eJournals Vox Romanica 64/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2005
641 Kristol De Stefani

Bündnerromanische Schriftnormen

121
2005
Matthias  Grünert
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1 «Tgi ei nies pievel? Nos purs» ‘Wer ist unser Volk? Unsere Bauern’, «quels [. . .], ils quals plaiden nigins auters lungatgs» ‘diejenigen, die keine anderen Sprachen sprechen’ (Nay 1903: 275, 279); «il simpel hom dal pövel chi nun ha gnü la furtüna d’imprender otras linguas co forsa il tudais-ch» ‘der einfache Mann des Volkes, der nicht das Glück gehabt hat, andere Sprachen zu lernen als vielleicht Deutsch’ (Pult 1941: 29). Vox Romanica 64 (2005): 64-93 Bündnerromanische Schriftnormen Volkssprachliche und neolateinische Ausrichtungen in Romanischbünden zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1930er Jahren Il presente contributo tratta delle discussioni sulla norma del romancio nei Grigioni tra la metà dell’Ottocento e gli anni ’30 del Novecento, mostrando gli atteggiamenti puristici differenti assunti dai diversi partecipanti al dibattito. Negli anni ’60 dell’Ottocento un esponente della regione renana crea una lingua di sintesi per l’intero territorio romancio, una lingua dai tratti latineggianti e italianizzanti e purificata da molti germanismi. Altri esponenti della stessa regione si oppongono all’orientamento latineggiante e neolatino, assumendo atteggiamenti differenti nei confronti dei germanismi, che vengono accettati come parte integrante della lingua popolare o rifiutati come elementi che sarebbero estranei al romancio. In Engadina, l’altra regione romancia importante, è la norma scritta esistente ad essere qualificata come italianizzante e distante dall’uso popolare. Quest’ultimo è caratterizzato da un maggior numero di germanismi e da un lessico più vicino a quello delle parlate renane. La proposta di riavvicinare lo scritto al parlato è combattuta dai difensori della lingua letteraria sviluppatasi per più secoli accanto alla lingua popolare (considerata come somma di dialetti e per questo «non adatta» come punto di riferimento). Nelle due regioni s’impone l’orientamento verso l’uso popolare e si eliminano le opzioni dotte, la koiné (latineggiante e italianizzante) e la norma tradizionale dell’Engadina. 1. Einleitung Zwischen den 1920er und 1960er Jahren haben die bündnerromanischen Regionalschriftsprachen ihre bis heute gültigen Normen erhalten. Diesem Zeitabschnitt geht eine um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Periode voraus, die durch Diskussionen zu den schriftsprachlichen Normen sowie durch verschiedene Etappen der orthographischen Normierung geprägt ist. Zentrale Gegenstände des metasprachlichen Diskurses der Elite in der genannten Periode sind das Verhältnis der Schriftsprache zur Volkssprache, d. h. zum verbreiteten Usus, der oft mit dem Usus weniger gebildeter Sprecher gleichgesetzt wird 1 , die Unterscheidung und Bewertung von «Fremdelementen» (Entlehnungen und Interferenzen) sowie die Frage nach grossräumigeren schriftsprachlichen Standardisierungen. Im vorliegenden Beitrag sollen die zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und den 1930er Jahren 65 Bündnerromanische Schriftnormen vertretenen Positionen - unter besonderer Berücksichtigung des regionalsprachlichen Hintergrundes der verschiedenen Exponenten - einander gegenübergestellt werden. Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen das Verhältnis der Schriftsprache zur Volkssprache und die Unterscheidung und Bewertung von Fremdelementen. Als gegensätzliche Grundhaltungen werden sich im Laufe unserer Untersuchung die Ausrichtung auf die Volkssprache und die Orientierung an neolateinischen Vorbildern erweisen. In beiden Fällen kann man von Purismus sprechen: Die Ausrichtung auf die Volkssprache impliziert eine tendenziell negative Haltung gegenüber gelehrten Entlehnungen (Latinismen, Italianismen und Gallizismen), während die «neolateinische Orientierung» eine stärkere Bekämpfung von Germanismen mit sich bringt. Aspekte der beiden Grundhaltungen sind oft miteinander verbunden. 2. Ansätze zu grossräumigeren Standardisierungen im 19. Jahrhundert Mit Darms 1989 sei zunächst auf die im 19. Jahrhundert unternommenen Anstrengungen hingewiesen, die engen regionalschriftsprachlichen Räume zu überwinden. Nachdem das Schulwesen 1843 einer kantonalen Behörde unterstellt worden war, war man von staatlicher Seite - im Zusammenhang mit der Herausgabe von Lehrmitteln - bestrebt, die Anzahl der bündnerromanischen Schriftsprachen zu verringern. Für die Surselva (Gebiet am Vorderrhein), die zwei konfessionell konnotierte Orthographien kannte, wollte man zunächst nur Fassungen in der dominierenden katholischen Orthographie bereitstellen, die zudem für Mittelbünden (Sutselva und Surmeir) Geltung haben sollten (1846-51). Doch erschien schon bald (1852) ein Schulbuch in einer Orthographie, die sich der protestantischen surselvischen wieder annäherte, und auch Surmeir erhielt etwas später (1857, 1859), wenigstens für die unteren Klassen, eigene Lehrmittel. Im Engadin erschienen zunächst (ab 1850) nur Schulbücher in der unterengadinischen Schriftvarietät, nach einem knappen Jahrzehnt (ab 1859) allerdings auch in der oberengadinischen (Darms 1989: 837s.). Nach den gescheiterten Bemühungen, im Zusammenhang mit der Herausgabe von Lehrmitteln grössere Schriftsprachengebiete durchzusetzen, unternahm der Kantonsschullehrer Gion Antoni Bühler (1825-97) Mitte der 1860er Jahre den radikalen Versuch, eine Koiné für ganz Romanischbünden, romonsch fusionau genannt, zu schaffen. Seine Basis war das Surselvische, für ihn als Emser die «angestammte» bündnerromanische Schriftsprache 2 , zu der er 1864 eine Grammatik veröffentlichte. Bereits 1865 folgte ein Schulbuch in der - zunächst noch dem Sur- 2 Das Emser Romanische wird dem Sutselvischen zugeordnet, aus Domat/ Ems stammende Autoren verwenden aber die surselvische Schriftsprache. 66 Matthias Grünert selvischen nahe stehenden - Einheitssprache. Diese wurde 1867 von der ersten «Societat Rhäto-romonscha», deren Mitbegründer Bühler war, sanktioniert. Das Schulbuch stiess aber sowohl in der Surselva als auch im Engadin auf Ablehnung, und Bühler blieb, obschon er das romonsch fusionau als Kantonsschullehrer den angehenden romanischen Lehrkräften unterrichtete, der einzige Benutzer dieser Schriftsprache (Darms 1989: 839s.). Als sich gegen Ende der 1870er Jahre das Scheitern von Bühlers Initiative abzeichnete, war der Weg frei für die Erarbeitung regiolektaler Normen (Darms 1989: 840). Während die siegreiche «regiolektale Linie» in den 1920er Jahren in den beiden stärksten Regionen Romanischbündens, der Surselva und dem Engadin, zur Sanktionierung der Grundlage der noch heute geltenden Schriftstandards führte (Cahannes 1927 und Bardola 1928, cf. dazu auch Grünert 2003), fand das romonsch fusionau mit dem Tod seines Schöpfers (1897) ein Ende. 3. Das Verhältnis zur Volkssprache und die Bewertung der Fremdelemente 3.1 Bühlers «neolatinisierende» Einheitssprache Bühler entwickelte seine Einheitssprache in einer während zweier Jahre eigens herausgegebenen Zeitschrift, dem Novellist (1867-68). Eine weitere Gelegenheit, bei der er sein Fusionskonzept erläuterte und verteidigte, war das 1886 an der Versammlung der neu gegründeten «Societad Rhæto-Romanscha» gehaltene Referat «L’uniun dels dialects rhæto-romans», das im ersten Band der Annalas della Societad Rhæto-Romanscha, dem bis heute bestehenden Organ der Gesellschaft, wiedergegeben ist (Bühler 1886b). Die Einheitssprache Bühlers steht der bündnerromanischen Volkssprache fern. Sie meidet nicht nur Germanismen, die ausdrucksseitig nicht oder wenig integriert sind, sondern auch alte, gut integrierte Germanismen und hat eine stark latinisierende und italianisierende Tendenz. Die Distanz zu den verschiedenen regionalen Gebrauchsnormen ergibt sich also nicht nur aufgrund der Mischung von Elementen verschiedener diatopischer Varietäten, sondern auch aufgrund der puristischen Haltung, nach der möglichst alle (nicht auch in anderen romanischen Sprachen vorkommende) Germanismen durch latinisierendes und italianisierendes Wortgut bzw. durch neolateinische Strukturen zu ersetzen sind. In den ersten, 1867 als Vorschlag formulierten Richtlinien figuriert die Ausrichtung auf das Latein und die anderen romanischen Sprachen bezeichnenderweise vor der Berücksichtigung des Usus, der lediglich «in Zweifelsfällen» heranzuziehen ist: La lingua rhäto-romonscha ei ina figlia della lingua latina e parentada cun tut las autras linguas romonschas; perquei dovei sia orthographia e grammatica prender special riguard 67 Bündnerromanische Schriftnormen a) sin l’etymologia latina; b) sin l’analogia cun las autras linguas romonschas; et en cass dubius c) sin igl usus existent e sin l’euphonia, conservont dentont adina siu character . . . 3 (Bühler 1867a: 105) Die Orientierung am Latein und an anderen romanischen Sprachen soll die Selektion innerhalb der «rätoromanischen Dialekte» (womit zu einem wesentlichen Teil die bestehenden Regionalschriftsprachen gemeint sind) steuern. In den ersten Richtlinien weist Bühler, dessen Basis das Surselvische ist, vor allem auf surselvische Formen hin, die zugunsten anderer - engadinischer und mittelbündnerischer - aufgegeben werden: tiara ‘Erde’ tritt vor terra zurück (terra ist aber nicht nur die engadinische und mittelbündnerische Form, sondern auch die Form der protestantischen surselvischen Schriftsprache), tierz ‘dritter’ (surs.) tritt vor terz (engad. und mittelbünd.) zurück, uors ‘Bär’ (surs. und engad.) vor urs (surmeirisch), cheu ‘hier’, tscheu ‘da’, leu ‘dort’ und neu ‘her’ (surs.) vor qua, tscha, là und nà (sutselvisch; qua und là auch unterengad.) [Bühler 1867a: 105s.]. Die Berücksichtigung der Etymologie führt ausserdem zur Bevorzugung der Graphie maun ‘Hand’ gegenüber der Graphie meun (im Surselvischen sind beide vertreten; Bühler 1867a: 105). Das etymologische Prinzip und die Analogie zu anderen romanischen Sprachen führen teilweise zu einer deutlichen Distanzierung von der Volkssprache: So bevorzugt Bühler die langen Formen häufig gebrauchter Verben (voler, laschar, ascar [astgar] ‘dürfen’, vegnir, haver) gegenüber den volkstümlichen Kurzformen (ler, schar, stgar, gnir, ver; Bühler 1867a: 111). Weiter entscheidet er sich für die italianisierende und latinisierende Schreibung com-/ conanstelle der Schreibung cum-/ cun-, die bei volkstümlichen Wörtern die tatsächliche Aussprache wiedergibt: comprar ‘kaufen’, contentar ‘zufriedenstellen’ anstelle von cumprar, cuntentar (Bühler 1867a: 111). Mit long ‘lang’, longezia ‘Länge’ (surs. liung, lunghezia, engad. lung, lung[h]ezza) und vulp ‘Fuchs’ (surs. uolp, surmeirisch golp, engad. vuolp) schlägt er sogar Formen vor, die in keiner bündnerromanischen Varietät vorkommen. In der Morphologie trifft Bühler einige Entscheidungen, die angesichts seines surselvischen Ausgangspunktes einen deutlichen Schritt in Richtung des Engadinischen und gleichzeitig anderer romanischer Sprachen bedeuten: Er sieht ein proklitisches Objektpronomen vor (das Surselvische hat nur ein postverbales nicht klitisches Objektpronomen), ein nach der Person flektiertes Reflexivpronomen 3 «Die rätoromanische Sprache ist eine Tochter des Lateins und mit allen anderen romanischen Sprachen verwandt; daher soll ihre Orthographie und Grammatik besonders Rücksicht nehmen a) auf die lateinische Herkunft, b) auf die Analogie mit anderen romanischen Sprachen und in Zweifelsfällen c) auf den bestehenden Usus und die Euphonie, wobei sie jedoch immer ihre Eigenart bewahren soll . . . » 68 Matthias Grünert (das Surselvische hat ein für alle Personen generalisiertes se-), ein synthetisches Futur (das Surselvische kennt nur eine Futurperiphrase mit vegnir a + Inf.) und ein einfaches Perfekt (das Surselvische kennt nur das zusammengesetzte Perfekt) [Bühler 1867a: 108-10]. Das Einbeziehen des einfachen Perfekts, das auch im Engadin nur schriftsprachlich ist, macht deutlich, wie hier eine von der Volkssprache abgehobene Schriftsprache geschaffen wird. Dies zeigt sich auch auf der lexikalischen Ebene. Bühlers Gegenüberstellung zwischen der «bäuerlichen, trivialen Sprache» und der in der Schule zu verwendenden Sprache, die einer gehobenen Stilebene angehören und über differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten verfügen soll, macht dies deutlich, sowohl als metasprachliche Aussage als auch anhand der unmittelbar verwendeten Lexik (admoniziuns, exhortaziuns, rustic für gängiges da purs [pur ‘Bauer’], intenzionescha, quotidian für gängiges da mintga di): Il scolast vestgeschi sias admoniziuns, ses buns cussegls, sias exhortaziuns en in linguatg rustic, trivial, sco quel che vegn ord il nuell, e l’impressiun, che el intenzionescha de far, ei prest scuada naven; mo plaida el en in linguatg cultivau, stattan ad el expressiuns en disposiziun, las qualas ein adattadas d’exprimer ideas e sentiments, che se aulzan sur las trivialitads della vita quotidiana, cert faran allura ses plaids ina megliera e pli profunda impressiun e pli grond effect 4 . (Bühler 1867b: 125) Dass sich Bühler der Gefahr der «Latinisierung» bewusst war, geht aus der nächsten Fassung der Richtlinien von 1868 hervor, in der das etymologische Prinzip und die Analogie zu anderen romanischen Sprachen nicht mehr an erster und zweiter, sondern an zweiter und dritter Stelle stehen, während der erste Punkt die Berücksichtigung der Eigenart des Bündnerromanischen betrifft. Auch wenn Bühler hier beteuert, man wolle die «Sprache nicht latinisieren, sondern sie vor allem in ihrer Ursprünglichkeit und mit ihren charakteristischen Eigenheiten bewahren», bleibt die Orientierung am Latein als Postulat erhalten und wird sogar gerechtfertigt mit dem Verweis auf «jene unwiderstehliche Neigung und Tendenz, mehr oder weniger zu latinisieren» (quella irresistibla inclinaziun e tendenza, de pli u meins latinisar), die bei den romanisch Schreibenden seit je her bestanden habe (Bühler 1868: 142). Was die Berücksichtigung des «wirklich Bündnerromanischen» betrifft, äussert Bühler in einer späteren Phase, in den 1880er Jahren, den Wunsch, dass Ausdrücke, die «im Munde des Volkes» für verschiedene Gegenstände des bäuerlichen Lebens gebräuchlich seien, gesammelt würden und so zu allgemeiner Kenntnis gelangten (Bühler 1886a: 14). In Bezug auf die künftige Praxis in der Einheitsschriftsprache 4 «Der Lehrer kleide seine Ermahnungen, seine guten Ratschläge, seine Aufforderungen in eine bäuerliche, triviale Sprache, wie derjenige, der aus dem Stall kommt, und der Eindruck, den er zu machen beabsichtigt, ist rasch dahin; spricht er aber in einer gepflegten Sprache, stehen ihm Ausdrücke zur Verfügung, die sich eignen, Ideen und Gefühle auszudrücken, die sich über die Trivialitäten des Alltagslebens erheben, und gewiss werden dann seine Worte einen tieferen Eindruck machen und eine grössere Wirkung erzielen.» 69 Bündnerromanische Schriftnormen hegt er auch die Hoffnung, dass die Autoren «die zahlreichen sprachlichen Kostbarkeiten ihrer Dialekte» (las numerusas pedras linguisticas de lur dialects) ans Licht bringen würden, «wissend, dass jedes wahre romanische Wort (ogni ver plaid romansch) aus einem beliebigen Dialekt, das gemäss den angenommenen allgemeinen Prinzipien geschrieben wird, in der literarischen Sprache zugelassen ist» (Bühler 1886b: 58). Mit dem Austausch zwischen den Dialekten, der regional beschränkte Ausdrücke zu Gemeingut machen soll, wird auch das Ziel verfolgt, Fremdelemente zu meiden: Ils amitgs dell’uniun pretendan melsinavant . . . che . . . ils dialects hagien, se volend cultivar, da se completar viceversa, in pe da recurrer allas diversas linguas estras, inua als mauncan expressiuns per üna caussa u l’autra 5 . (Bühler 1886b: 39) In Bühlers Praxis wird dieses Prinzip auch dahingehend angewendet, dass Germanismen durch latinisierendes und italianisierendes Wortgut, das in den bestehenden bündnerromanischen Schriftsprachen verfügbar ist, ersetzt werden. So macht der surselvische pur ‘Bauer’ dem in der engadinischen Schriftsprache verwendeten contadin ( ← it. contadino) Platz.Andererseits setzt sich surs. merveglia ‘Neugier’ ( mirabilia) gegenüber engad. buonder ( dt. Wunder) durch. Auf der Inhaltsseite liegt zwar hier auch im Surselvischen ein Germanismus vor (‘Wunder’ → ‘Neugier’, cf. Decurtins 2001: s. marveglia), der surselvische Ausdruck gehört jedoch zum Erbgut aus dem Latein. Ein Bereich, in dem der Grundsatz, «jedes wahre romanische Wort» sei zugelassen, auf sehr eigenwillige Weise verstanden wird, sind die Verben: Die zahlreichen Partikelverben (Verbindung «Verb +Adverb/ Präposition»), die oft deutsche präfigierte Verben nachbilden, sollen systematisch durch einfache Lexien ersetzt werden, die Bühler als ils vers verbs romanschs («die wahren romanischen Verben») bezeichnet (Bühler 1886b: 43s.). Unter diesen befinden sich - volkstümliche Verben: far üna festa ‘ein Fest machen’ statt tener giu üna festa ‘ein Fest abhalten’ far imprestar danèrs ‘Geld ausleihen’ statt prender si/ rumper si danèrs ‘Geld aufnehmen/ aufbrechen’ portar ün capè ‘einen Hut tragen’ statt haver si ün capè ‘einen Hut aufhaben’ cupitgar ‘umstürzen’ statt dar inturn ‘umfallen’ - Latinismen (die durch romanische Sprachen oder das Deutsche vermittelt sein können): desister ‘ablassen’ statt star giu ‘ablassen’ conceder ‘zugeben’ statt dar tier ‘zugeben’ notar ‘notieren’ statt scriver sü ‘aufschreiben’ explicar ‘erklären, erläutern’ statt metter or ‘auslegen’ 5 «Die Freunde der Vereinigung fordern weiter . . ., dass . . . die Dialekte, sollen sie gepflegt werden, sich gegenseitig ergänzen müssten, statt da, wo Ausdrücke für die eine oder andere Sache fehlen, auf die verschiedenen Fremdsprachen zurückzugreifen.» 70 Matthias Grünert - sowie Entlehnungen aus romanischen Sprachen: giustiziar ‘hinrichten’ ( ← it. giustiziare) statt metter vi ‘hinrichten’ reussir ‘gelingen’ ( ← fr. réussir) statt curdar ora bein ‘gut ausfallen’ testamentar la rauba ‘die Habe vermachen’ ( ← it. testamentare, fr. testamenter) statt far si la rauba ‘die Habe vermachen’. Entlehnungen aus romanischen Sprachen können auch volkstümlich geworden sein, wie quietar ‘beruhigen’ (cf. it. quietare), das nach Bühler metter giu ersetzen sollte. Bemerkenswert ist, dass ein Teil der zitierten Partikelverben nicht deutsche präfigierte Verben nachbildet: star giu da ‘ablassen von’, far si la rauba ‘die Habe vermachen’ und metter giu ‘beruhigen’ 6 . Da der deutsche Einfluss in diesem Bereich aber mehrfach offensichtlich ist, werden alle Partikelverben verbannt. In einem späteren Beitrag (1895: 304) geht Bühler sogar so weit, dass er Partikelverben, die Bewegungen ausdrücken und Entsprechungen im Italienischen haben (andare/ venire dentro/ fuori/ giu/ su), durch einfache Lexien ersetzen will: Statt ir/ vegnir or/ en/ giu/ si soll man sortir, intrar, descender und ascender verwenden. Interessanterweise ist von diesem rigorosen Purismus in der surselvischen Grammatik, die Bühler 1864, vor der «Fusionsphase», herausgegeben hat, noch nichts zu merken. Die Partikelverben werden hier den präfigierten Verben 7 , von denen ein grosser Teil gelehrt ist, gegenübergestellt, ohne dass eine der beiden Klassen privilegiert würde (Bühler 1864: 22). Die Lernenden werden auch angewiesen, einerseits Partikelverben zu nennen, die bestimmte Basisverben bzw. Adverbien oder Präpositionen enthalten (Bühler 1864: 23), andererseits Verben mit bestimmten Präfixen (re-, dis- und sur-) zu suchen (Bühler 1864: 13). Einige Jahre zuvor hatte P. Baseli Carigiet (1811-83) in seiner Ortografia generala, speculativa ramontscha die mehrheitlich nicht volkstümlichen präfigierten Verben noch besonders verteidigt, als Elemente eines gehobenen Registers, über das das Bündnerromanische auch verfügen sollte: Ei gliei ver, che tals plaids componii cun Preposiziuns latinas een la plippart plaids fins e sueran ils biars della Latin; perquei vegnan quels udii il bia ord la bucca dils perderts; aber per- 6 Ein Teil der aus Bühler zitierten Partikelverben ist heute nicht mehr gebräuchlich: rumper si daners ‘Geld aufbrechen’, star giu da ‘ablassen von’ und metter giu ‘beruhigen’. 7 Bühler vermischt hier verschiedenartige Präfixbildungen (Bühler 1864: 13): - volkstümliche Bildungen: emprender ‘lernen’, rebatter ‘zurückwenden, widerhallen’, surcargar ‘überladen’, surmanar ‘verführen’ (nach schwdt. überfüere n , cf. Decurtins 2001: s. v. surmenar); - transparente(re) gelehrte Bildungen/ Entlehnungen (das Verb kommt im Surselvischen auch ohne Präfix vor): dismetter ‘beseitigen’, exclamar ‘ausrufen’, inscriver ‘einschreiben’, predestinar ‘vorbestimmen’; - nicht transparente gelehrte Bildungen/ Entlehnungen: exsequir ‘ausführen’, interrogar ‘befragen’, invocar ‘anrufen’, protestar ‘protestieren’. 71 Bündnerromanische Schriftnormen quei savein nus bucca bandischar quels ord nies lungatg, tartgond che mo ils plaids che mintga pur sapi, seigjen Ramontsch 8 . (Carigiet 1858: 103) Wenn nun präfigierte Verben in Bühlers späteren Beiträgen auch dazu dienen, Partikelverben zu ersetzen, zeigt sich eine deutliche Distanzierung von der Volkssprache. In einem Artikel von 1895 empfiehlt Bühler z. B. folgende Substitutionen: - eleger statt leger or ‘auslesen’, inserrar statt serrar en ‘einsperren’, repartir statt parter ora ‘austeilen’, returnar statt turnar anavos ‘zurückkehren’; - conceder statt dar tier ‘zugeben’, conquistar statt prender en ‘einnehmen’, remetter statt dar giu ‘abgeben’, resister statt star encunter ‘entgegenstehen’ (Bühler 1895: 304s.). Bühler hat also, wenn man seine surselvische Grammatik von 1864 mit einbezieht, einen beträchtlichen Weg zurückgelegt: Nach der Beschreibung einer regionalen Schriftnorm, die einen engeren Bezug zu einer volkssprachlichen Realität aufweist, hat er verschiedene Etappen des interregionalen Ausgleichs durchlaufen und sich dabei immer stärker von «neolatinisierenden» Prinzipien leiten lassen. 3.2 Die Vertreter des rheinischen Gebietes Neben den beiden bereits zitierten Autoren, dem aus Domat/ Ems stammenden Gion Antoni Bühler und dem Surselver Baseli Carigiet, beziehen im rheinischen Gebiet folgende - allesamt aus der Surselva stammende - Personen zu den uns interessierenden sprachlichen Fragen Stellung: der Historiker und Dichter Giachen Caspar Muoth (1844-1906), der Arzt und Prosaschriftsteller Giachen Michel Nay (1860-1920), Caspar Decurtins (1855-1916), Bündner Grossrat und Nationalrat, Professor für Kulturgeschichte an der Universität Freiburg i. Ü. und Herausgeber der Rätoromanischen Chrestomathie, Giusep Huonder (1869-1905), Professor für Romanische Sprachen und Literaturen an der Universität Freiburg i. Ü., Pieder Tuor (1875-1957), Professor für Recht an den Universitäten Freiburg i. Ü., Bern und Genf, sowie Gion Cahannes (1872-1947), Geistlicher und Lehrer für Romanisch an der Kantonsschule Chur. Vorgebracht wurden die in unserem Zusammenhang relevanten Stellungnahmen in Beiträgen in den Annalas della Societad Rhæto-Romanscha (Muoth 1887, 1893 und 1898 und Nay 1903) und im Ischi, dem zuerst von Caspar Decurtins, später von Pieder Tuor herausgegebenen Organ der Romania, der Sprach- und Kulturorganisation der Surselva (Huonder 1897, Tuor 8 «Es ist wahr, dass solche zusammengesetzte Wörter mit lateinischen Präpositionen zur Mehrheit gewählte Wörter sind und nach Latein riechen; deshalb werden sie oft aus dem Munde der Gelehrten vernommen; wir können sie aber deshalb nicht aus unserer Sprache verbannen, da wir denken, dass nicht nur die Wörter, die jeder Bauer kennt, romanisch sind.» 72 Matthias Grünert 1912 und Cahannes 1912 und 1913) 9 , sowie in einem Regelwerk zur Orthographie (Muoth 1888) und in einer Grammatik (Cahannes 1924). Einen besonderen Platz nimmt eine im Bündner Grossen Rat 1887 gehaltene Rede ein, in der Caspar Decurtins das Anliegen vorbringt, dass an der Kantonsschule Chur anstelle der bühlerschen Einheitssprache fortan die beiden Idiome Ladin (Engadinisch) und Surselvisch zu unterrichten seien. Die Bedeutung, die Decurtins seinem erfolgreichen Votum beimisst, unterstreicht er, indem er seine Rede in der Rätoromanischen Chrestomathie - anschliessend an Auszüge aus Bühlers Novellist - unterbringt (1911). 3.3 Die Volkssprache nach Nay und der «zweiseitige» Purismus nach Muoth Nach der obigen Präsentation von Bühlers Konzeption (3.1) gehen wir nun auf die verschiedenen davon abweichenden Standpunkte ein. Zunächst stellen wir die von Nay und Muoth vertretenen Optionen für die Literatursprache vor, die an die surselvische Tradition anknüpfen (3.3). Anschliessend befassen wir uns mit den Reaktionen Muoths und Decurtins’ auf die bühlersche Einheitssprache (3.4). Weitere Positionen kommen in diesem und im folgenden Kapitel ergänzend zur Sprache. Nay formuliert seine Haltung prägnant in einem 1902 vor der «Società Reto- Romantscha» gehaltenen Vortrag. Er postuliert eine Literatur für das weniger gebildete Volk, für das man in erster Linie schreiben müsse, da es nur aus dem, was das Romanische biete (d. h. was auf Romanisch und nicht in anderen Sprachen geschrieben sei), einen Nutzen ziehen könne. Das Ideal besteht für ihn in einer Anpassung an den Usus dieses Publikums, was zum Verzicht auf Neubildungen und gelehrte Entlehnungen aus anderen romanischen Sprachen zwingt: Plidei e scrivi il lungatg dil pievel. Ei dat gleut, che vul adina scaffir plaids novs. Quei ei buca necessari, havent nies lungatg plaids ed expressiuns en abundonza e tgi, ch’engola plaids dil Talian e Franzos, muossa cheutras, chel sappi buca romontsch. . . . Dei pia adatg co quels tschontschan, ils quals plaiden nigins auters lungatgs; cheu anfleis vus la vera viarva, ils vers scazis romontschs 10 . (Nay 1903: 279) Muoth 1893 spricht sich ebenso wie Nay 1903 gegen gelehrte Entlehnungen aus dem Italienischen und Französischen (ausserdem auch aus dem Latein) aus, was bei ihm allerdings nicht mit der Orientierung an der Sprache eines weniger gebildeten Publikums in Zusammenhang steht. Er kritisiert im Gegenteil die mo- 9 Bei Muoth 1887 und 1893 sowie bei Nay 1903 handelt es sich um Vorträge. 10 «Sprecht und schreibt die Sprache des Volkes. Es gibt Leute, die immer neue Wörter schaffen wollen. Das ist nicht nötig, hat doch unsere Sprache Wörter und Ausdrücke in Hülle und Fülle. Wer aus dem Italienischen und Französischen Wörter stiehlt, zeigt dadurch, dass er kein Romanisch kann . . . Achtet also darauf, wie diejenigen reden, die keine anderen Sprachen sprechen; da findet ihr die wahre Sprache, die wahren romanischen Schätze.» 73 Bündnerromanische Schriftnormen dernen Autoren und die Zeitungsredaktoren, die es unterliessen, das Volk in Stil und Sprache zu erziehen (elevar e cultivar il pievel el stil ed el lungatg), und statt dessen der negativen Entwicklung des Romanischen folgten (la svilupaziun decadenta e pigiuronta dil romontsch). Den Schreibenden hält er jedoch zugute, dass sie hinsichtlich nicht eingebürgerter/ nicht angepasster Germanismen (expressiuns tudestgas non naturalisadas) gewissenhafter geworden seien. Er nennt als Beispiel «il Kunst, il Schlacht, il Verstand, il Vorsteher», Wörter, die noch mündlich, jedoch kaum mehr schriftlich verwendet würden. Während Nay die Volkssprache als Vorbild für die Schriftsprache betrachtet, als Vorbild, das keiner «Reinigung» bedarf und durch gelehrte Entlehnungen verfälscht würde, postuliert Muoth eine sich vom verbreiteten Usus abhebende Schriftsprache, die auf gewisse in diesem Usus enthaltene «Fremdelemente» (Germanismen) verzichten muss, ohne allerdings im Gegenzug gelehrte «Fremdelemente» (Latinismen, Italianismen und Gallizismen) aufnehmen zu dürfen. Dieser zweifachen Restriktion stellt Muoth zwei Möglichkeiten gegenüber, das Lexikon zu erweitern, die Neubelebung alten Wortgutes und die Wortbildung nach Verfahren, die in der Sprache angelegt sind: . . . ils auturs ein daventai pli scrupulus a rapport dell’applicaziun de expressiuns tudestgas non naturalisadas . . . Denton secontentan ils auturs perenconter cun plaids empristai dal latin, talian, franzos, enstagl de recuvrar ils buns plaids vegls romontschs ni de derivar tenor il spert de nies lungatg novs plaids 11 . (Muoth 1893: 27) Eines Kommentars bedarf Muoths Forderung, nur eingebürgerte/ angepasste Entlehnungen sollten verwendet werden. Mit dem Ausdruck expressiuns naturalisadas evoziert Muoth einerseits die Metapher der Einbürgerung, die in der Diskussion im Engadin (cf. unten) noch expliziter ist, wo man in Bezug auf das Wortgut von «Bürgern» (v[a]schins) verschiedenen Alters und von «Fremden» (esters, fulasters) spricht. Der Ausdruck naturalisau lässt sich allerdings auch als ‘(dem Umfeld) angepasst’ verstehen. In diesem Fall würde er sich speziell auf die ausdrucksseitige, phonetische und morphologische Integration beziehen, während die Metapher der Einbürgerung auch eine primär aus dem Gebrauch resultierende, auf der Ausdrucksseite nicht unbedingt «augenfällige» Aneignung meinen könnte. Dass Muoth mit «naturalisiert» auf eine Integration der Ausdrucksseite hinweist, kann man aus Passagen seiner Studis etymologics dil romonsch sursilvan (1887) schliessen. Dort ist die Rede von deutschen Verben, die mit Hilfe des Suffixes -egiar (in Muoths Zitaten häufiger -igiar geschrieben) «naturalisiert» werden: 11 « . . . die Autoren sind hinsichtlich der Verwendung nicht eingebürgerter deutscher Ausdrücke gewissenhafter geworden . . . Doch begnügen sie sich im Gegenzug mit aus dem Latein, Italienischen und Französischen entlehnten Wörtern, statt die alten guten romanischen Wörter zurückzuholen oder nach dem Geist unserer Sprache neue Wörter herzuleiten.» 74 Matthias Grünert . . . quasi tuts verbs, che derivan din tschepp tudestg ein vegni naturalisai cun icare (eare? ), sco: baghegiar, trostegiar, handligiar, maligiar, spottigiar, stroffigiar, schurmigiar etc. 12 (Muoth 1887: 11) Bei einer älteren Entlehnung (baghegiar ‘bauen’) machen auch die Veränderungen im lexikalischen Morphem den durchlaufenen Aneignungsprozess deutlich: mhd. bûwen ‘bauen’ → *[bygwi'd a] *[bygi'd a] Dissimilation von [y] - [i] zu [a] - [i]: [bagi'd a] (cf. DRG: s. baghegiar). Eine stärkere Integration liegt auch bei schwdt. schirme n ‘schützen’ → schurmigiar vor (Decurtins 2001: s. schurmegiar): Hier hat sich der Vokal der Stammsilbe verändert, und die Lexie wurde in der Gebersprache durch eine andere (schütze n ) konkurrenziert, so dass sich zwischen den beiden Sprachen eine geläufige Entsprechung mit ausdrucksseitig nicht in Verbindung stehenden Lexien (schurmigiar - schütze n ) ergeben hat. Von der präsentierten Gruppe von Verben wurden in einem weiteren Schritt Substantive abgeleitet, die aus dem blossen Verbalstamm bestehen (maligiar [mali'd a] ‘malen’, stammbetonte Formen malegel [ma'led ´ l], malegias [ma'led ´ s] etc. 13 ← maletg [ma'le t ] ‘Bild’): Baghigiar [ → ] il baghetg; handligiar [ → ] il handleg (-tg 14 ); maligiar [ → ] il maleg (-tg); schurmigiar [ → ] il schurmeg (-tg) etc. Sin questa maniera ein quests davos substantivs vegni naturalisai. Igl’emprem ei il verb tudestg vegnius romanisaus cun icare ed ord il verb ei allura il substantiv vegnius separaus. Suenter in tal process etymologic fuss ei in pauc giustificau purismus de voler deragischar quests plaids e remplazzar els tras plaids emprestai sco edifizi, negozi, pictura etc. 15 (Muoth 1887: 16) Der zweistufige Herleitungsprozess (1. male n → maligiar, 2. maligiar → maletg) scheint aus Muoths Sicht den Integrationsgrad zu erhöhen, was sich folgendermassen nachvollziehen lässt: Die zweite Bildung geht bereits von einer surselvischen Basis aus und führt zu einer Reihe von Substantiven (baghetg, handletg, ma- 12 « . . . fast alle Verben, die von einem deutschen Stamm abgeleitet sind, wurden mit -icare (-eare? ) 1 naturalisiert, so baghegiar ‘bauen’, trostegiar ‘trösten’, handligiar ‘handeln’, maligiar ‘malen’, spottigiar ‘spotten’, stroffigiar ‘strafen’, schurmigiar ‘schützen’ etc.’» - Zu berichtigen ist hier, dass -egiar/ -igiar nicht auf -icare oder -eare, sondern auf -idiare zurückgeht. 13 In der heutigen Norm mit Stammausgleich (durchweg [ed ]: malegiar, malegel, malegias) oder mit der Alternanz [i] - [ed ]: maliar - malegel, malegias. 14 tg wird als Alternative zu g zur Wiedergabe von [ t ] im Auslaut angeführt. 15 «Baghigiar ‘bauen’ → il baghetg ‘der Bau, das Gebäude’; handligiar ‘handeln’ → il handleg [-tg] ‘der Handel’; maligiar ‘malen’ → il maleg [-tg] ‘das Bild, das Gemälde’; schurmigiar ‘schützen’ → il schurmeg [-tg] ‘der Schutz’ etc. Auf diese Weise sind diese letzteren Substantive integriert worden. Zuerst wurde das deutsche Verb mit Hilfe von -icare [cf. N5] romanisiert, und vom Verb wurde dann das Substantiv abgetrennt. Nach einem solchen Herleitungsprozess [wörtlich: etymologischen Prozess] wäre es ein wenig gerechtfertigter Purismus, diese Wörter ausmerzen und sie durch entlehnte Wörter wie edifizi ‘Gebäude’, negozi ‘Handel’, pictura ‘Bild’ etc. ersetzen zu wollen.» 75 Bündnerromanische Schriftnormen letg, schurmetg), die sich durch das «Markenzeichen» -etg auszeichnen, das im Deutschen bei den entsprechenden Substantiven (Bau/ Gebäude, Handel, Bild/ Gemälde, Schutz) kein Pendant hat. Anders als bei den eben behandelten Fällen haben wir es bei den weiter oben genannten Entlehnungen «il Kunst, il Schlacht, il Verstand, il Vorsteher» (Muoth 1893: 27) und bei Entlehnungen wie aber, schon, zuar ‘zwar’ und sonder ‘sondern’, von deren Gebrauch Muoth 1888: 100s. ebenfalls abrät, mit Wortgut zu tun, das aus Muoths Sicht nicht «naturalisiert» ist. Hierbei lässt sich allerdings differenzieren. Als «nicht naturalisiert» im Sinne von «ausdrucksseitig nicht angepasst» kann man Schlacht, Vorsteher, aber und schon einstufen. Bei Kunst besteht neben der Realisierung [kun ʃ t], die der bündnerdeutschen nahe kommt, auch die Realisierung [kun ʃ ] (DRG: s. cunst), bei der eine lautliche Integration vorliegt. Ausserdem zeigt sich eine morphologische Integration bei der Pluralbildung: far cunsts ‘Künste machen, Dinge erfinden, zaubern’ (Decurtins 2001: s. cunst). Eine lautliche Integration stellt man auch bei zuar, sonder und ferstan [f ´ r' ʃ tan] ‘Verstand’ (Cahannes 1924: 221) fest. Doch offensichtlich ist bei diesen Entlehnungen der Integrationsgrad tiefer als bei den Verbalbildungen mit -egiar/ -igiar und den von diesen abgeleiteten Substantiven. Würde man «naturalisiert» nicht auf die ausdrucksseitige Integration beziehen, sondern auf die Aneignung durch den Gebrauch, müsste man auch lautlich nicht angepasste Entlehnungen wie aber, schon und kunst [kun ʃ t] als «naturalisiert» bezeichnen. Aber und schon sind gängiger als die in Muoth 1888: 101 vorgeschlagenen Alternativen mo ‘aber’, denton ‘jedoch’ bzw. gia ‘schon’, und kunst hat eine lange Präsenz in der schriftlichen Tradition (seit 1611) und tritt im DRG in mündlichen Belegen und in Sprichwörtern auf (DRG: s. cunst). Eine gemässigtere puristische Haltung gegenüber den Germanismen vertritt der Sprachwissenschaftler Huonder. Seine vor allem deskriptive Arbeit zu den älteren, stärker integrierten Germanismen (1897) beginnt er mit Ausführungen zum Mischcharakter aller Sprachen. Die Deutschsprachigen, die die Bündnerromanen manchmal neckten, «wegen gewisser deutscher Wörter, die sie in unserem Romanisch hören», macht er auf die zahlreichen lateinisch-romanischen Lehnwörter und Gallizismen in ihrer Sprache aufmerksam (Huonder 1897: 45-48). Bezüglich der Normfrage vertritt er die Auffassung, wichtiger als der Ursprung eines Wortes sei seine Funktion: Der «Wert eines Wortes» (valur d’in plaid) bestehe darin, dass es einen Inhalt wiedergebe, für das die Sprache keinen anderen gleichwertigen Ausdruck besitze. Dass sich aus seiner Sicht nicht alle Wörter, die einmal in Gebrauch sind, «rechtfertigen» lassen, verdeutlicht Huonder mit dem Zusatz, dass jeweils dasjenige Wort den relativen Vorzug verdiene, das zum allgemeinen Charakter der Sprache besser passe (Huonder 1897: 51). Damit schränkt er den Gebrauch von ausdrucksseitig nicht oder wenig integrierten Entlehnungen ein, jedoch weniger stark als Muoth, betrifft doch sein Hauptkriterium die Inhaltsseite. Nach der Wiedergabe der Stellungnahmen von Muoth und Huonder zu den Germanismen sei Muoths Stellungnahme zu den gelehrten Entlehnungen präzi- 76 Matthias Grünert siert. Diese kommen in den Studis etymologics dil romonsch sursilvan (1887) ausführlicher zur Sprache, wo sich Muoth mit Suffixbildungen befassen will, jedoch eine Inventarisierung folgender Phänomene vornimmt: - volkstümliche Suffixbildungen (produktive Verfahren): filar ‘spinnen’ → filunz/ a ‘Spinner/ in’, cuser ‘nähen’ → cusunz/ a ‘Schneider/ in’, cantar ‘singen’ → cantem ‘Singsang’, paterlar ‘schwatzen’ → paterlem ‘Geschwätz’ (Muoth 1887: 24, 22); - volkstümliche Wörter, die auf lateinische Suffixbildungen zurückgehen (z. B. mit -ellu und -aneu/ -anea): capi ‘Hut’ cappellu, tschurvi ‘Gehirn’ cerebellu, calcogn ‘Ferse’ calcaneu, montogna ‘Berg’ montanea (Muoth 1887: 20, 22); - gelehrte Entlehnungen, die für einen Sprecher des Surselvischen als Suffixbildungen transparent sind: neutralisar, christianisar, pauperisar, modernisar - artist, calvinist, papist, evangelist - pauperismus, catolicismus, sozialismus (Muoth 1887: 12, 32); - gelehrte Entlehnungen, die für einen Sprecher des Surselvischen nicht transparent sind: popular, particular, secular - patern, matern - modest, molest, honest - pazienzia, penetienzia - occasiun, illusiun, passiun (Muoth 1887: 26, 30, 31, 25, 33). Muoth spricht zwar bei einem gelehrten Suffix (-isar) von einer «Naturalisierung». Gesamthaft beklagt er jedoch die Vorherrschaft «latinisierender Formen» in der aktuellen Sprache: . . . las fuormas latinisadas han survegniu in tal surmaun, ch’ellas domineschan presentamein la productivitat. Denton schaschess ei el caracter filolog, de plitost sviluppar ils products originals, ch’ils emprestai ed il spert linguistic fuss èra cun quei d’accord; mo per saver far quei vul ei studi e scola 16 . (Muoth 1887: 37) Hier scheint ein Paradox auf: Gelehrte Elemente sind gängig, während volkstümliche Elemente aufgrund eines Fachwissens (studi e scola) gefördert werden müssten. Eine ähnliche Forderung wird, wie wir unten sehen werden, von einem Engadiner Exponenten geäussert. 16 « . . . die latinisierten Formen haben so stark Überhand genommen, dass sie gegenwärtig die Produktivität [d. h. die Erweiterung des Lexikons] beherrschen. Es läge jedoch im philologischen Charakter, eher die ursprünglichen Erzeugnisse zu entwickeln als die entlehnten, und der sprachliche Geist wäre damit auch einverstanden. Um das tun zu können, braucht es aber Erforschung und Gelehrsamkeit.» 77 Bündnerromanische Schriftnormen 3.4 Kritik an Bühlers Einheitssprache - Muoths und Decurtins’ Ausrichtung auf die gesprochene Sprache Die bühlersche Einheitssprache, deren neolateinischer Charakter sich im Laufe der Zeit verstärkte (wie wir oben in Kapitel 3.1 festgehalten haben), wurde von Kritikern als neue, fremde Sprache beurteilt. Bühler selbst gibt solche an seiner Sprache geübte Kritik wieder: Er bemerkt, diejenigen, die statt der Partikelverben «wahre romanische Verben» verwendeten, gerieten in Verdacht, dass sie kein Romanisch könnten und eine «ganz neue Sprache» (lingua rest nova) schreiben wollten (Bühler 1886b: 44). Die Charakterisierung der bühlerschen Einheitssprache als «ganz neue Sprache» referiert auch Muoth aus der Gasetta Romontscha (Muoth 1898: 337). Muoth selbst äussert folgende Kritik: . . . enstagl de se profundar en nossa litteratura e recuvrar il vegl lungatg ord cudischs e la bocca dil pievel, [ha el] entschiet a reformar il romontsch cun vegls plaids latins, cun plaids e fuormas digl Italian e Franzos. . . . Gie nel davos temps mava el en quei grau aschi lunsch, de remplazzar ils megliers plaids romontschs tras plaids empristai u fabricai dal latin . . . 17 (Muoth 1898: 339s.) Muoth trat, wie oben (p. 74s.) ausgeführt, als Befürworter einer sich vom verbreiteten Usus abhebenden Schriftsprache auf, die ausdrucksseitig nicht oder wenig integrierte Germanismen meidet und altes Wortgut und Neubildungen, die nach volkstümlichen Wortbildungsverfahren entstanden sind, verwendet. Gleichzeitig zeigte sich Muoth als Gegner gelehrter Entlehnungen. Folgende Aspekte dieser Position erscheinen im Zusammenhang mit der Kritik an Bühlers Einheitssprache wieder: die Forderung, altes Wortgut zu verwenden (recuvrar il vegl lungatg ord cudischs«die alte Sprache aus Büchern gewinnen»), und das Zurückweisen gelehrter Entlehnungen. Neu ist dagegen die Orientierung an der Volkssprache (ord la bocca dil pievel «aus dem Mund des Volkes»), die in einem gewissen Widerspruch zur anderswo befürworteten Distanzierung vom verbreiteten Usus steht. Muoth hebt nun hervor, die Schreibenden liessen sich nicht durch einen einzelnen Autor «zentralisieren», zur Einigung brauche es «ein natürliches Fundament, nicht ein künstliches, einen Dialekt mit einer Bevölkerung, die diesen spreche und von Natur aus stütze, nicht infolge eines (verordneten) Status («in fundament natiral, buc artifizial, in dialect cun ina populaziun, che plaida quel e sustegn da natira, buc en consequenza de status», Muoth 1893: 33). Der Bezug zwischen Schriftsprache und mündlichem Usus (hier sogar «Dialekt») mag verein- 17 « . . . statt sich in unsere Literatur zu vertiefen und die alte Sprache aus den Büchern und dem Mund des Volkes zu gewinnen, hat er begonnen, das Romanische mit alten lateinischen Wörtern, mit Wörtern und Formen des Italienischen und Französischen zu erneuern . . . Ja, in der letzten Zeit ging er in dieser Hinsicht so weit, dass er die besten romanischen Wörter mit entlehnten oder nach dem Latein fabrizierten Wörtern ersetzte . . . » 78 Matthias Grünert facht erscheinen. Anderswo, in den Normas ortograficas, weist Muoth darauf hin, dass eine schriftsprachliche Norm nie einen bestimmten Dialekt wiedergebe (Muoth 1888: 3s.); der Bezug zum mündlichen Usus kann jedoch mehr oder weniger eng sein, wie Muoth in einem Vergleich zwischen den beiden schriftsprachlichen Normen der Surselva, der katholischen und der protestantischen, unterstreicht. Den Vorzug gibt Muoth der katholischen Norm, weil sie der gesprochenen Sprache näher sei, während die konservativere protestantische Norm «mit der gesprochenen Sprache im Widerstreit steht» (stat en scarpanza cun la faviala plidada, Muoth 1888: 8). In dieselbe Richtung wie Muoths Einwände gegen Bühlers Einheitssprache zielt die Kritik von Caspar Decurtins, der sich 1887 in einer Rede vor dem Bündner Grossen Rat gegen den Unterricht der Einheitssprache am Lehrerseminar ausspricht. Er vertritt die Ansicht, die Einheitssprache sei den Kindern der Surselva und des Engadins «eine fremde Sprache» (in lungatg jester), und fordert den Unterricht «in der gesprochenen Sprache» (el lungatg plidau) durch zwei Lehrer, einen für das Ladin (Engadinische) und einen für das Surselvische (Decurtins 1911: 976). Die dabei vorgenommene Qualifizierung der beiden Hauptidiome Ladin und Surselvisch als «gesprochene Sprache» ergibt sich im Kontext der Auseinandersetzung: Angesichts der Abgehobenheit der Einheitssprache werden die beiden grossen regionalen Standards, infolge ihres engeren Bezuges zur gesprochenen Sprache, als «gesprochene Sprache» tout court eingestuft. 3.5 Die Vertreter des Engadins Nach der Darstellung der im rheinischen Gebiet zwischen der Mitte des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts vertretenen Standpunkte widmen wir uns, was das Engadin betrifft, hauptsächlich der nach der Jahrhundertwende einsetzenden Diskussion. Zwei in Kapitel 3.2 erwähnte Vertreter des rheinischen Gebietes, Cahannes und Tuor, berücksichtigen wir in diesem Zusammenhang, da ihre Stellungnahmen in die 1910er und ’20er Jahre fallen und sich zu der in dieser Zeit dominierenden Engadiner Diskussion in Bezug setzen lassen. Bevor wir auf die Engadiner Diskussion der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eingehen, seien zwei Standpunkte der vorhergehenden Zeit zitiert, derjenige des Dichters Conradin de Flugi (1787-1874) und derjenige des Pfarrers Peter Justius Andeer (1815-82). Ersterer unterstützt in seinem Gedicht Als Romauntschs ladins die im 19. Jahrhundert bestehende stark italianisierende Tendenz der ladinischen Schriftsprache, indem er dazu einlädt, fehlende Ausdrücke aus verwandten Sprachen zu entlehnen. Solche Entlehnungen würden zur Abgrenzung gegenüber dem Deutschen und zur «Veredelung» des Ladinischen beitragen (que chi’s distingua «was euch auszeichnet» lässt sich hier zweifach interpretieren): 79 Bündnerromanische Schriftnormen E’ls terms chi as maunchan vi e nò, Pigliels d’ün linguach chi ais parentò. . . . Tiers voss paraints il pü fazil chattais Que chi tuna, e chi’s distingua . . . 18 (Flugi 1861: 60s.) Andeer zeigt dagegen einen kritischen Ansatz gegenüber der bestehenden Norm (von der er allerdings in seiner Praxis nicht abweicht). Er spricht sich für die Auswahl des «ächt Romanischen», die Entfernung des Fremdartigen und grosse Vorsicht bei der Entlehnung aus anderen romanischen Sprachen aus. Diese Grundsätze sind Teil einer vage skizzierten Vorstellung von der Ausarbeitung zweier bündnerromanischer Schriftsprachen für die beiden Hauptgebiete, das rheinische Gebiet und das Engadin, eine Vorstellung, die sich mit selektiven Eingriffen in die bestehenden Schrifttraditionen verbindet: Nach der Art des Eklectikers, der das Beste, wo er es findet, rücksichtslos herausnimmt und zusammenträgt, sollte man auf den Ursprung zurückgehen, das ächt Romanische aufnehmen, das Fremdartige entfernen und zur Bereicherung des Sprachschatzes nur in äusserster Noth zu den übrigen roman. Sprachen seine Zuflucht nehmen, was nach angenommenen und dem Rhaeto-Roman. Genius adaequaten Grundsätzen geschehen müsste. (Andeer 1862: 104) Als Auftakt zur grossen Engadiner Diskussion um die sprachliche Norm kann der Vortrag Davart vschins e fulasters nella lingua retorumauntscha (‘Von Einheimischen und Fremden in der rätoromanischen Sprache’) angesehen werden, den Florian Melcher (1875-1913), der erste Redaktor des DRG, 1905 vor der «Società Reto-Romantscha» hielt. Sein Votum für die Wiederannäherung der Schriftsprache an die Volkssprache wurde in der Folge vor allem vom nächsten Redaktor des DRG, Chasper Pult (1869-1939), und vom Dichter Peider Lansel (1863-1943) weitergetragen und fand in einer späteren Phase auch die Unterstützung des Linguisten Robert von Planta (1864-1937). Auf der Gegenseite standen Andrea Vital (1855-1943), Anwalt, Vorsteher des Erziehungsdepartementes des Kantons Graubünden (1894-1903) und Nationalrat (1899-1920), und Florian Grand (1847- 1926), Dichter, Lehrer und in der Oberengadiner Hotellerie Tätiger. Weniger eindeutig zuordnen lässt sich Antoine Velleman (1875-1962), gebürtiger Belgier, erster Direktor des Lyceum Alpinum in Zuoz (1904-17), Autor einer Ladinischen Grammatik (1915/ 24) und eines Ladinisch-Deutsch-Französisch-Englischen Wörterbuches (1929) und Gründer und erster Direktor der Dolmetscherschule in Genf (1941-51). Velleman verteidigt zwar die sich von der Volkssprache abhebende traditionelle Schriftsprache, kritisiert aber auch deren italianisierende Tendenz. Die in unserem Zusammenhang relevanten Stellungnahmen der genannten Exponenten werden in Beiträgen in den Annalas della Società Reto-Romantscha 18 «Und die Ausdrücke, die euch da und dort fehlen, / nehmt sie aus einer Sprache die uns verwandt ist. / . . . / Bei euren Verwandten findet ihr am leichtesten, / was klingt und was euch auszeichnet . . . » 80 Matthias Grünert (Melcher 1906, Pult 1915, Vital 1916, Vital 1919, Velleman 1931), in Beitragsserien in der Zeitung Fögl d’Engiadina (Lansel 1917 und 1918, Grand 1918, Pult 1918, Planta 1927) und in weiteren Publikationen (Velleman 1912 und 1916, Planta 1931 und Pult 1941) präsentiert 19 . 3.6 Das der Volkssprache Eigene und Fremde nach Melcher, Pult, Lansel, Tuor, Cahannes und Planta Melcher hielt seinen Vortrag 1905 vor der «Società Reto-Romantscha», drei Jahre nachdem Nay vor derselben Gesellschaft ebenfalls ein Votum für die Ausrichtung auf die Volkssprache abgegeben hatte (cf. oben Kapitel 3.3). Ein direkterer Bezug ergibt sich zu einem weiteren Exponenten der Surselva: An den Anfang seines Referats stellt Melcher ein Zitat aus Muoths Studis etymologics dil romonsch sursilvan (cf. oben), in dem die Entlehnung als «völlig unkorrektes Verfahren» bezeichnet wird (Muoth 1887: 2). Wie wir gesehen haben, plädiert Nay allgemein für eine Ausrichtung auf die Volkssprache und gegen Entlehnungen aus anderen romanischen Sprachen. Muoth stellt weitergehende und differenziertere Forderungen, indem er sich einerseits gegen Entlehnungen aus anderen romanischen Sprachen und dem Latein, andererseits auch gegen «nicht naturalisierte», d. h. ausdrucksseitig nicht oder wenig integrierte Germanismen ausspricht, jedoch ältere, ausdrucksseitig stärker integrierte Germanismen zulässt. Melchers Haltung, die derjenigen von Muoth nahe steht, geht nun von einer Gesamtkonzeption aus, einer Gliederung des bündnerromanischen Wortschatzes hinsichtlich der Kriterien «eigen» und «fremd»: - Als vegls vschins (‘alteingesessene Bürger’) bezeichnet Melcher die aus dem Latein ererbten Wörter, «die von einer Generation zur anderen übergingen», «bis sie so auf natürlichem Weg in den Mund der gegenwärtigen Generation gelangten» (fin ch’els rivettan uschè sün via natürela in buocha della generaziun preschainta, Melcher 1906: 199). - Unter giuvens vschins (‘Jungbürger’) versteht er einerseits gelehrte Entlehnungen, die - zu einem grossen Teil infolge des Gebrauchs im kirchlichen und rechtlichen Bereich - «im Laufe der Zeit volkstümlich geworden sind» (sun cun l’ir del temp dvantos populers): religiun, urazchun ‘Gebet’, credentscha, grazcha, adulteri, evangeli, güdizi, vizi, reginam, apostel, aungel, diavel, satan, famiglia, vouta ‘Mal’, crucificher, santificher (Melcher 1906: 198, 212). Andererseits ordnet er dieser Kategorie auch die älteren, ausdrucksseitig stärker integrierten Germanismen zu: Germanismen, die das Bündnerromanische mit anderen romanischen Sprachen teilt, wie guerra ‘Krieg’, guisa ‘Weise’, rich [ri t ] ‘reich’ oder 19 Bei Melcher 1906, Pult 1915, Vital 1916 und Velleman 1912, 1916 und 1931 handelt es sich um Vorträge. 81 Bündnerromanische Schriftnormen guadagner ‘gewinnen’ und für das Bündnerromanische bzw. Engadinische charakteristische Germanismen wie bod ‘bald, früh, fast’, god ‘Wald’, glieud ‘Leute’, buonder ‘Neugier’ (cf. dazu oben p. 69), giavüscher ‘wünschen’, biager ‘düngen’, nüzager ‘nützen’, schinager ‘schonen’, as varsager ‘verzagen’ 20 u. a. (Melcher 1906: 198). - Weitere gelehrte Entlehnungen aus dem Latein und aus dem Italienischen fasst er in der Kategorie der esters oder fulasters (‘Fremde’) zusammen: altercaziun, consideraziun, refutaziun, transacziun, consuetudine, solitudine, appoggio, capo, medio-evo, penso ‘Pensum’, capricorn, cittadin, sponsel, efficace, feroce, rapace, nociv, pernizius, prematur, propizi, vicendevol, concernent, anteceder, appogger, rotuler (Melcher 1906: 198s.). Bemerkenswert ist, dass sich unter den zitierten «Jungbürgern» lateinischer Herkunft auch solche finden, die ausdrucksseitig nicht stärker integriert sind als die «fremd gebliebenen» Latinismen: religiun, evangeli, adulteri, vizi oder reginam geben sich rein lautlich nicht als «Jungbürger» zu erkennen. Dies steht nicht im Widerspruch zur oben angeführten Definition, nach der diese Entlehnungen «im Laufe der Zeit volkstümlich geworden sind»: Ein bestimmter Grad der ausdrucksseitigen Integration scheint nicht zwingend zu sein. Melcher hält allerdings an einer anderen Stelle fest, die Wörter der zweiten Kategorie hätten sich denjenigen der ersten angepasst (as haun assimilos) und seien kaum oder nur mit Mühe von diesen zu unterscheiden (Melcher 1906: 198). Der Widerspruch lässt sich beheben, wenn man die stärkere ausdrucksseitige Integration als häufiges, jedoch nicht zwingendes Merkmal der «Jungbürger» lateinischer Herkunft ansieht. In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass Melcher in einer Reihe von Fällen Volkstümliches und Gelehrtes gerade ausschliesslich aufgrund der Ausdrucksseite unterscheidet, ohne das Kriterium des Gebrauchs zu berücksichtigen: Das «phonetisch Volkstümliche» hält er für besser, wobei er z. T. eingesteht, dass es verdrängt wird oder bereits obsolet geworden ist, und das «phonetisch Gelehrte» betrachtet er als «der Volkssprache fremd», auch wenn es inzwischen gängig geworden ist. Geläufigen Wörtern wie penser ( ← it. pensare), debel ( ← it. debole), quiet ( ← it. quieto) und genituors ( ← it. genitori) stellt er weniger geläufige, aber ihrer lautlichen Gestalt nach volkstümliche gegenüber: s’impisser (neben penser noch gebräuchlich), flaivel, quaid und padernuors (die beiden letzteren gehören einem gehobenen Register an) [Melcher 1906: 202s., 208, 210]. In verschiedenen Fällen bestehen semantische Spezialisierungen, so dass ein Ersatz auch aus diesem Grund problematisch wäre. So steht volkstümlich entwickeltem stender ‘ausdehnen, ausweiten’, «dessen semantischer Schwerpunkt im Konkreten, Physischen liegt», gelehrtes extender mit dem Bedeutungs- 20 Die Verben mit dem Suffix -ager entsprechen formal den oben aus Muoth 1887 zitierten surselvischen Verben auf -egiar. Biager ‘düngen’ hat dieselbe Herkunft wie surs. baghegiar ‘bauen’ (cf. oben p. 74). 82 Matthias Grünert schwerpunkt im abstrakten Bereich gegenüber (DRG: s. extender; Melcher 1906: 205). Bemerkenswert ist auch, dass Melcher der Kategorie der «Fremden» nur Entlehnungen aus dem Latein und aus romanischen Sprachen zuordnet, nicht jedoch ausdrucksseitig nicht integrierte Germanismen. Solche Entlehnungen weist Melcher erst in einer ergänzenden Ausführung zurück, wobei er nur einen Typ erwähnt, die Verwendung des deutschen Infinitivs mit romanischem fer ‘machen’ zur Bezeichnung einer Handlung: fer l’abfahren, fer l’aufbegehren (Melcher 1906: 215). Dagegen betont er die Akzeptanz der älteren, stark integrierten Germanismen, die auf «natürlichem Weg», «im direkten Kontakt zwischen Deutschsprachigen und Romanen» Eingang ins Romanische gefunden haben (sün via natürela directa, nel direct cuntact da tudascs e rumauntschs, sun els entros in nossa lingua, Melcher 1906: 213). Die «Jungbürger» germanischer Herkunft sind somit willkommener als die «fremd gebliebenen» Latinismen und Italianismen: Ils pleds tudascs nun ruinan il caracter da nos linguach lönch bricha taunt cu ils oters manzunos e que pervia cha lo avains nus ün process natürel, co ün artifiziel, e cunter quel ais mincha lingua vivainta. Lo avains nus per granda part pleds e fraseologia ch’ün nun po bain rimplazzer tres materiel latin-rumauntsch, sch’ün voul esser inclet dal pövel, co per granda part pleds e fuormas ch’ün our dal istess motiv sto s-chivir pü pussibel 21 . (Melcher 1906: 215) Diese Haltung führt auch zu einer grösseren Toleranz gegenüber dem neueren Einfluss des Deutschen auf die Volkssprache. So übt Melcher gegenüber den Partikelverben, die Bühler besonders bekämpfte, grosse Nachsicht. Er verweist auf den entsprechenden Typ im Italienischen (tirar su, tirar giù, tirar fuori, andar via, andar su, prender giu, Melcher 1906: 215) und spricht sich gegen den Ersatz durch gelehrte Entlehnungen aus. Lansel und Pult, die Melchers Postulat der Annäherung der Schriftsprache an die Volkssprache weitervertreten, sind besonders bestrebt, die Autonomie des Bündnerromanischen gegenüber dem Italienischen hervorzuheben. Dieser Aspekt wurde zentral, nachdem der in Mailand lehrende Tessiner Sprachwissenschaftler Carlo Salvioni (cf. Lansel 1913: 1) und der in Bologna lehrende Sprachwissenschaftler Giorgio del Vecchio (cf. Lansel 1913: 11) die Ansicht geäussert hatten, die Bündnerromanen müssten das Italienische als Kultursprache annehmen, um der fortschreitenden Germanisierung entgegentreten zu können. Auf die Stellungnahmen, die diesen Vorschlag als unangebracht und inpraktikabel zurückwiesen (Tuor 1912, Lansel 1913 und weitere, cf. dazu Derungs-Brücker 1980: 51, 56s. und Liver 21 «Die deutschen Wörter ruinieren den Charakter unserer Sprache längst nicht so stark wie die anderen erwähnten, und das, weil wir im ersten Fall einen natürlichen Prozess haben, im zweiten einen künstlichen, und gegen den ist jede lebendige Sprache. Im ersten Fall haben wir grösstenteils Wörter und Phraseologie, die man nicht gut durch lateinisch-romanisches Material ersetzen kann, wenn man vom Volk verstanden werden will, im zweiten Fall grösstenteils Wörter und Formen, die man aus demselben Grund so weit wie möglich meiden muss.» 83 Bündnerromanische Schriftnormen 1999: 17), können wir hier nicht eingehen. Wir konzentrieren uns auf die Stellungnahmen zur Abgrenzung gegenüber dem Italienischen in der Diskussion zur bündnerromanischen Norm. Lansel beklagt,dass gerade normativeWerke wie PallioppisWörterbuch (1895) - aus dem Salvioni Wörter wie scarafaggio, scopo, spago und capace zitieren konnte (Lansel 1917/ 46: 1) - und ein Schulbuch für das 7. und 8. Schuljahr von 1901 (Lansel 1918/ 58: 2) die Ausrichtung auf das Italienische untermauerten und somit zur Vermittlung eines falschen Bildes vom Charakter des Ladinischen beitrugen: Constructurs de capacitads fich differentas e da fich diversas tendenzas, han lavurà vi da quist linguach litterari; il qual sco minch’otra lingua litteraria, strozcha cun sai üna muschna da material linguistic doct, cha la lingua viva nun cognoscha brich. Uschea cha Salvioni dà ün’ idea totafat sfigürada del romansch, sch’el jüdichescha quel segond il diziunari Pallioppi . . . 22 (Lansel 1917/ 46: 1) Pult bedauert in der ladinischen Schriftsprache den Verlust charakteristischen Wortgutes, das das Bündnerromanische von den anderen neolateinischen Sprachen - gemeint ist vor allem das Italienische - abhebe und ihm so seine Existenzberechtigung gebe. Wenn die aus Pults Sicht bedauernswerte Entwicklung einerseits zu einem «ungenügenden» Abstand «nach aussen», zum Italienischen führte, hatte sie andererseits einen «zu grossen» Abstand «im Innern», zwischen dem Engadinischen und dem Surselvischen zur Folge: Chi mâ in Engiadina scriva amò hoz in dì inmincha, adüna, cuaida? Quai para cha be ils pleds pürs italians: ogni, saimper, vöglia etc. sian degns da nossa penna. Epür immincha, adüna, cuaida e blers oters da quaists vegls e buns vaschins cha la giuvna generaziun supergiusa non s’avöra da salüdar, as chattan dalla fontana del Rhein infin a Martina. Üna buna parta da la cuolpa per la distanza chi separa l’engiadinais dal surselvan portan nos docts scritturs d’Engiadina 23 . (Pult 1915: 182) Weitere von Pult kritisierte Ersetzungen in der ladinischen Schriftsprache sind z. B. dopo für davo ‘nach’, chapir ( ← it. capire) für incleier ( intellegere) ‘verstehen’ (Pult 1915: 182), contadin ( ← it. contadino) für paur ‘Bauer’ (Pult 1915: 185), nepotin ( ← it. nipotino) für abiadi ( aviaticu) ‘Enkel’, testimoni ( ← it. 22 «Bauleute mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten und sehr unterschiedlichen Ausrichtungen haben an dieser Literatursprache gearbeitet, die, wie jede andere Literatursprache, einen Haufen gelehrtes Material mit sich schleppt, das die lebendige Sprache nicht kennt. So vermittelt also Salvioni ein ganz verzerrtes Bild vom Romanischen, wenn er dieses aufgrund des Wörterbuchs von Pallioppi beurteilt . . . » 23 «Wer schreibt denn im Engadin heutzutage noch inmincha [‘jede/ r’], adüna [‘immer’], cuaida [‘Lust’]? Es scheint, dass nur die reinen italienischen Wörter ogni, saimper, vöglia usw. unserer Feder würdig seien. Doch finden sich immincha, adüna, cuaida und viele andere dieser alten und guten Bürger, die die junge überhebliche Generation in ihrer Herablassung übergeht, von der Quelle des Rheins bis nach Martina. Einen guten Teil der Schuld für den Abstand, den das Engadinische vom Surselvischen trennt, tragen unsere gelehrten Schriftsteller des Engadins.» 84 Matthias Grünert testimone) für perdütta ( [persona] producta, HWR: s. perdetga) ‘Zeuge’, abitudine für adüs (Abl. von adüsar ‘gewöhnen’ ad + usare) ‘Gewohnheit’, abbastanza für avuonda ( abunde) ‘genug’ (Pult 1915: 192) oder nel/ nella für i’l/ illa ( in illu/ illa), aint il/ illa ( intu illu/ illa) ‘im/ in der’ (Pult 1918: 9). Pult bedauert auch, dass einheimisch entwickeltes Wortgut durch Italianismen und Internationalismen - nicht nur schriftsprachlich - verdrängt worden sei: So sei drettüra ‘Gericht’ ( ← dret ‘recht’ directu + -üra -ura) vor tribunal zurückgewichen, mas-chalch ( germ. marahskalk ‘Pferdeknecht’, HWR: s. v.) ‘Weibel, Gemeindebote’ vor mess ( ← it. messo) und abolt ( dt. Anwalt) ‘Inhaber eines Gemeindeamtes’ vor impiegà ( ← it. impiegato) und chef (Pult 1915: 185). Während in der Folge viele Italianismen durch die Neuausrichtung der ladinischen Schriftsprache aufgegeben wurden (ogni, dopo, contadin, nepotin, abitudine, abbastanza), liessen sich andere, die bereits Gemeingut waren, nicht mehr ersetzen (tribunal, impiegà). Einige, zu denen noch volkstümliche Alternativen in Gebrauch waren, wurden zurückgedrängt (chapir durch incleger, testimoni durch perdütta). In gewissen Fällen geht Pult bei der Bestimmung des italienischen Einflusses zu weit: So ist das im obigen Zitat genannte vöglia volkstümlich entwickelt ( *volea, HWR: s. veglia), wird aber, weil es italienischem voglia ausdrucksseitig nahe steht, als Italianismus eingestuft. Dass der prinzipielle Ersatz von Italianismen durch volkstümliches Wortgut nicht praktikabel ist, vermerkt Pult später, in Meis testamaint, wo er anerkennt, dass man bei einem solchen Vorgehen «von einer Künstlichkeit in die andere fallen und einen Teufel mit dem anderen austreiben» würde (Pult 1941: 39). Bei der Entwicklung von Terminologien für neu zu erschliessende Bereiche («Technik, Wissenschaft, Rechnungswesen, Sport und viele andere Dinge») begrüsst Pult das Vorbild anderer romanischer Sprachen, da man sonst so viel deutsches Wortgut aufnehmen müsste, dass «unser armes Idiom stark bastardiert würde» (nos pover idiom gniss ferm imbastardi, Pult 1941: 5). Diesen Standpunkt hatten die beiden Surselver Tuor und Cahannes bereits früher (1912) vertreten. Tuor wies in seinem Beitrag Nus Romontschs ed il Talian («Wir Romanen und das Italienische») vor allem Salvionis Vorschlag, das Italienische sollte in Romanischbünden als Kultursprache verwendet werden, zurück, betonte aber andererseits die Nützlichkeit der «romanischen Schwestersprachen, vor allem des Italienischen und Französischen» für die Schaffung neuer Ausdrücke für die Bereiche «Eisenbahn, Elektrizität, moderne Einrichtungen und Handwerkstätigkeiten» (Tuor 1912: 349). Cahannes veranschaulichte dies (in einer Briefserie an einen Lehrer) mit folgendem Beispiel: Nus possedein stupentas staziuns en Surselva ne, sche Ti vul, garas, e nus selegrein, ch’il tren arriva sin solidas rodaias tochen sisum la vallada. Mo bahnhof e schinas e zug surschein nus als Tudestguns 24 . (Cahannes 1912: 81) 24 «Wir besitzen wunderbare staziuns [‘Bahnhöfe’, ← it. stazioni] in der Surselva oder, wenn Du willst, garas [ ← fr. gares] und freuen uns, dass der tren [‘Zug’, ← it. treno] auf festen rodaias 85 Bündnerromanische Schriftnormen Im Unterschied zu Melcher, der nur von schriftsprachlichen, der Volkssprache fremden Italianismen spricht, geht Pult auch auf den Einfluss des Italienischen auf die Umgangssprache ein. Einerseits erwähnt er die mit dem Italienischen interferierende Sprache der Auswanderer, die aus Italien zurückkehren: Diese verwendeten z. B. medesim statt medem ‘derselbe’, sentir statt udir ‘hören’/ tadlar ‘zuhören’, prüma statt avant ‘vorher’, il dulur statt la dulur, duos ans fa statt avant duos ans ‘vor zwei Jahren’, fin da quel di statt daspö quel di ‘seit jenem Tag’ oder ir via statt ir davent ‘weggehen’. Bedauernswert ist für Pult, dass die Daheimgebliebenen solche Fehler für Tugenden hielten und sie nachahmten. Andererseits erwähnt Pult auch Ausdrücke, die italienische Arbeitskräfte ins Engadin gebracht haben: tubo für büschen ‘Rohr’, scarpada für röven ‘Böschung’ oder gerra (lombardisch) für glera ‘Kieselsteine’ (Pult 1941: 25). Nicht nur die Italianismen, sondern auch die Germanismen werden bei Pult umfassender dargestellt als bei Melcher. Während sich Melcher vor allem mit den älteren, stärker integrierten Germanismen befasst, wendet Pult seine Aufmerksamkeit auch den für die aktuelle, gesprochene Sprache charakteristischen Germanismen zu: Im Alltag sei man konfrontiert mit zug, bahnhof, vartsal, mit väsch für altschiva, vaschkuha für chadafö suot, hütta für tea oder mezcha für bacharia (Pult 1941: 27). Besonders gross ist der Druck des Deutschen im technischen Bereich und in der Arbeitswelt: Man höre von Sicherungas, Anschluss und Strom, und von einem Schreiner vernehme man: «Ossa naja miss ad ir questa maschina chi’m fa al nuotan, chi’m fa al stemmen ed al kehlen» (‘Jetzt habe ich diese Maschine in Betrieb genommen, die mir das Nuten, Stemmen und Kehlen besorgt’, Pult 1915: 191). Später, in Meis testamaint, scheint Pult gegenüber Fremdeinschaltungen im technischen Bereich und in der Arbeitswelt toleranter zu sein, auch wenn er sich, wie wir oben gesehen haben, für die Entwicklung von Terminologien in Anlehnung ans Italienische und Französische ausspricht. Er meint, wenn ein Handwerker oder ein Autofahrer nicht umhin könne, einige deutsche Wörter in seine Rede einzusetzen, sei das längst nicht so schlimm, wie viele glaubten, solche Ausdrücke seien Ausnahmen im Redekontext (Pult 1941: 6). Ebenfalls Nachsicht übt Pult gegenüber den Partikelverben; deren Substitution durch gelehrte Verben weist er, ebenso wie Melcher, strikte zurück (Pult 1941: 29). Störend findet Pult dagegen Interferenzen in der Syntax und beim Gebrauch der Präpositionen: vess el guadagnà dimena tschient francs, schi . . .(«hätte er also hundert Franken verdient, dann . . . »); co gugent ‘wie gerne’/ co bel ‘wie schön’ statt quant gugent/ che bel; our da quaist motiv ‘aus diesem Grund’ statt per quaist motiv (Pult 1941: 28). Zwei Aspekte, die bei Pult und Lansel eine wichtige Rolle spielen, sind die Ausrichtung der Graphie auf die volkstümliche Phonetik und die morphologische Integration von Entlehnungen. Pult bekämpft von Pallioppi (1857: 64-80) nach italienischem Vorbild festgelegte Geminaten (obbain, avvis, Pult 1915: 159) sowie [‘Schienen’, ← it. rotaie] bis zuoberst ins Tal gelangt. Aber bahnhof und schinas und zug überlassen wir den Deutschhörigen.» 86 Matthias Grünert verschiedene von Pallioppi (1857: 10-12), besonders aber auch von der Unterengadiner Praxis sanktionierte Schreibungen von o in unbetonter Silbe, wo tatsächlich [u] gesprochen wird (cf. dazu Grünert 2003: 24-28). Während Pallioppi für das Oberengadinische nun ‘nicht’ und cun ‘mit’, jedoch con-/ comals Präfix vorschreibt, auch in volkstümlichen Wörtern (confin ‘Grenze’, comparair ‘erscheinen’), in denen [u] gesprochen wird (Pallioppi 1857: 9s., 59), war die gängige Unterengadiner Praxis non, con und con-/ com-. Bei den Verben mit uo und ou im betonten Stamm sieht Pallioppi für das Oberengadinische im unbetonten Stamm u vor (tuorn - turner, mour - murir); bei den Verben mit o im betonten Stamm soll dagegen auch im unbetonten Stamm o stehen (dorm - dormir, Pallioppi 1857: 10s.), obschon hier ebenfalls [u] gesprochen wird. Die Unterengadiner Praxis zeigte in diesem Fall eine - auf der Aussprache basierende - Tendenz zum Stammausgleich: tuorn - tuornar, mour [m ɔ r] - morir und dorm - dormir (Pult 1918: 6). Pult kritisiert nun vor allem die italianisierenden Graphien non und con. Er weist darauf hin, dass die Volkssprache vor Konsonant nu und vor Vokal nun verwende und nur cun und cum kenne (Pult 1918: 7), womit er ausser der Präposition auch das Präfix (cun-/ cum-) einzuschliessen scheint, was er auch mit seiner Praxis nahe legt (cumplettamaing ‘völlig’, cuntaint ‘zufrieden’). Weiter bemängelt er romantsch (statt rumantsch) und gewisse endbetonte Verbformen wie formar, formain. Im letzteren Fall wäre «historisch» (nach alten literarischen Belegen) furmar, furmain gerechtfertigt, nach der Phonetik des Unterengadins, wo der oben erwähnte Stammausgleich stattgefunden hat, fuormar, fuormain (Pult 1918: 6). Während sich Pult um orthographische Lösungen für das Unterengadin insgesamt bemüht, propagiert Lansel die spontane Wiedergabe gesprochener Varietäten. Ebenso akzeptabel wie z. B. die Formen des Standards chod ‘warm’, ôt ‘hoch’ sind für ihn die dialektalen Alternativen chaud, aut und châd, ât. «Unnachgiebigkeit» ist für ihn nur gegenüber Wörtern und Formen angebracht, «die nichts Romanisches an sich haben» (Lansel 1918/ 56: 1). Was die Morphologie betrifft, weist Pult auf -o endende maskuline Substantive und auf -e endende Adjektive zurück: fondo ‘Fonds’, piano ‘Plan’, coro ‘Chor’ und scopo ‘Zweck’ seien durch fond, plan, cor und mera/ fin e mera zu ersetzen (Pult 1918: 5 und 1941: 18), und anstelle der nach italienischem Vorbild maskulin und feminin verwendeten Adjektivform rapace seien die in der gesprochenen Sprache anzutreffenden Formen rapazi (mask.) und rapaza (fem.) zu gebrauchen (Pult 1918: 3), die Pallioppi ausdrücklich zurückgewiesen hatte (cf. Pallioppi 1857: 7). Das aus dem Italienischen entlehnte Suffix -ismo ersetzt Lansel durch -ism, Pult durch -isem [iz ´ m] (Pult 1918: 4 und 1941: 18), in Analogie zu volkstümlich entwickeltem catechisem und reumatisem. Abschliessend sei auf den Surselver Cahannes verwiesen, der in seinen an einen Lehrer gerichteten «Briefen von Crestault» (1912 und 1913) und in seiner Grammatik (1924) Empfehlungen zum «echt» romanischen Sprachgebrauch gibt. Insgesamt ist Cahannes dem gelehrten italianisierenden und latinisierenden Einfluss weniger abgeneigt als seine Engadiner Zeitgenossen, grenzt sich jedoch deutlicher 87 Bündnerromanische Schriftnormen gegen das Deutsche ab. Wie wir bereits gesehen haben, heisst er Entlehnungen aus dem Italienischen und Französischen für Bereiche des modernen Lebens gut, Entlehnungen, dank derer man Germanismen meiden kann. Besondere Aufmerksamkeit wendet er in den «Briefen von Crestault» der mit dem Deutschen interferierenden Syntax und Semantik zu: Er bemängelt Voranstellungen des Adjektivs (curtgins cun fritgeivla pumera e cun madira puma ‘Gärten mit ergiebigen Obstbäumen und mit reifem Obst’, Cahannes 1912: 83), Abfolgen von Konstituenten der Verbalphrase (Tgei legria, cura che jeu savevel ir cun ils auters camerats a scursaletar! ‘Welche Freude, als ich mit den anderen Kameraden Schlitten fahren gehen konnte! ’ statt savevel ir a scursaletar cun ils auters camerats, Cahannes 1913: 176), die Verwendung des Imperfekts anstelle des Perfekts für abgeschlossene Handlungen in der Erzählung (Suenter miezdi entscheveva ei a neiver ed a cufflar ‘Nach dem Mittag begann es zu schneien und zu stöbern’, Cahannes 1912: 77) sowie falsche Eins-zu-eins-Zuordnungen (durchweg giugar für ‘spielen’, während es heissen müsste ils affonts fan termagls ‘die Kinder spielen’, dar hartas ‘Karten spielen’ und sunar gegia ‘Geige spielen’, Cahannes 1913: 176). In der Grammatik (1924) zeigt sich Cahannes in seiner Kritik der Germanismen etwas gemässigter, was man wohl auf die Rezeption der Engadiner Diskussion der 1910er Jahre zurückführen darf. Für die Partikelverben schlägt er zwar Substitutionen vor, empfiehlt diese jedoch für die «gewähltere Sprache» (lungatg pli elegiu), während er «vor allem für die volkstümliche Rede» (cunzun pella tschontscha populara), wo die Partikelverben «so gute Wurzeln geschlagen haben», «ein wenig Freiheit» geben will (Cahannes 1924: 180). In den «Briefen von Crestault» wollte er die Germanismen aber und zvar noch «aus unserer Sprache verbannen» (Cahannes 1913: 184), in der Grammatik akzeptiert er nun «in der etwas romanisierten Form» (ella forma empau romontschada, Cahannes 1924: 179) aver und zuar und ergänzt zwei weitere verbreitete Germanismen, sunder ‘sondern’ und schon. In Cahannes’ Darstellung der Komponenten des Wortschatzes sowie in seinen Empfehlungen zum Gebrauch zeigt sich deutlich die Rezeption der Engadiner Diskussion und des Standpunktes von Muoth. Im Wortschatz gelten die Erbwörter als «erste Bürger» (emprems vischins), alte, gut integrierte Germanismen als «zweite Bürger» (secunds vischins) und gelehrte Entlehnungen, die durch «Kirche, Schule, Recht,Verwaltung etc.» verbreitet wurden (z. B. grazia, gloria, sanctificar, familia 25 , habitar, administrar, constituziun), als «dritte Bürger» (tiarzs vischins). «Fremdwörter» (plaids jasters) sind dagegen nach Cahannes «gelehrt gebliebene» Wörter wie velociped, electricitad, tualetta, lavor ‘Waschschüssel’, gara ‘Bahnhof’, servietta, dimora ‘Aufenthalt’, tram, ski, alcohol (Cahannes 1924: 218-20). Gebrauchen sollte man in erster Linie die Erbwörter und die alten Germanismen. Weiter sollte man sich bemühen, «unsere guten Wörter, die in der alten Literatur oder als Regiona- 25 Sowohl familia [fa'milj ɐ ] als auch das in der heutigen Norm alleine bestehende famiglia [fa'mi λɐ ] sind latinisierend. Volkstümlich entwickelt ist fumeglia ‘Dienerschaft, Hausgesinde, Alpknechte’ familia (cf. DRG). 88 Matthias Grünert lismen in einzelnen Gebieten oder im einen oder anderen abgeschiedenen Dorf vorhanden sind, hervorzuholen», Wortzusammensetzungen und -ableitungen zu bilden und bestehende Wörter übertragen zu verwenden. Erst danach sollte man gelehrte Entlehnungen heranziehen und erst in einem weiteren Schritt eigentliche «Fremdwörter». Ganz zu meiden sind schliesslich nach Cahannes «rein deutsche Wörter» (zug, lerer, schulmeister, strof ‘Strafe’ u. a., Cahannes 1924: 220-24). Die in der Engadiner Diskussion entwickelten Differenzierungen haben bei Cahannes einen Höhepunkt der Systematisierung erreicht. Hierbei zeigt sich, wie sehr das Eintreten für das Volkstümliche ein Fachwissen voraussetzt, das wenigen vorbehalten ist (cf. bereits oben p. 76). Dahingehend äussert sich auch Planta im Hinblick auf die bevorstehende Herausgabe des surselvischen (R. Vieli) und des ladinischen Wörterbuches (R. R. Bezzola/ R. O. Tönjachen): Hier gilt es, den richtigen Mittelweg zu finden zwischen der Bekämpfung des Unschönen, Unangepassten, Schädlichen und dem Geltenlassen alteinheimischen Fremdgutes, das ja in allen Sprachen eine große Rolle spielt. Für diese Unterscheidung bedarf es feiner sprachlicher Schulung, wie sie den eben genannten Verfassern [R. Vieli, R. R. Bezzola und R. O. Tönjachen] eignet - dem einfachen Manne aus dem Volke gelingt die Unterscheidung nur höchst unvollkommen, ja sogar bei Hochgebildeten, Hochbegabten wie beim Dichter J. C. Muoth, finden sich Satzbildungen völlig deutscher-papierner Struktur, und im Engadin galten vor nicht langem noch die krassesten Italianismen als «vornehme» Sprache. (Planta 1931: 79) 3.7 Schriftsprache vs. Dialekte nach Vital, Grand und Velleman Als Hauptverteidiger der traditionellen schriftsprachlichen Norm des Engadinischen tritt Vital hervor. Der Begriff der Volkssprache, der von Melcher, Pult und Lansel verwendet wird, ist ihm fremd, für ihn lassen sich der Schriftsprache nur Lokaldialekte gegenüberstellen, denen man sich unweigerlich zuwendet, wenn man die Schriftsprache der gesprochenen Sprache annähern will (Vital 1919: 198s.). Grand, der dieselbe Position vertritt, postuliert eine sich «parallel zur Volkssprache» entwickelnde Literatursprache: Vulains üna lingua literaria, chi as sviluppescha parallelmaing colla populera, sainza rafüder l’alimaint proveniaint da quaist’ultima, e vain incletta generelmaing, u volains minchün scriver nel dialect da sia vschinauncha, inclet inandret be infra ils confins da medemma 26 ? (Grand 1918/ 19: 1) Vital und Grand nehmen Eigen und Fremd grundsätzlich anders wahr als Melcher, Pult und Lansel: Aus Grands Sicht sind die Italianismen «aus derselben Quelle zu- 26 «Wollen wir eine Literatursprache, die sich parallel zur Volkssprache entwickelt, ohne die von letzterer ausgehende Nahrung zurückzuweisen, und allgemein verstanden wird, oder wollen wir ein jeder im Dialekt seiner Gemeinde schreiben, der nur innerhalb dieser richtig verstanden wird? » 89 Bündnerromanische Schriftnormen geflossen wie das übrige sprachliche Material» (Grand 1918/ 19: 1); und Vital wirft die Frage auf, wieso man Wörter, die aus der italienischen Sprache, «der nächsten Verwandten» (la plü struscha parainta), stammten, als fremd empfinden sollte (Vital 1919: 218). Um die Integriertheit gewisser Italianismen zu unterstreichen, nimmt Vital auch die Haltung des kaum Italienischkundigen an, für den Wörter wie ogni, ogniün, ognitant, saimper, stalla, sentir oder debel «gute romanische Wörter» seien, anders als für Lansel und Pult, die zuerst Italienisch und erst dann Romanisch gelernt hätten (Vital 1919: 218)! Bezeichnenderweise weist Vital andererseits die Partikelverben, die man «nur verstehe, weil man gleichzeitig an den deutschen Ausdruck denke», strikte zurück und befürwortet deren Ersatz durch gelehrte Verben (Vital 1919: 220s.). Bemerkenswert ist, dass die beiden Gegner der volkssprachlichen Ausrichtung in zwei Fällen zur Annäherung an die Volkssprache beigetragen haben. Vital kritisiert die Vorschläge von Lansel und Pult für den Ersatz des Suffixes -ismo: Weder -ism noch -isem [iz ´ m] seien volkstümlich; in den beiden volkstümlich entwickelten Wörtern, rumatissem und catechissem, werde nicht [z], sondern [s] gesprochen, weshalb man -issem schreiben müsste (Vital 1919: 219s.). Diese Lösung setzte sich schliesslich durch. Andererseits stellt Grand fest, Lansels und Pults Verwendung des Auxiliars esser in den zusammengesetzten Formen der reflexiven Verben sei ein Italianismus, im Engadinischen verwende man avair (Grand 1918/ 30: 1). Pult, der ursprünglich die Ansicht vertrat, die Verwendung von avair sei ein Germanismus (eu m’ HA lavà wie ich HABE mich gewaschen, im Gegensatz zu mi SONO lavato, Pult 1918: 190), propagierte schliesslich auch die Verwendung von avair (Pult 1918: 1). Velleman interpretiert die Ausrichtung auf die Volkssprache zunächst, ebenso wie Vital und Grand, als «Hinwendung zum Dialekt». Dieses Interesse kann aus seiner Sicht zur minuziösen Bestandesaufnahme der verschiedenen gesprochenen Varietäten führen, wie sie Gartner in seiner Raetoromanischen Grammatik (1883) vorgenommen hat, nicht jedoch zur Normierung der Sprache, wie sie für die praktischen Zwecke der Schule notwendig ist (Velleman 1912: 26). Ausserdem ist die «Sprache der Bauern» für Velleman zu eingeschränkt, um als Vorbild für die Schriftsprache dienen zu können. Für seine ladinische Grammatik (1915/ 1924) stützte er sich ausdrücklich auf den gehobenen Usus, wie er ihn, ausser in der Literatur und in Gebrauchstexten, an den Versammlungen der Societed da Lectura von Zuoz und der Sprachorganisation Uniun dels Grischs, in Predigten (Velleman 1912: 24) sowie in eigens bestellten fachsprachlichen Texten antraf (er bat z. B. einen Arzt um einen Aufsatz über Krankheiten, einen Ingenieur um einen Aufsatz über elektrotechnische Einrichtungen, Velleman 1912: 29). Ein prinzipieller Verzicht auf gelehrte Elemente würde bei dieser Ausrichtung eine Verminderung der Ausdrucksmöglichkeiten mit sich bringen. Velleman differenziert allerdings zwischen Internationalismen und Italianismen, für die es keine einheimischen Alternativen gibt (analisa, kilometer, monarchia constituziunela, assemblea federela, laboratori chimic, mecanismo, aeroplan, automobil u. a., Velleman 1912: 27s.; lati- 90 Matthias Grünert tudine, longitudine, Velleman 1912: 31), und Italianismen, die man besser ersetzen würde. Letztere erwähnt er auch im ersten Band seiner Grammatik: «per bitume: asfalt (pievla [‘Pech’]); per consuetudine: adüs [‘Gewohnheit’]; per gratitudine: arcuntschentscha (recognuschentscha) [‘Dankbarkeit’]» u. a. (Velleman 1915: 47). Eine noch kritischere Haltung gegenüber den Italianismen nimmt er im zweiten Band seiner Grammatik ein, wo er in ausführlichen Listen italianisiertem (und latinisiertem) Ladin volkstümliches Ladin gegenüberstellt, wobei letzteres etliche Archaismen einschliesst (Velleman 1924: 681-94). Im 1930 vor der «Società Retorumantscha» gehaltenen Vortrag bekennt sich Velleman deutlich zur «volkssprachlichen» Ausrichtung. Er vertritt die Ansicht, die Germanismen verliehen dem Bündnerromanisch seinen spezifischen Charakter. Dabei erwähnt er entlehnte Wörter, darunter auch lautlich nicht oder kaum integrierte wie grob, gsel, kerli, oder, schluc, Partikelverben, verschiedene Wort-für- Wort-Übertragungen (che per ün tiran est tü ‘was für ein Gewaltmensch bist du’) und die Verb-Zweitstellung (Velleman 1931: 91-99). Er kritisiert allerdings die Einschaltung deutscher Wörter und die Kodeumschaltungen zwischen Romanisch und Deutsch, die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in der Umgangssprache besonders verbreitet gewesen seien («Anguoscha da Dieu! Schnell istiege! Il Zugführer ho gia tschüvlo per la abfahrt.», Velleman 1931: 112). In der Schriftsprache, so räumt er ein, habe sich niemand für die Verwendung des «ladinisch-deutschen Jargons» eingesetzt, im Gegenteil, man sei mit der Reinigung von deutschen Elementen zu weit gegangen, habe integriertes deutsches Lehngut durch Italianismen und Latinismen ersetzen wollen, z. B. albierg durch alloggio, maister durch falegnam, stambuoch durch capricorn oder Partikelverben durch gelehrte Verben (Velleman 1931: 113). 4. Schluss und Ausblick Die Teilnehmer der metasprachlichen Diskussionen zum Bündnerromanischen in der betrachteten Periode vertreten verschiedene puristische Haltungen. Einerseits erkennt man einen «volkssprachlichen Purismus», dessen Anhänger im rheinischen Gebiet Nay, Muoth und Cahannes und im Engadin Melcher, Pult und Lansel sind. In seiner späteren Phase ist auch Velleman dieser Richtung zuzuschreiben. Was diese Exponenten miteinander verbindet, ist vor allem die deutliche Einschränkung der gelehrten Komponenten (Latinismen, Italianismen und Gallizismen). Die Stellungnahmen zu den für die Volkssprache charakteristischen Germanismen gehen dagegen stärker auseinander: Während Nay gar keine Einschränkungen formuliert, zeigen sich Muoth und Cahannes am restriktivsten. Die Engadiner nehmen Zwischenpositionen ein: Pult spricht zwar von der Gefahr, dass das Romanische durch allzu zahlreiche Entlehnungen aus dem Deutschen für die Bereiche des modernen Lebens «bastardiert» würde, zeigt sich aber nachsichtig gegenüber einzelnen Fremdeinschaltungen in der Alltagsrede. Velleman verurteilt 91 Bündnerromanische Schriftnormen den «ladinisch-deutschen Jargon», akzeptiert aber lautlich wenig oder nicht integrierte Germanismen als Bestandteile der Volkssprache. Melcher, Pult und Velleman sind schliesslich toleranter gegenüber den Partikelverben als Cahannes, der diese in der Volkssprache akzeptiert, für die «gewähltere Sprache» aber die gelehrten Alternativen empfiehlt. Andererseits gibt es einen «neolateinischen Purismus», dem Bühler in der Surselva und Vital und Grand im Engadin zuzuordnen sind. Diese Exponenten betrachten das Bündnerromanische weniger als eigenständige Sprache mit ihren charakteristischen Besonderheiten denn als «Mitglied der romanischen Sprachfamilie», das sich diese Zugehörigkeit sichern muss, indem es sich an den grossen «Schwestersprachen» orientiert und sich entschieden gegen das Deutsche abgrenzt. Am deutlichsten wird dieser Standpunkt von Bühler vertreten, der für seine Einheitssprache eine neue Norm entwickelt, der sich somit am freisten auf das «neolateinische Ideal» zubewegen kann. Vital und Grand treten dagegen nicht für eine weitergehende «Neolatinisierung» ein, sondern rechtfertigen die neolateinischen Komponenten der bestehenden schriftsprachlichen Norm. Eine Neigung zum «neolateinischen Purismus» zeigt auch Cahannes, der von den oben genannten Vertretern des «volkstümlichen Purismus» am wenigsten abgeneigt ist gegenüber Entlehnungen aus anderen romanischen Sprachen und sich am entschiedensten gegen wenig oder nicht integrierte Germanismen äussert. Die Darstellung des metasprachlichen Diskurses zum Bündnerromanischen wäre in weiteren Schritten mit Untersuchungen zur Sprachpraxis zu verbinden, sowohl zur Sprachpraxis der Teilnehmer des metasprachlichen Diskurses selbst als auch zur schriftsprachlichen Praxis - in Literatur und Presse - im Allgemeinen. Von Interesse wäre ausserdem eine Charakterisierung der seit 1982 laufenden überregionalen Standardisierung des Bündnerromanischen vor dem Hintergrund der in den hier dargestellten Diskussionen erkennbaren Ausrichtungen: Hier stellt sich die Frage, welche Relevanz die Orientierung an der «Volkssprache», am Einheimischen einerseits und die Orientierung an neolateinischen Vorbildern andererseits in Konzeption, Normierung und Praxis der neuen Standardsprache Rumantsch Grischun haben. Zürich Matthias Grünert Bibliographie Andeer, P. J. 1862: Über Ursprung und Geschichte der Rhaeto-Romanischen Sprache, Chur Arquint, J. C. 2000: «Stationen der Standardisierung», in: H. Bickel/ R. Schläpfer (ed.), Die viersprachige Schweiz, Aarau etc.: 240-67 Bardola, Cr. 1928: Pitschna introducziun a la nouva ortografia ladina ufficiala. Publichada per incombenza dal Pitschen Cussagl, Samedan/ St. Murezzan Bühler, G. A. 1864: Grammatica Elementara dil Lungatg Rhäto-romonsch. I. Part, Cuera Bühler, G. 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