eJournals Vox Romanica 63/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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2004
631 Kristol De Stefani

Martin H. Graf/Christian Moser (ed.), Strenarum lanx. Beiträge zur Philologie und Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Festgabe für Peter Stotz zum 40-jährigen Jubiläum des Mittellateinischen Seminars der Universität Zürich, Zug (Achius) 2003, 374 p.

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2004
Ricarda  Liver
vox6310249
Besprechungen - Comptes rendus Martin H. Graf/ Christian Moser (ed.), Strenarum lanx. Beiträge zur Philologie und Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Festgabe für Peter Stotz zum 40-jährigen Jubiläum des Mittellateinischen Seminars der Universität Zürich, Zug (Achius) 2003, 374 p. Es ist eine schöne Idee, dem langjährigen Leiter eines Instituts zu einem runden Jahrestag desselben einen Korb mit Neujahrsgaben, eine strenarum lanx, zu überreichen. Schüler, Mitarbeiter und Freunde von Peter Stotz haben zum 40-jährigen Jubiläum des Mittellateinischen Seminars der Universität Zürich einen reichhaltigen Band realisiert, über den sich der Adressat bestimmt freute. Mit seinem zeitlich und thematisch weitgespannten Inhalt illustriert er anschaulich, dass die mittellateinische Philologie Anknüpfungspunkt und Partner verschiedener Disziplinen ist: Linguistik, Literaturwissenschaft, Geschichte und Kulturgeschichte, Theologie. Zwar fallen nur wenige der 13 Beiträge ins engere Gebiet der Vox Romanica, aber allesamt sind sie dazu angetan, den Dialog zwischen den verschiedenen Wissenschaftszweigen, die sich mit Mittelalter und Renaissance befassen, zu beleben. C. Seidl versucht im ersten Beitrag, «Latein + Griechisch + Gotisch = Galloitalisch» (9- 38), anhand der Urkunden aus Ravenna (445-700), die J.-O. Tjäder herausgegeben hat 1 , charakteristische Züge der galloitalienischen Dialekte für diese frühe Zeit festzumachen. Als besonders ergiebig erweisen sich dabei die Texte, die lateinische Sprache in griechischer Schrift wiedergeben. Seidl findet Belege für den Schwund von -s, für verschiedene Palatalisierungserscheinungen, für das norditalienische Suffix -adro und für die Sonorisierung intervokalischer Okklusive. I. Mandrin, «Timotheos im Skriptorium» (39-46), befasst sich mit dem sogenannten Timotheos-Dekret, einem von Boethius zitierten Text, der angeblich auf das späte fünfte oder frühe vierte vorchristliche Jahrhundert zurückgeht, aufgrund des sprachlichen Befundes aber nicht vor dem 2. Jh. n. Chr. entstanden sein kann. Die Ausführungen von M. H. Graf, «Die Ethnonyme Winnili und Assipitti in der lateinischen Überlieferung der langobardischen Frühgeschichte» (47-75), beruhen auf der Interpretation der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus und der Origo Gentis Langobardorum, einer Begleitschrift zum Edictus Rothari. Die sorgfältige Studie, die vom aktuellen Forschungsstand ausgeht, überzeugt durch ihre Akribie und klare Gedankenführung. Ein amüsantes Aperçu aus der karolingischen Gelehrtenwelt vermittelt M. C. Ferrari unter dem Titel «Der Spass des Exegeten. Alcuins Brief 192 an Theodulf von Orléans» (77- 89). Zu einer Zeit, in der die beiden Gelehrten noch freundschaftliche Beziehungen pflegen, bittet Alcuin den Freund um Wein, in einem Brief, der aus lauter Bibelzitaten besteht. Ferrari bezeichnet den cento als «eine selbstreflektierende Parodie, welche die Intensität der Beziehung zu Theodulf ahnen lässt» (86). M. Stähli, stellvertretende Leiterin der Handschriftenabteilung der Zentralbibliothek Zürich, führt den Leser in die Schätze dieser Sammlung und in die damit verbundenen Probleme der Skriptoriumsforschung ein: «Luxus französischer Buchkunst für Zürich» (91- 115). Der Beitrag ist mit zahlreichen Abbildungen illustriert. 1 Tjäder, J. O., Die nichtliterarischen lateinischen Papyri Italiens aus der Zeit 445-700. I. Papyri 1- 28, Uppsala 1955. Id., II. Papyri 29-59, Stockholm 1982. P. Michel befasst sich in seinem instruktiven und gut lesbaren Beitrag mit einem kaum bekannten Werk des Honorius von Autun (ca. 1080-ca. 1137): «Ignorantia exsilium hominis. Zu einem enzyklopädischen Traktat des Honorius Augustodunensis» (117-43). Ausgehend vom Didascalicon des Hugo von Sankt Victor, wo ebenfalls in der Wissenschaft ein Weg gesehen wird, auf dem der Mensch die verlorene Gottähnlichkeit wiedererlangen kann, wird der Traktat De animae exsilio et patria des Honorius Augustodunensis vorgestellt, der in Form einer Reiseallegorie ein ähnliches Konzept gestaltet. Michel lässt den Text im lateinischen Original 2 folgen, begleitet von einer Übersetzung und erklärenden Anmerkungen. J. M. Anguita Jaén, «Luzern und die Legende von der versunkenen Stadt» (145-60), schliesst aus dem Vergleich der Beschreibung der fiktiven Stadt Lucerna am Pilgerweg nach Santiago de Compostela, wie sie im Pseudo-Turpin vorliegt, mit der Darstellung der Vorgeschichte von Luzern in der Schweizerchronik von Heinrich Brennwald, dass beide Texte auf eine gemeinsame unbekannte Quelle zurückgehen. D. Vitali stellt unter dem Titel «probitas et fatum» einen lateinischen Panegyrikus auf Zürich vor, «ein anonymes mittelalterliches Städtelob über Zürich» (161-84). Das Gedicht gehört zu den seltenen Zeugnissen mittelalterlicher Literatur in Zürich und ist weniger durch seine eher bescheidene literarische Gestaltung beachtlich als dadurch, dass es ein im Entstehen begriffenes urbanes Selbstbewusstsein widerspiegelt. Der Text wird hier erstmals ediert und im Hinblick auf das historisch-literarische Umfeld interpretiert. Der Autor scheint mit den zürcherischen Lokaltraditionen vertraut zu sein. Nach Vitali ist das Gedicht auf die 2. Hälfte des 13. oder den Anfang des 14. Jh.s zu datieren. Dass das lateinische Sprichwort am Ende des Panegyrikus, Pauperis in bursa perit sapientia multa, auf die Lebenslage des Verfassers anspielt, wird man mit Vitali gerne annehmen. Noch näher als die von ihm aus dem TPMA 3 angeführten Parallelen aus den Artikeln Weise und Beutel sind jedoch deutsche Sprichwörter, die sich daselbst unter arm (Adj.) 2.3.6., p. 249 finden, so 259 Es vedirbt vil weißheit inn eins armen mans taschen, 268 Es verdirbt vil weissheit ins armen mans seckel. B. Vanotti verfolgt in ihrem Beitrag «Monasterium exivit, et ad seculum est reversa . . . Die Flucht der Schenkin von Erbach aus der Fraumünsterabtei in Zürich» (187-207) aufgrund von Quellen, die mehrheitlich aus den vatikanischen Archiven stammen, das Schicksal einer deutschen Adligen, die um das Jahr 1470 die Fraumünsterabtei verliess, um im Bistum Chur einen Zürcher Kleriker zu heiraten, mit dem sie ein Kind hatte. Die kirchenrechtlichen Voraussetzungen für eine Absolution, um die Ursula von Erbach in drei Suppliken bei der päpstlichen Pönitentiarie nachsuchte, werden geklärt, und der Lebenslauf der Protagonisten, Ursula und Johannes Zweig, der seine Frau um Jahrzehnte überlebte, mit Hilfe der Quellen verfolgt. Der gut dokumentierte und flüssig geschriebene Beitrag weckt geradezu die Lust, einen historischen Roman zu schreiben. M. Wehrli-Johns, «Mariengebete in Zürcher Frühdrucken der Offizin von Hans Rüegger» (209-33), befasst sich mit der Produktion des Vorgängers von Christoph Froschauer, der seinerseits seine Tätigkeit ab 1521 ganz in den Dienst der Reformation stellen sollte. Aufgrund der Zuordnung und Kommentierung der Einblattdrucke mit Mariengebeten, der Beichtzettel, Ablassbriefe etc. entwirft die Autorin ein Bild des historischen Kontextes, der Auseinandersetzungen innerhalb des Franziskanerordens und der Ablasspolitik von Papst Sixtus IV. Im Zentrum des folgenden Beitrags stehen die innerprotestantischen Auseinandersetzungen über das richtige Verständnis der Eucharistie: C. Moser, «Ratramnus von Corbie als 250 Besprechungen - Comptes rendus 2 Nach der Edition Pez in Migne PL 172, Sp. 1243s. 3 Thesaurus proverbiorum medii aevi/ Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters. Begründet von Samuel Singer [. . .], Berlin/ New York 1995-2002. ‹testis veritatis› in der Zürcher Reformation. Zu Heinrich Bullingers und Leo Juds Ausgabe des Liber de corpore et sanguine Domini (1532)» (235-309). Moser zeigt, wie die Zürcher Reformatoren den karolingischen Gelehrten als Garanten des zwinglianischen Verständnisses des Abendmahls in Anspruch nehmen. Tatsächlich hatte Ratramnus die Auffassung vertreten, Christus sei in der Eucharistie «spiritaliter», «sed non corporaliter» gegenwärtig (243). Am Schluss des Beitrags (262-307) folgt eine Edition der besprochenen Texte mit Anmerkungen. U. B. Leu, «Die Privatbibliothek von Johannes Fries (1505-1565)» (311-29), entwirft anhand der Bücher, die Johannes Fries besass, das Bildungsporträt dieses Gelehrten aus dem Kreis um Zwingli und Bullinger. Neben griechischen und lateinischen Klassikerausgaben und Grammatiken finden sich auch einige französische und italienische Werke. Pico della Mirandola und Polizian sind vertreten, unter den theologischen Werken mehrfach (mit persönlicher Widmung! ) Pietro Paolo Vergerio. Auf den Seiten 316-29 folgen kurze Beschreibungen aller 47 in der Zürcher Zentralbibliothek vorhandenen Werke mit bibliographischen Angaben. Auch der letzte Beitrag rückt einen Zürcher Theologen und Humanisten ins Blickfeld: K. J. Rüetschi, «Mittelalterliches in der Wahrnehmung Rudolf Gwalthers» (331-51). Was der Autor im Leben und Werk des Nachfolgers von Bullinger am Grossmünster und Schwiegersohns Zwinglis an Bezügen zum Mittelalter ausmacht, ist gemessen an seiner zeitgenössischen Tätigkeit nicht allzu gewichtig, wie Rüetschi sebst abschliessend feststellt. Die einzelnen Hinweise bereichern jedoch das Bild des reformatorischen Gelehrten. Selbst aus diesen knappen Inhaltsangaben wird klar, welche Fülle von Anregungen, Informationen und Resultaten individueller Forschung im vorliegenden Band vereinigt ist. Das Buch präsentiert sich auch äusserlich gut, mit ansprechender Druckgestaltung und zahlreichen Illustrationen. Einige Mängel dürfen jedoch nicht verschwiegen werden. Verschiedentlich stören Verdruckungen die Lektüre (p. 281, 282 je die letzte Zeile, p. 95 N7, 96 N8). Schwerer wiegt, dass die Herausgeber es versäumt haben, den Band in technischer Hinsicht konsequent zu gestalten. So weist nur ein einziger Beitrag eine Bibliographie auf. Alle anderen integrieren die bibliographischen Angaben in die Anmerkungen, was eine komplizierte und zudem nicht immer gleich gehandhabte Zitierweise zur Folge hat (Autoren bald mit, bald ohne Vornamen zitiert). Die Verweisziffern auf Fussnoten stehen bald vor, bald nach dem Satzzeichen (sogar innerhalb ein und desselben Artikels inkonsequent, so 235-309). Zahlreiche Fehler (fehlende Wörter, falsche Formen) sind stehengeblieben, was bei der heutigen Produktionsweise meist auf Versehen der Autoren zurückgeht, von den Herausgebern jedoch bereinigt werden müsste 4 . Störend sind auch die willkürlichen Trennungen irgendwo im Wort, unabhängig von Silben und Lautungen (259: co-enae). Trotzdem: Die strenarum lanx, die Peter Stotz entgegennehmen durfte, enthält ein einladendes Angebot, das die Ausstrahlung des mittellateinischen Seminars der Universität Zürich eindrücklich dokumentiert. R. Liver ★ 251 Besprechungen - Comptes rendus 4 Ich verzichte auf Beispiele. Nur gerade der stossende Akkusativfehler p. 235 («ein kleines Werk, das ein von Heinrich Bullinger verfasster Sendbrief . . . und eine . . . deutsche Übersetzung . . . in sich vereinte») soll erwähnt werden.