, diesen Latrinen der Besserwisserei, wie Scaliger formuliert. Solche vertrottelten Anmer- 1 Dieser Beitrag entspricht einer leicht überarbeiteten Fassung meiner Antrittsvorlesung als Privatdozentin für das Gebiet «Französische Literaturwissenschaft und Geschichte der Romanischen Philologie» an der Universität Zürich vom 24. November 2003. kungshuber, die sich ihren Geist darin beweisen, andere zu bekritteln, durchwühlen mit Bienenfleiss die alten Abfallhaufen und ziehen ein Manuskript allen Schätzen der Erde, ja sogar dem Evangelium selbst vor. Mit ihren Streichungen, Lesarten, textkritischen Apparaten und Ausgaben letzter Hand, mit Emendationen und Annotationen machen sie die Bücher teuer, sich selbst lächerlich und erweisen niemandem einen Dienst. (Burton 1991: 122) Diese vernichtenden Worte beruhen nun gewiss weniger auf konkreten Beobachtungen, die Robert Burton zu seiner eigenen Zeit gemacht hätte, als vielmehr auf stereotypen Vorstellungen über das Wesen von Philologen, die sich schon seit der Antike einer grossen Beliebtheit erfreuten. Diese Vorstellungen haben sich bis heute zäh gehalten und sind auch in vielen modernen literarischen Texten strukturbildend. Zu erwähnen wäre hier etwa Die Blendung von Elias Canetti, ein Roman, der das tragikomische Schicksal des Sinologen Peter Kien erzählt: von seiner durchtriebenen Haushälterin aus seinem bis anhin peinlichst genau strukturierten Tagesablauf herausgerissen, verliert dieser vollends den ohnehin schon wackligen Boden unter den Füssen und vernichtet sich schliesslich, mitsamt seinen 25000 heiss geliebten Büchern, in einem gigantischen Autodafé! Der begriffliche Kern, um den sich die verschiedenen stereotypen Vorstellungen über das als höchst problematisch wahrgenommene Philologendasein anordnen, ist derjenige der Lebensuntüchtigkeit und der Weltfremdheit, der gegenüber der Realität verschobenen, und eben in diesem Sinn «ver-rückten» Weltsicht. Die Tätigkeiten, mit denen die Philologen ihre Zeit verbringen, haben, so die gängige Meinung, mit dem wahren Leben nichts zu tun. Im Gegenteil, sie schaffen eine eigene Welt, die mit der wirklichen nicht nur in keiner nützlichen Beziehung, sondern geradezu in einem gefährlichen Konflikt steht. Nun könnte und müsste man sich in diesem Zusammenhang gewiss sehr gründlich mit den Fragen auseinandersetzen, wo denn die Grenze zwischen stereotypen Vorstellungen und der sogenannten Wirklichkeit verläuft und inwiefern es diese sogenannte Wirklichkeit auch wirklich gibt. Es sind aber nicht diese Probleme, die mich hier beschäftigen werden. Vielmehr möchte ich nun die Seite wechseln, von der Aussenzur Innenansicht kommen und ein philologisches Programm präsentieren, in dessen Zentrum explizit die Weltzugewandtheit stand. 2. Der weltzugewandte Philolog 2.1 Die Dreyfus-Affäre (I) Am 22. Dezember 1894 wurde der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus von einem französischen Kriegsgericht zu Degradierung und lebenslänglicher Verbannung verurteilt. Der Grund: er habe militärische Geheimnisse an Deutschland verraten. Der Beweis: ein Stückchen Papier, das die im Dienste der französischen Spionage stehende Putzfrau in einem Papierkorb der deutschen Botschaft in Paris gefunden hatte. Dieses Stückchen Papier, das sogenannte «bordereau», stand 154 Ursula Bähler von nun an im Zentrum der verschiedenen Prozesse und Debatten, die erst 1906, also zwölf Jahre später, mit der Rehabilitierung von Dreyfus ein definitives Ende finden sollten. Die Kernfrage in der ganzen Sache lautete also: wessen Handschrift trägt das «bordereau»? - Nun gab es natürlich schon zu dieser Zeit Graphologen, von denen denn auch etliche im Verlauf der Jahre zur Beantwortung dieser Frage hinzugezogen wurden 2 . Es gab aber auch sogenannte Chartisten, d. h.Absolventen der 1821 gegründeten École nationale des Chartes. Die Fähigkeiten der an dieser Schule ausgebildeten Archivare und Philologen erstreckten sich selbstverständlich auch auf das Entziffern und Identifizieren von Handschriften, wenn auch in erster Linie alter Handschriften. Was also lag näher, als auch Chartisten in der fraglichen Angelegenheit zu konsultieren? Dies geschah denn auch, und zwar zum ersten Mal in grossem Umfang im Februar 1898, im Prozess, der dem Schriftsteller Emile Zola aufgrund seines berühmten Pamphlets «J’accuse» gemacht wurde. In diesem brillanten und bewusst provokativ abgefassten Text hatte Zola nacheinander verschiedene an der Dreyfus-Affäre Beteiligte angeklagt, ihrer Pflicht nicht nachgekommen zu sein, angefangen vom Kriegsminister, bis hin zu zwei Graphologen und einem Chartisten, die in einem vorgängigen Verfahren zur Schrift des «bordereau» befragt worden waren. Im Zola-Prozess nun, an dessen Ende die Verurteilung des Schriftstellers zu einem Jahr Gefängnis und 3000 Francs Busse stand, wurden von der Verteidigung fünf weitere Chartisten eingeladen, ein Urteil über die Schrift des «bordereau» abzugeben 3 . Die fünf Zitierten, darunter Paul Meyer, seines Zeichens Direktor der École nationale des Chartes, waren einstimmig der Meinung, dass es sich bei der Handschrift des Beweisstückes nicht um diejenige von Dreyfus, sondern um diejenige des Majors Walsin-Esterhazy handelte. Diese Einschätzung entsprach der Wahrheit, die man von offizieller Seite mit allen Mitteln zu vertuschen suchte und löste eine breite öffentliche Diskussion darüber aus, wer an welcher Stelle aufgrund welcher beruflicher Kompetenzen zu welchen Aussagen befugt sei. In dieser Diskussion meldeten sich wiederum auch Philologen zu Wort, darunter natürlich die im Zola-Prozess zitierten. Nun steckt hinter diesem Auftreten der Chartisten im Zola-Prozess und ihrer Teilnahme an den daran anschliessenden Diskussionen mehr, als man zunächst vermuten würde. Im Bezug auf die Berufsgruppe der Philologen stellt die Dreyfus-Affäre in der Tat eine Art Test- oder Ernstfall dar, an dem diese ihr Selbstverständnis als Wissenschaftler öffentlich erproben konnten, ja erproben mussten. Um es etwas überspitzt zu formulieren: Die Philologen - oder zumindest eine gewisse Gruppe von Philologen, die es noch genauer zu definieren gilt - mussten sich in die Affäre einmischen, und dies nicht nur, weil das corpus delicti zufälligerweise ein Schriftstück war und also in gewisser Weise in ihren natürlichen Kompetenzbereich fiel, obwohl diese Tatsache den ganzen Interventionsprozess natürlich 155 Philologie als Lebensform 2 Cf. Pagès 1991: 187-91. 3 Cf. dazu die ausgezeichnete Arbeit von Joly 1989. unterstützte. - Diese, auf den ersten Blick sicher recht kühn erscheinende These möchte ich im Folgenden entwickeln. * * * Als eigentliche Voraussetzung des Engagements der Philologen in der Dreyfus- Affäre kann der Verwissenschaftlichungsprozess der Romanischen Philologie gelten. 2.2 Der Verwissenschaftlichungsprozess der Romanischen Philologie Wie alle anderen Philologien, so hat auch die Romanische Philologie im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine grundlegende Entwicklung durchlaufen und ist vom «vorwissenschaftlichen» ins «wissenschaftliche» Paradigma eingetreten, ein Paradigma, in dem wir uns heute, trotz aller Anführungs- und Schlusszeichen, trotz aller Relativierungen und Dekonstruierungen, zu einem sehr grossen Teil immer noch befinden. Dieser Verwissenschaftlichungsprozess verlief im Wesentlichen über die Entwicklung und die systematische Anwendung der historisch-komparativen Methode . Linguistische und literarische Daten wurden nicht länger als weitgehend ausserhalb der Zeit stehende Einzelfakten begriffen, sondern als in der Zeit und in parallelen Serien stehende Phänomene, die es systematisch miteinander zu vergleichen und in zeitliche und kausale Zusammenhänge zu bringen gilt. Im Bereich der sprachgeschichtlichen Forschungen entstanden, kam die historisch-komparative Methode sehr rasch auch in den verschiedenen textphilologischen und literaturwissenschaftlichen Gebieten zur Anwendung, beim Versuch der Herstellung des sogenannten «Urtextes» aufgrund verschiedener erhaltener Manuskripte ebenso wie etwa bei der Erforschung der Entstehung der europäischen Heldenepen. Die historisch-komparative Methode war in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts v.a. von deutschen Gelehrten entwickelt worden, zunächst im Bereich der indo-europäischen Studien - ich erwähne hier nur die Arbeiten von Franz Bopp -, danach in verschiedenen Einzelgebieten: in demjenigen der germanischen Sprachen und Literaturen etwa durch Jacob Grimm, in demjenigen der romanischen allen voran durch den Bonner Philologen Friedrich Diez, dessen Grammatik der Romanischen Sprachen (1836-44) praktisch das ganze Jahrhundert über von den Romanistischen Philologen aller Länder als wissenschaftliche Bibel betrachtet und verehrt wurde. In Frankreich wurde die neue Methode mit einer Verspätung von fast drei Jahrzehnten eingeführt, also im Verlauf der 60er Jahre, und zwar, was das Studium der romanischen Texte angeht, durch damals noch sehr junge Wissenschaftler, wie den schon erwähnten Paul Meyer, geboren 1840, und dessen um ein Jahr älteren Freund Gaston Paris. Diese Einführung, im übrigen ein Paradebeispiel eines natio- 156 Ursula Bähler nalen Kulturtransfers 4 , geschah trotz einiger ideologisch begründeter Widerstände, insbesondere von Vertretern der klassizistisch-traditionalistisch ausgerichteten «Belles-Lettres», relativ zügig und massiv, mittels voluminöser Einzelpublikationen, der Gründung spezialisierter Zeitschriften sowie der Einrichtung entsprechender Lehrstühle. Was die Einzelpublikationen betrifft, sei hier stellvertretend die Dissertation von Gaston Paris genannt, die 1865 unter dem Titel Histoire poétique de Charlemagne bei Emile Bouillon veröffentlicht wurde und für die französische Epenforschung bahnbrechend war. Bei den Zeitschriften gilt es in erster Linie die 1866 gegründete Revue critique d’histoire et de littérature zu erwähnen, ein reines Rezensionsorgan, sowie die auch heute noch hoch angesehene Romania, deren erste Nummer 1872, kurz nach Ende des deutsch-französischen Kriegs erschien. Lehrstühle für französische Sprache und/ oder Literatur des Mittelalters wurden vermehrt ab den 70er Jahren eingerichtet, z. B. in Lyon 1876, an der Sorbonne 1877, in Montpellier 1878, in Bordeaux, Toulouse und Nîmes 1879 und in Alger 1880 5 . Ganz zentral bei diesem Verwissenschaftlichungsprozess war die Idee, dass die Romanische Philologie durch ihn in den Rang einer vollberechtigten Wissenschaft tritt, die sich gleichberechtigt neben alle anderen, insbesondere aber neben die sogenannt «exakten» Wissenschaften stellt. Jeder Paradigmenwechsel erfordert einen gewaltigen Aufwand an Rechtfertigung und Argumentation, da es darum geht, als überholt bewertetete Forschungsansätze zu eliminieren und also auch darum, die Vorzüge der neuen Sichtweise hervorzuheben, ja diese nur schon einmal bekannt zu machen. Im Fall der Romanischen Philologie nun ist es besonders interessant, zu sehen, wie die neue Generation von Philologen - ich nenne sie «nouveaux philologues» - den skizzierten Paradigmenwechsel von Anfang an nicht nur als eine fachinterne und quasi technische Angelegenheit verstand, sondern aufs engste mit ethischen Fragestellungen verknüpfte. Diesen Aspekt möchte ich anhand des Beispiels von Gaston Paris, einem für die Berufsgruppe der «nouveaux philologues» in höchstem Masse repräsentativen Gelehrten, aufzeigen. Ganz kurz einige Angaben zu seiner Person: Gaston Paris wurde 1839 in der Champagne geboren und verstarb 1903 in Cannes, hat aber praktisch sein ganzes Leben in Paris verbracht. Er war der Sohn des Mediävisten Paulin Paris, der den 1852 geschaffenen Lehrstuhl für französische Sprache und Literatur des Mittelalters am Collège de France innehatte. Während der Vater noch weitgehend als zur «vorwissenschaftlichen» Generation gehörend betrachtet werden muss, ist der Sohn, ein Chartist genauso wie Paul Meyer, nun eben einer der wichtigsten Vertreter der neuen, historisch-komparativen Richtung 6 . Er trat 1872 definitiv die Nachfolge seines Vaters am Collège de France an und unterrichtete ausserdem, ab 157 Philologie als Lebensform 4 Cf. dazu beispielsweise Gumbrecht 1984 und Werner 1991. 5 Cf. zu all diesen Punkten ausführlich Ridoux 2001. 6 Zu Gaston Paris cf. ausführlich Bähler 2004. ihrer offiziellen Gründung im Jahre 1869, an der École Pratique des Hautes Études, die als eigentliche Hochburg der wissenschaftlichen Tätigkeit der «nouveaux philologues» gelten kann. Gaston Paris war Mitbegründer der beiden oben erwähnten Zeitschriften und ein ausgesprochen produktiver Wissenschaftler, dessen Publikationsliste nicht weniger als 1200 Einträge umfasst 7 ! 1896 wurde er in die Académie Française gewählt, und zwar als Nachfolger von keinem geringerem als Louis Pasteur. Gaston Paris war aber nicht nur ein hervorragender Forscher und einflussreicher Lehrer, sondern auch ein sehr sozialer Mensch, der über zahlreiche Kontakte im In- und Ausland verfügte. Kurz: Gaston Paris war jemand in der damaligen französischen Gesellschaft. Aussagen und Überlegungen zur ethischen Dimension der Wissenschaft nehmen einen wichtigen Platz im Werk von Gaston Paris ein, und sie sind es auch, die das Engagement des Philologen in der Dreyfus-Affäre motivieren und erklären. 2.3 Ethische Implikationen der Philologie als Wissenschaft Der Ertrag der Wissenschaften, zu denen die Romanische Philologie in den Augen der neuen Fachvertreter nun eben ohne jeden Zweifel gehört, ist für Gaston Paris doppelter Natur. Einerseits siedelt er sich im Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie der sich daraus konkret ergebenden und für die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen notwendigen Resultate an, wobei diese wohlgemerkt nicht nur materieller, sondern auch geistiger Natur sein können. Andererseits aber liegt er in der wissenschaftlichen Grundhaltung selbst, das heisst in dem nicht an ein konkret definiertes Forschungsobjekt gebundenen wissenschaftlichen Geist an und für sich. Und es ist nun ganz klar dieser zweite Aspekt, der in den Augen des Philologen der weit wichtigere ist. In seiner Antrittsrede vor der Académie française von 1897 äussert sich Gaston Paris dazu wie folgt: [Le] grand bienfait moral [de la science] est dans la disposition d’esprit qu’elle prescrit à ses adeptes; il est dans son objet même, la recherche de la vérité. Tout ce qui se dit et se fait contre elle se dit et se fait, qu’on le sache ou non, contre la recherche de la vérité. (Paris 1897: 48) Schauen wir uns die Eigenschaften dieser wissenschaftlichen Grundhaltung etwas genauer an. Die Romanische Philologie, ich habe es gesagt, ist in den Augen ihrer Fachvertreter eine gegenüber den «exakten» Wissenschaften gleichberechtigte Disziplin, mit ihr eigenen Erkenntniszielen und mit einer ihr eigenen Methode, der historisch-komparativen. Die postulierte Gleichberechtigung betrifft also wohlgemerkt nicht, wie man dies oft hört, eine falsch verstandene Identifikation der exakten mit den historischen Methoden und auch nicht eine ebenso falsch verstan- 158 Ursula Bähler 7 Cf. dazu Bédier, J./ Roques, M. 1904: Bibliographie des travaux de Gaston Paris, wieder abgedruckt in Bähler 2004. dene Identifikation der Beschaffenheit der Resultate, welche die verschiedenen Wissenschaftszweige liefern. Vielmehr betrifft sie den Wert und die Wertschätzung, die der wissenschaftliche und vor allem auch der soziale Diskurs den verschiedenen Disziplinen zukommen lassen. Die Romanische Philologie und die Geisteswissenschaften im allgemeinen sollen nicht länger hinter dem Prestige der «exakten» Wissenschaften zurückstehen. Hinter dieser Forderung steht die Vorstellung einer solidarischen Wissenschaftsgemeinschaft, in der alle Disziplinen, wohl mit ihren je eigenen Methoden, aber in ein und demselben Geist, zum Zwecke der Vermehrung des gesicherten Wissens forschen und arbeiten. Dieser Geist, der die einzelnen Wissenschaften und ihre Vertreter verbinden soll, ist das, was wir als wissenschaftliches Ethos bezeichnen. Es ist «jener affektiv getönte Komplex von Werten und Normen, der für den Wissenschaftler bindend betrachtet wird» 8 , wie es der Wissenschaftssoziologe Robert K. Merton 1942 in einem wegweisenden Artikel zu diesem Thema ausdrückte. Diesen «Komplex von Werten und Normen» machen sich die «nouveaux philologues» nun eben zu eigen. Dessen Verbreitung ist eines ihrer Hauptanliegen. Die wichtigsten Prinzipien des wissenschaftlichen Ethos, so wie sie uns in den philologischen Texten dieser Zeit entgegentreten, sind: unvoreingenommene Wahrheitssuche, Uneigennützigkeit der Forschung, eine skeptische Haltung gegenüber jeglicher Form von Autoritätsargumenten sowie eine radikale Entpersonalisierung und Entnationalisierung der Forschung und ihrer Bewertung. Nun kommen diese Prinzipien - und das ist das Entscheidende - einer moralischen Grundhaltung gleich, die in den Augen der «nouveaux philologues» mit grossem Nutzen und Gewinn vom rein wissenschaftlichen in den allgemeingesellschaftlichen Bereich übertragen werden kann. Die entsprechenden Prinzipien in diesem Bereich lauten dann etwa: vorurteilslose Wahrheitssuche und kritisches Hinterfragen aller autoritätsbegründeter Werte und Wertvorstellungen mit dem Ziel der Gerechtigkeit und der Freiheit. Die Aneignung und die Verinnerlichung des wissenschaftlichen Ethos wird so zur Grundlage der Anerkennung von und des Kampfes für die universelle Wertetrias Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit. Dieses ethische Kapital der Wissenschaft ist seit 1866 fixer Bestandteil der Argumentation von Gaston Paris: en nous forçant de nous soumettre aux faits, en proscrivant toute immixtion intempestive de notre personnalité, en faisant de nous les instruments dociles d’une idée toute désintéressée, elle [la science] nous donne des habitudes d’esprit qui, transportées dans d’autres domaines, s’appelleront l’amour de la liberté et de la justice; elle nous apprend à nous détacher de nousmêmes, à nous isoler des préjugés qui nous entourent (Paris 6 1906: 38) Konsequenterweise werden die so definierten ethischen Eigenschaften der Wissenschaft auch als Bildungspotential aufgefasst, das insbesondere der französischen Jugend zukommen zu lassen sei, und zwar dringend. Die bittere Niederlage 159 Philologie als Lebensform 8 Merton 1985: 88. im deutsch-französischen Krieg von 1870/ 71, die in Frankreich die Dekadenzstimmung des Fin de siècle massiv mitprägte, wurde landläufig als Sieg der deutschen Bildung und Wissenschaft interpretiert 9 . Und so sahen denn viele französische Sozialreformer, darunter Ernest Renan, Verfasser der berühmten Schrift La Réforme intellectuelle et morale von 1871, in der Aneignung der wissenschaftlichen Denkweise durch die junge Generation die einzige Möglichkeit, das Land aus seiner pessimistischen Grundstimmung herauszureissen. Auch Gaston Paris setzte ausdrücklich auf den moralischen Erziehungswert der Wissenschaft. Dazu eine weitere, etwas längere Stelle aus seiner Antrittsrede vor der Académie française: Mais [la] science, dans les milieux où elle est honorée et comprise, ne restreint pas aux savants eux-mêmes le bienfait moral qu’elle confère: elle répand dans des cercles de plus en plus étendus l’amour de la vérité et l’habitude de la chercher sans parti pris, de ne la reconnaître qu’à des preuves de bon aloi, et de se soumettre docilement à elle. Or, je ne crois pas qu’il y ait de vertu plus haute et plus féconde à inculquer à un peuple. Et, permettez-moi de le dire avec la franchise que me commandent les principes mêmes que je viens d’exposer, je ne crois pas qu’il y ait de peuple auquel il soit plus utile de l’inculquer que le nôtre. . . . On dit à la jeunesse: «Il faut aimer, il faut vouloir, il faut croire, il faut agir», sans lui dire et sans pouvoir lui dire quel doit être l’objet de son amour, le mobile de sa volonté, le symbole de sa croyance, le but de son action. «Il faut avant tout, lui dirais-je si j’avais l’espoir d’être entendu, aimer la vérité, vouloir la connaître, croire en elle, travailler, si on le peut, à la découvrir. Il faut savoir la regarder en face, et se jurer de ne jamais la fausser, l’atténuer ou l’exagérer, même en vue d’un intérêt qui semblerait plus haut qu’elle car il ne saurait y en avoir de plus haut, et du moment où on la trahit, fût-ce dans le secret de son cœur, on subit une diminution intime qui, si légère qu’elle soit, se fait bientôt sentir dans toute l’activité morale [»]. (Paris 1897: 50-54) Diese Worte wurden von Gaston Paris nur knapp neun Monate vor Beginn der Dreyfus-Affäre ausgesprochen, und man kann nur immer wieder über ihren prophetischen Charakter staunen. Tatsächlich zeichnet sich die Dreyfus-Affäre eben gerade dadurch aus, dass grosse Teile der französischen Führungsschicht, aber auch der französischen Gesamtbevölkerung, die universellen Grundwerte Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit den partikulären Interessen von Politik, Justiz und Militär unterordneten. Kommen wir also zur Dreyfus-Affäre zurück, der grössten innenpolitischen Krise der Dritten Republik, welche die politische und ideologische Landschaft Frankreichs durch das Auftreten einer immer deutlicher werdenden Polarisierung zwischen einem «linken» und einem «rechten» Lager nachhaltig verändert hat. 2.4 Die Dreyfus-Affäre (II) Im Bezug auf die Philologen kann die Dreyfus-Affäre, so meine These, als eine Art Test- und Ernstfall betrachtet werden, der bei aller Tragik der Ereignisse zumindest eines bewiesen hat, nämlich die Aufrichtigkeit der «nouveaux philologues» und die 160 Ursula Bähler 9 Cf. z. B. Digeon 1992: 364s. Praxisrelevanz ihres Diskurses. Alle wichtigen, und ich meine hiermit in erster Linie alle wissenschaftlich erstklassigen «nouveaux philologues», die ich untersucht habe, sind Dreyfusanhänger 10 . Und alle sind sie es unter expliziter Berufung auf ihr Wissenschaftsethos. Dieses gebot ihnen nicht nur, zu erkennen, dass die Schrift des «bordereau» eben diejenige von Esterhazy und nicht diejenige von Dreyfus war - zu dieser Einsicht waren wohl insgeheim auch viele Dreyfusgegner gekommen -, sondern auch für diese Wahrheit öffentlich einzustehen und zu kämpfen. Im Gegensatz zu seinem engen Freund und Mitarbeiter Paul Meyer hat Gaston Paris selbst zwar in den verschiedenen Prozessen keine aktive Rolle gespielt, wohl aber hat auch er sich mit den Ereignissen der Affäre eingehend auseinandergesetzt und seine Meinung wiederholt sowohl privat als auch öffentlich kundgetan. Ein Beispiel.Als am 31. Dezember 1898 die «Ligue de la patrie française» gegründet wurde, die in ihren Rängen ausschliesslich Dreyfusgegner zählte, darunter den damals berühmten Historiker Albert Sorel, einen langjährigen Freund von Gaston Paris, veröffentlichte dieser auf der Stelle einen offenen Brief im Figaro, in dem unter anderem Folgendes zu lesen ist: Nous étions aussi d’accord sur . . . la valeur de l’esprit critique, ou scientifique, et de l’application qu’on en peut faire à toutes choses. Vous pensiez avec moi que le plus grand bienfait de l’esprit scientifique est de développer l’amour de la vérité et l’aptitude à la discerner . . . Ces idées, qui étaient, qui, certainement, sont encore les vôtres, sont aussi celles qui ont dirigé, dans les circonstances présentes, la conduite de ceux qu’on a appelés les «intellectuels». Je regrette de ne pas en trouver trace dans le manifeste [i. e. dans le manifeste de la «Ligue de la patrie française»]. (Paris 1899) Auch hier also wieder der explizite Appell an die wissenschaftliche Denkweise! Die Dreyfus-Affäre hat einen speziellen Typ der öffentlichen Person in die Geschichte eingeführt, nämlich den sogenannten Intellektuellen, der insbesondere in Frankreich bis heute eine wichtige gesellschaftliche Stellung besitzt. Die Liste der hier zu erwähnenden Namen wäre lang, sie reichte von Emile Zola, dem ersten Intellektuellen, über Jean-Paul Sartre und dessen Gegenspieler Raymond Aron, bis hin zu Alain Finkielkraut und Bernard-Henry Lévy. Im vorhergehenden Zitat setzt Gaston Paris den Ausdruck «intellectuels» in Anführungs- und Schlusszeichen, Zeichen dafür, dass der Begriff damals in seiner neuen, soziologischen Bedeutung tatsächlich als ein Neologismus wahrgenommen wurde 11 . Wie dies oft bei der Einführung von Bezeichnungen für neue Gruppierungen der Fall ist, wurde der Ausdruck «Intellektueller» zunächst vor allem als Schmähwort verwendet. «Intellektuelle» nannten gewisse Dreyfusgegner jene Schriftsteller und Wissenschaftler, die sich, insbesondere im Gefolge von Zolas «J’accuse», öffentlich für die Revision des Dreyfus-Prozesses aussprachen. In den Augen ihrer Kritiker kam 161 Philologie als Lebensform 10 Cf. dazu Bähler 1999, bes. p. 165-68. 11 Zur Begriffsgeschichte, cf. z. B. Pagès 1993, mit nützlichen bibliographischen Angaben in N1. dies einer ganz klaren Kompetenzüberschreitung gleich, da sie sich damit in die Belange der Militärjustiz einmischten. Dieses «Sich-Einmischen» - und damit der Begriff des Intellektuellen - wurde alsbald von den so Kritisierten selbst ins Positive gekehrt und für sich in Anspruch genommen. Und rund 40 Jahre nach der Dreyfus-Affäre wird Jean-Paul Sartre die intellektuelle Haltung eben genau in die Formel fassen: «un intellectuel est quelqu’un qui se mêle de ce qui ne le regarde pas» 12 . Einer der vehementesten Intellektuellenkritiker während der Dreyfus-Affäre war Ferdinand Brunetière, Direktor der mondänen Revue des Deux Mondes. Für Brunetière ist die Haltung der Intellektuellen - und inbesondere der intellektuellen Wissenschaftler - nichts anderes als der Ausdruck einer masslosen Selbstüberschätzung. Nur auf ihre eigenen geistigen Fähigkeiten vertrauend repräsentierten sie eine zutiefst individualistische und deshalb letzlich asoziale Haltung. Intellektuelle, so der Kritiker, sind potentielle Anarchisten, deren Galionsfigur der Übermensch Friedrich Nietzsches ist. Sie sind mitverantwortlich für die dekadente Grundstimmung, in der das Land zu versinken droht. In den bissigen Worten Brunetières: Méthode scientifique, aristocratie de l’intelligence, respect de la vérité, tous ces grands mots ne servent qu’à couvrir les prétentions de l’Individualisme, et l’Individualisme, nous ne saurions trop le redire, est la grande maladie du temps présent, non le parlementarisme, ni le socialisme, ni le collectivisme. Chacun de nous n’a confiance qu’en soi . . . Ne dites pas à ce biologiste que les affaires humaines ne se traitent pas par ses «méthodes» scientifiques; il se rirait de vous! N’opposez pas à ce paléographe le jugement de trois Conseils de guerre; il sait ce que c’est que la justice des hommes, et en effet n’est-il pas directeur de l’Ecole nationale des Chartes? (Brunetière 1898: 445) 13 Die beiden Wissenschaftler, über die sich Brunetière hier lustig macht, sind einerseits der Mikrobiologe Emile Duclaux, Nachfolger von Louis Pasteur am gleichnamigen Institut, und andererseits natürlich Paul Meyer. Und so wie Brunetière Duclaux und Meyer in ein und denselben Topf wirft, so haben sich in der Tat die «nouveaux philologues» im Kampf um die Revision des Dreyfus-Prozesses selbstbewusst neben die Naturwissenschaftler gestellt, von denen eine grosse Anzahl sich von Anfang an und ebenfalls unter Berufung auf ihr Wissenschaftsethos an vorderster Front für Dreyfus engagierten 14 . Den von Brunetière und anderen Kritikern an sie gerichteten Vorwürfe, sie würden durch ihr Verhalten den Individualismus fördern, die französische Gesellschaft zersetzen und dadurch der Dekadenzstimmung Vorschub leisten, antworteten sie mit einer emanzipierten und aufgeklärten Haltung: die Wissenschaft, so ihre Meinung, birgt, im Gegenteil, ein ethisches Potential, das den sozialen Zusammenhang fördert, indem es alle Bürger im Kampf für die universellen Werte einigt. Wissenschaft wird so ein Mittel der Solidarität und damit gerade der Überwindung der nationalen Krisenstimmung. 162 Ursula Bähler 12 Sartre 1972: 377. 13 Zur Haltung Brunetières in der Dreyfus-Affäre cf. Compagnon 1997. 14 Cf. z. B. Duclert 1998. Mit ihrem unablässigen Pochen auf die universellen Grundwerte wandten sich die «nouveaux philologues» auch explizit gegen die Ideologie der Neuen Rechten, die sich während der Dreyfus-Affäre definitiv als politisches Lager in Frankreich etablierten.Als Stichwort mag hier die 1899 ins Leben gerufene «Action française», dessen Chefideologe der überzeugte Monarchist Charles Maurras war, genügen. Auch was die Frage des Nationalismus angeht, ist die Haltung der «nouveaux philologues» in der Tat sehr deutlich: Frankreich, ein notwendigerweise partikulärer Wert, ist ihnen nur dann ein identitätsstiftendes Vaterland, wenn es sich den universellen Grundwerten Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit unterstellt. So schreibt Gaston Paris im erwähnten offenen Brief an Albert Sorel denn auch dies: S’il y a des lacunes dans ce manifeste d’apaisement [i. e. le manifeste de la «Ligue de la Patrie Française»], il y a aussi de singulières obscurités. Les ligueurs se proposent de «travailler, dans les limites de leur devoir professionnel(? ) 15 , à maintenir, en les conciliant avec le progrès des idées et des mœurs, les traditions de la Patrie française.» Il me semble que ces traditions soient menacées. Par qui? Par ceux qui demandent la vérité et la justice? Je regarde, pour ma part, l’amour de ces deux grandes choses comme un de nos plus précieux héritages, et je tiens ceux qui veulent les sacrifier à un prétendu intérêt d’Etat pour infidèles à nos meilleures traditions. (Paris 1899) All diejenigen, die diese Meinung teilten, wurden von den nationalistischen Dreyfusgegnern als unpatriotische Elemente oder gar als im Dienste des deutschen Erbfeindes stehende Landesverräter betitelt. Nun war der Vorwurf des Landesverrates einer, den man den «nouveaux philologues» schon seit den 60er Jahren und erst recht natürlich nach dem Debakel von 1870/ 71 gemacht hatte und gegen den zu wehren sie sich also gewohnt waren. Die Tatsache nämlich, dass die historisch-komparative Methode, wie erwähnt, in erster Linie in Deutschland entwickelt worden war, war immer wieder so ausgelegt worden, dass diese Methode eben wesensmässig deutsch und mit der französischen Denkart gänzlich inkompatibel sei. Die «nouveaux philologues» seien eigentlich Deutsche und gar keine Franzosen. So schrieb beispielsweise Juliette Adam, spätere Gründerin der ultrakonservativen Nouvelle Revue, in einem Brief vom 10. Dezember 1863 an ihren damaligen Freund Gaston Paris: Vous essayez de me corrompre en me présentant votre idée de société franco-germanique comme une création intime dans laquelle vous avez mis vos dernières espérances d’idéal réalisé. Faisons un marché. Convenez que vous êtes Allemand, comme moi je suis Française; mais renoncez à votre titre de Français, sans quoi je vous appelle traître et renégat. Je défends mon pays avec une plume aiguisée. J’empêche une invasion de 1814 intellectuelle. Je marche armée à ma frontière. «Gare à vous! » Votre Rhin tiendra dans mon verre 16 . Votre esprit est l’esprit d’Allemagne; votre méthode, votre philosophie, sa méthode et sa philosophie. (Adam 1904: 458-59) 17 163 Philologie als Lebensform 15 Das Fragezeichen und die Klammern befinden sich im Originaltext. 16 Anspielung auf das Gedicht «Le Rhin allemand» von Alfred de Musset. 17 Cf. auch Joly 1989: 654. Auch die Entgegnung auf solche Vorwürfe lief über den Appell an den universellen Grundwert der Wahrheit. Ebensowenig wie die Wissenschaft im allgemeinen, so die «nouveaux philologues», sei die historisch-komparative Methode national geprägt. Vielmehr sei auch ihr Wahrheitsanspruch universeller Natur. Wahrheit und Wissenschaftlichkeit sind nicht teilbar. In der ersten Nachkriegsnummer der Revue critique liest man hierzu: Nous ne saurions pas mêler la haine à l’érudition et le pharisaïsme à la critique . . . il n’y a qu’une histoire, une critique, une érudition, comme il n’y a qu’une stratégie et une balistique. (Bréal/ Meyer/ Morel/ Paris 1872: 2) Das, was ich Empörungsfähigkeit nennen möchte - eine äusserst wichtige Eigenschaft, wie mir scheint -, haben sich die «nouveaux philologues» im Bezug auf ungerechtfertigte Vorwürfe des Landesverrates also schon sehr früh angeeignet, und sie kam ihnen in der Dreyfus-Affäre sicher zu gute, sah sich doch auch der jüdische Hauptmann dem absolut unhaltbaren Vorwurf ausgesetzt, Frankreich an Deutschland verraten zu haben. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die «nouveaux philologues» in der Dreyfus-Affäre als Intellektuelle auftreten, und zwar als Intellektuelle der besten und vielleicht einzig sinnvollen Art, der Art nämlich, die Julien Benda in seinem Werk La Trahison des clercs von 1927 definiert hat. Wahre Intellektuelle, so Benda, verschreiben sich keinem politischen Programm, sondern einzig und allein dem Kampf um die universellen Grundwerte. Das intellektuelle Denken der «nouveaux philologues» ist also ein stark universalistisch geprägtes Denken. Eine zweite wichtige Eigenschaft dieser Denkform, auf die ich hier nur noch ansatzweise eingehen kann, ist das Grenz- und Kategorienüberschreitende. Wie schon die erste Eigenschaft, so ist auch diese zweite zunächst im Wissenschaftsverständnis der «nouveaux philologues» angelegt und danach in vielfältiger Form in den gesamtgesellschaftlichen Bereich übertragbar. Das historisch-komparative Verfahren war in erster Linie nicht gegenstands-, sondern methodenbezogen. Auch andere Disziplinen als die Philologien konnten, ja sollten sich ihrer bedienen: allen voran die Geschichte, in den Augen gewisser Wissenschaftsklassifikatoren aber durchaus auch Fächer wie Geologie und Astronomie 18 . Und so gehörte denn das, was wir heute als Transdisziplinarität bezeichnen, von Anfang an zum wissenschaftlichen Programm der «nouveaux philologues». Dieses grenz- und kategorienüberschreitende Methodendenken, das die isolierte Betrachtung der einzelnen Gegenstände zu überwinden suchte, war, nebst der Berufung auf das wissenschaftliche Ethos, ein anderer wesentlicher Faktor, warum sich die «nouveaux philologues» in die Dreyfus-Affäre einmischten. Aufgrund ihres Methodenverständnisses schien es ihnen in der Tat kein Problem, sich mit der Schrift des «bordereau» auseinanderzusetzen, auch wenn zeitgenössische Hand- 164 Ursula Bähler 18 Cf. z. B. Havet 1885. schriftenkunde nicht in ihr offizielles Ausbildungsprogramm gehörte. Auf dieses Problem angesprochen, meinte etwa Paul Meyer: «ce qui m’intéresse le plus ici [i. e. dans l’analyse du bordereau], ce sont les questions de procédés employés pour arriver à la vérité, les questions de méthode» 19 . Es verwundert nicht, dass ein den partikularistischen Werten verhafteter Dreyfusgegner wie Ferdinand Brunetière auch in diesem Bereich die exakte Gegenposition einnimmt. Gegenüber dem methodischen Ansatz der «nouveaux philologues» verteidigt er eine rein gegenstandsbezogene und in diesem Sinn notwendigerweise separatistische «Schuster-bleib-bei-deinen-Leisten»-Position 20 . Wir haben also zwei verschiedene Denkmodelle vor uns: auf der einen Seite das integrative Methodendenken, auf der anderen Seite das auf Trennung angelegte Gegenstandsdenken. Und wie dies schon beim Berufsethos der Fall war, so scheinen nun eben auch diese beiden wissenschaftlichen Denkmodelle strukturelle Ähnlichkeiten mit bestimmten ideologischen Haltungen im ausserwissenschaflichen Bereich zu haben. So kann das integrative Denken mit einem Modell des Patriotismus in Verbindung gebracht werden, in dem alle Nationen eine Art Olympischer Spiele um die Anerkennung der universellen Werte austragen, so wie dies beispielsweise ganz klar aus Gaston Paris’ Überlegungen zu diesem Thema hervorgeht 21 . Demgegenüber scheint das separatistische Denken einer Form des Patriotismus zu entsprechen, deren primäre Eigenschaft die Trennung, der Ausschluss ist, d. h. die bedingungslose Hochhaltung des Eigenen und die nicht weniger radikale Ablehnung des Fremden, ganz nach dem Motto: «my country, right or wrong». Diese Form des Patriotismus entspricht wiederum der Ideologie der Neuen Rechten, zur der auch Brunetière gezählt werden muss. 3. Philologie als Lebensform Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass die Philologie als Wissenschaft für Gaston Paris und seine Mitstreiter bei weitem keine rein autoreferentielle, sondern auch eine eminent öffentliche, gesellschaftlich relevante Angelegenheit war. Wissenschaft hat, in dieser Konzeption, ein gewichtiges Wort mitzureden, wenn es um die ethische Orientierung der modernen Gesellschaft geht und wird so gleichzeitig zu einer eigentlichen Lebensform. Die «nouveaux philologues» erscheinen uns als sozial verantwortliche und damit auch als sozial unabdingbare Gelehrte und Bürger (im Sinne von citoyens). Mit ihnen gewinnt die theoretische Reflexion der Wis- 165 Philologie als Lebensform 19 Zitiert in Duclert 1994: 50. Cf. auch folgende Aussage von Arthur Giry: «Sans doute, M. Coüard l’a dit, et il a dit parfaitement la vérité, nous nous occupons plus spécialement d’écritures d’une époque assez reculée, mais la méthode est toujours la même; elle ne varie pas» (zitiert in Joly 1989: 635-36). 20 Für eine systematische Gegenüberstellung der Positionen von Gaston Paris und Ferdinand Brunetière cf. Bähler 2002. 21 Cf. dazu Bähler 2004, Partie III. senschaft den praktischen Charakter zurück, den sie im Altertum schon einmal gehabt hatte, denn, wie der Konstanzer Philosoph Jürgen Mittelstrass schreibt: die antike Philosophie [sprach] vom bios theoretikos, vom theoretischen Leben, und nicht von Theorie, die das wissenschaftliche Subjekt etwa aus Neigung betreibt. Theoria ist für Aristoteles eine über die historische Kontingenz hinausführende allgemeine Orientierung und eine Lebensform. In zugespitzter Deutung von Theorie wird diese als höchste Form der Praxis begriffen. (Mittelstrass 1982: 22) 1919 hielt Max Weber einen auch heute noch vielzitierten Vortrag zum Thema «Wissenschaft als Beruf». Darin nahm der Soziologe Stellung zum Antiintellektualismus der jungen deutschen Generation, die das Erleben vom Wissen trennen wollte und - darin der Kritik Nietzsches folgend - in der Wissenschaft eine geradezu lebensfeindliche Aktivität sah. Wiederum also der Vorwurf des Weltfremden, hier nun aber nicht auf die Philologie im speziellen, sondern auf die Wissenschaft im allgemeinen bezogen. Nun versucht auch Weber in seinen Ausführungen, die moralischen Werte aufzudecken, die der wissenschaftlichen Tätigkeit innewohnen. So liegt das, was er die «sittliche Leistung» 22 der Wissenschaft nennt, in seinen Augen beispielsweise darin, dass man lernt, auch «unbequeme Tatsachen» 23 anzuerkennen, das heisst solche, die mit der je persönlichen Ideologie nicht im Einklang stehen, oder etwa auch darin, «Pflicht, Klarheit und Verantwortungsgefühl zu schaffen» 24 . Gegenüber Gaston Paris scheint Weber aber in der Bestimmung der gesellschaftlichen Relevanz der so georteten moralischen Qualitäten der Wissenschaft schon einen grossen Schritt rückwärts gemacht zu haben, indem er die Bewältigung der wichtigsten Lebensaufgaben sehr deutlich von der Wissenschaft trennt. Die Grundfrage des grossen russischen Schriftstellers Leo Tolstoj nach dem Sinn des Todes und damit nach dem Sinn des Lebens in der modernen Gesellschaft aufnehmend, meinte Weber denn auch in seiner Rede: Und wenn nun wieder Tolstoj in Ihnen aufsteht und fragt: «Wer beantwortet, da es die Wissenschaft nicht tut, die Frage: was sollen wir denn tun? und: wie sollen wir unser Leben einrichten? » . . . dann ist zu sagen: nur ein Prophet oder ein Heiland . . . (Weber 1988: 609) Bei aller Anerkennung der moralischen Werte der Wissenschaft, ist bei Max Weber deren Relevanz, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Lebensbereich, schon sehr deutlich relativiert. Demgegenüber ist bei Gaston Paris die Verbindung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft noch viel enger und wesentlicher. Für den Philologen kommt der Wissenschaft aufgrund der ihr innewohnenden moralischen Werte, und insbesondere desjenigen der Wahrheit, eine tragende Rolle in der Ausgestaltung einer modernen gesellschaftlichen Ethik zu. Nicht, dass die Wahrheit in seinen Augen zur Begründung einer neuen Gesellschaftsmoral ausreichen würde. 166 Ursula Bähler 22 Weber 1988: 603. 23 Ib. 24 Ib. 608. Andere Werte sind ebenso wichtig: Nächstenliebe, Freiheit und Gerechtigkeit 25 , wobei die beiden letztgenannten in seinem Diskurs, wie wir gesehen haben, aufs engste mit dem Begriff der Wahrheit verbunden sind, ja geradezu von diesem abhängen. Trotz aller Einschränkungen aber bleibt es dabei, dass die Wissenschaft nach Auffassung von Gaston Paris ein gewichtiges Wort mitzureden hat bei der Lebensgestaltung sowohl der modernen Individuen als auch der modernen Gesellschaft. Zwischen Moderne und Postmoderne schwankend, bekunden wir heute Mühe mit dem Wahrheitsbegriff. Nun heisst ja aber Wahrheit nicht nur faktische Wahrheit, welcher Natur diese Fakten auch immer sein mögen.Wahrheit meint vielmehr immer auch eine subjektive Haltung. Und selbst wenn wir uns von der Idee eines ontologisch begründeten Wissens endgültig verabschieden würden, so bliebe doch immer noch die Wahrheit als subjektive Haltung, und dies in zweifacher Hinsicht: einerseits als eine kritische Haltung, im Sinne eines ständigen Hinterfragens jeglicher Art von Autoritätsargumenten, und andererseits als eine diskursive Haltung, im Sinne der Veridiktion oder, um hier ein heute weitgehend ausser Mode geratenes Wort zu gebrauchen, im Sinne der Wahrhaftigkeit. Wahrheit als ein Aussageprozess, für den ich die Verantwortung als ein wahrhaftiges Subjekt übernehme. Beide Haltungen, die kritische und die diskursive, sollten nicht nur im wissenschaftlichen Bereich wirksam sein, sondern fordern auch zu Wachsamkeit und zur Teilnahme am öffentlichen Leben auf. So verstanden aber, bleibt die Wahrheit genauso aktuell wie die anderen erwähnten Grundwerte. Und in diesem Sinn ist das Modell von Gaston Paris auch in der heutigen Zeit auf jeden Fall überdenkenswert. Zürich Ursula Bähler Bibliographie Adam, J. 1904: Mes premières armes littéraires et politiques, Paris Bähler, U. 1999: Gaston Paris dreyfusard. Le savant dans la cité, avec une préface de Michel Zink, Paris Bähler, U. 2002: «Gaston Paris et Ferdinand Brunetière: deux mondes», RLaR 106/ 1: 49-68 Bähler, U. 2004: Gaston Paris et la philologie romane, Genève Benda, J. 1975: La Trahison des clercs, introduction d’André Wolf, avant-propos d’Etiemble, Paris [ 1 1927] [Bréal, M./ Meyer, P./ Morel, Ch./ Paris, G.] 1872: «A nos lecteurs», Revue critique 1 er semestre: 1-3 Brunetiére, F. 1898: «Après le procès», Revue des Deux Mondes, 15 mars: 428-46 Burton, R. 1991: Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten, München [ 1 1621] Compagnon, A. 1997: Connaissez-vous Brunetière? Enquête sur un antidreyfusard et ses amis, Paris 167 Philologie als Lebensform 25 Cf. hierzu z. B. Paris 1900. Digeon, Cl. 1992: La Crise allemande de la pensée française (1870-1914), Paris [ 1 1959] Duclert, V. 1994: «Un engagement dreyfusard: Léopold Delisle et la Bibliothèque Nationale pendant l’affaire Dreyfus» et «Une expertise inédite de Léopold Delisle pendant l’affaire Dreyfus», Revue de la Bibliothèque Nationale de France 2: 44-61 Duclert, V. 1998: «De l’engagement des savants à l’intellectuel critique: Une histoire intellectuelle de l’affaire Dreyfus», Historical Reflections/ Réflexions historiques 24/ 1: 25-62 Gumbrecht, H. U. 1984: «‹Un souffle d’Allemagne ayant passé›, Friedrich Diez, Gaston Paris und die Genese der Nationalphilologien», Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 53/ 54: 37-78 Havet, L. 1885: «La philologie (1). Sa définition», Revue politique et littéraire 35: 633-35 Joly, B. 1989: «L’Ecole des chartes et l’affaire Dreyfus», BECh. 147: 611-71 Merton, R. 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