eJournals Vox Romanica 64/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2005
641 Kristol De Stefani

Georg A. Kaiser, Verbstellung und Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen, Tübingen (Niemeyer) 2002, 194 p. (Linguistische Arbeiten 465)

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2005
Jakob  Wüest
vox6410218
Insgesamt liegt mit der Arbeit eine interessante Materialzusammenstellung vor; allerdings bleiben gerade für die nördliche Italoromania und die Ladinia Zweifel an der «frankoromanischen» Entwicklung. Die Parallelisierung mit anderen Entwicklungen ist aufgrund der knappen Darstellung wenig überzeugend (zumal einige ihren Ausgangspunkt bereits in lateinischen Sprachverhältnissen haben). Vielfach liegen zu den Einzelentwicklungen, die auf ca. 40 Seiten abgehandelt werden, wichtige und interessante Detailstudien vor, die so leider nicht in die Studie eingebunden werden können (teilweise fehlt die Bezugnahme auch auf klassische Referenzwerke). Für die fraglichen Erscheinungen sind ebenso wie für die Palatalisierung von c a polyzentrische Entwicklungen denkbar, was in letztgenanntem Fall insbesondere aus rätoromanistischer Perspektive ohnehin angenommen wird. Eine stärkere Berücksichtigung der gegen die Superstratthese von Wartburgs vorgebrachten Argumente wäre wünschenswert gewesen. Viele der hier genannten Kritikpunkte können zusammengefasst werden als durch die primäre Absicht des Autors bedingte Ausrichtung auf eine Stützung der Superstrattheorie von Wartburgs, der die Abwägung anderer Erklärungsmodelle leider zum Opfer fällt. Sabine Heinemann ★ Georg A. Kaiser, Verbstellung und Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen, Tübingen (Niemeyer) 2002, 194 p. (Linguistische Arbeiten 465) Wenn ein anderes Satzglied als das Subjekt den Satz einleitet, so kann noch heute unter Umständen im Französischen eine Subjektsinversion eintreten: - Peut-être craignait-elle pour sa voix. - Au bout de la table était assis un vieil homme. Ähnliches gilt auch für andere romanische Sprachen. Dabei war diese Art von Inversion im Mittelalter noch deutlich häufiger als heute, so dass sich ein Vergleich mit eigentlichen Verb-Zweit-Stellungssprachen aufdrängt. Dieser Wortstellungstyp ist für das Deutsch und die anderen germanischen Sprachen mit Ausnahme des Englischen charakteristisch. Die Tendenz des Altfranzösischen zur Verb-Zweit-Stellung war denn auch schon Rudolf Thurneysen (1892) und vor allem József Herman (1954) aufgefallen. In neuerer Zeit wurde sogar die These, dass die romanischen Sprachen ursprünglich Verb-Zweit-Stellungssprachen waren, in generativistischen Arbeiten vertreten. Georg A. Kaiser gelingt es nun in diesem Buch, diese These in überzeugender Weise zu widerlegen. Seine Abhandlung will ein Beitrag zu einer generativen historischen Grammatik sein. Obwohl nicht wenige Generativisten sich auch mit historischen Themen beschäftigt haben, hatten diese immer Mühe, sich gegen eine - nach wie vor sehr traditionalistische - historische Sprachwissenschaft durchzusetzen. Kaiser bedauert (14) diesen Zustand und führt ihn (im Anschluss an Jürgen Lenerz) auf die «fehlende diachrone Ausbildung der meisten generativen» Linguisten zurück, betont allerdings auch die «mangelnde generative Ausbildung» der diachronen Linguisten. Er fügt bei: «In der vorliegenden generativen Studie wird versucht, diesem Manko entgegenzutreten, indem hier auch ausführlich nicht generative Literatur berücksichtigt wird» (15). Man hätte sich allerdings wünschen können, dass der Verfasser einer Leserschaft, welche nicht unbedingt über die letzten Entwicklungen der generativen Grammatik auf dem Laufenden ist, besonders im zweiten Kapitel Von Verb-Zweit-Stellung in den germanischen und romanischen Sprachen (16-52) einige Hilfen gewährt hätte. So hält er es nicht einmal für nötig, Abkürzungen wie SpezCP oder SpezIP zu erklären. Immerhin glaube ich ver- 218 Besprechungen - Comptes rendus standen zu haben, dass nach heutiger generativistischer Sicht in den germanischen Sprachen das konjugierte Verb in die Stellung des «Komplementierers» (COMP) bewegt wird, wenn diese nicht schon belegt ist. In den Nebensätzen stehen dort die Konjunktionen oder Relativpronomen, weshalb das konjugierte Verb in der Schlussposition verbleibt. Für die modernen romanischen Sprachen ist dagegen von generativistischer Seite nie eine solche «V-nach-COMP-Bewegung» postuliert worden. Eine Ausnahme machen einzig das Bündnerromanische und einige Dolomitendialekte, welche offensichtlich die Wortstellungsregeln des Deutschen übernommen haben. Im dritten Kapitel Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen. Ein Forschungsüberblick (53-107) wird dann allerdings der nicht generativistischen Forschung viel Platz eingeräumt. Im Wesentlichen beschränkt sich dieses Referat allerdings auf den Zeitraum bis 1957, also bis zum Erscheinen von Chomskys Syntactic Structures. Nicht generativistische Studien zur romanischen Wortstellung, die nach diesem Datum erschienen sind, werden bestenfalls kurz erwähnt 1 . Immerhin zeigt der Forschungsüberblick Kaisers, dass seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine beträchtliche Anzahl von Studien zur Wortstellung im Französischen entstanden ist. Dies widerlegt die verbreitete Ansicht, die historische Linguistik hätte lange Zeit die Syntax vernachlässigt. Das eigentliche Problem ist vielmehr die methodologische Unzulänglichkeit dieser Arbeiten, die zumeist als Dissertationen entstanden sind. Die verwendeten Kriterien sind oft anfechtbar oder auch unklar. Statistische Untersuchungen lassen sich nicht miteinander vergleichen, da die Auswertung nach unterschiedlichen Prinzipien erfolgte. So konnte nie eine Gesamtsicht entstehen. Kaiser legt deshalb im fünften Kapitel Verbstellungswandel in den romanischen Sprachen. Eine empirische Untersuchung (129-64) eine eigene statistische Untersuchung vor, die sich auf verschiedene Übersetzungen der Bücher Samuels stützt. Vertreten sind dabei fünf französische Übersetzungen aus verschiedenen Perioden, eine neuhochdeutsche, eine modernisländische und je eine ältere und eine neuere spanische, portugiesische und surselvische Übersetzung. Was zunächst das Französische betrifft, so ergeben sich die folgenden Entwicklungen von den Quatre livres des Reis (um 1170) bis zu einer zeitgenössischen Bibelübersetzung: - Von 64,9 % auf 83,8 % zugenommen hat die Wortstellung SV(X) mit dem Subjekt an erster und dem Verb an zweiter Stelle. - Ebenfalls zugenommen (von 10,9 % auf 14,5 %) haben die Sätze, in denen das Verb an der dritten oder an einer noch höheren Stelle steht, wobei diese Wortstellung in den Bibelübersetzungen der frühen Neuzeit noch häufiger war. - Fast gänzlich verschwunden sind Sätze mit Verb-Erst-Stellung (von 11,6 % zu 0,2 %), - Auch die in unserem Zusammenhang besonders wichtige Wortstellung XVS mit Verb- Zweit-Stellung und Subjektsinversion hat drastisch abgenommen (von 12,6 % zu 1,5 %), wobei diese Wortstellung ihren Höchstwert aber nicht in der altfranzösischen Übersetzung der Quatre livres des Reis erreichte, sondern in einer 1520 gedruckten Bibelübersetzung (mit 26,8 %). Auch im Altfranzösischen haben wir es somit mit einer Wortstellung zu tun, die in keiner Weise mit der deutschen oder auch mit der bündnerromanischen Wortstellung zu vergleichen ist, wo die Erst-Stellung des Verbs im Aussagesatz ausgeschlossen ist und eine Dritt- Stellung des Verbs höchstens in seltenen Ausnahmefällen vorkommt. 219 Besprechungen - Comptes rendus 1 Ganz unerwähnt bleiben Arbeiten, die das Problem der Wortstellung aus einer ganz anderen Sicht angehen wie J. Rychner, L’articulation des phrases narratives dans la «Mort Artu», Neuchâtel-Genève 1970, oder R. de Dardel, «L’hypothèse d’une base OVS en protoroman», Probus 1 (1989): 121-43. Noch entschiedener gegen die Annahme einer gemeinromanischen Verb-Zweit-Stellung sprechen die Untersuchungen zum Iberoromanischen. Hier zeigen die mittelalterlichen Bibelübersetzungen vielmehr eine starke Tendenz zur Verb-Erst-Stellung (42,7 % im Altportugiesischen und sogar 59,1 % im Altspanischen), eine Tendenz, die auch im Modernspanischen (mit 23,3 %) recht häufig anzutreffen ist. Die These einer ursprünglichen Verb-Zweit-Stellung im romanischen Aussagesatz erweist sich somit als kaum haltbar und dies darf als das positive Ergebnis dieser Untersuchung gewertet werden. Weit anfechtbarer scheinen mir dagegen die Argumente, die im vierten Kapitel Verb- Zweit-Stellungswandel als Parameterwechsel (108-28) vorgebracht werden. Kaiser entwickelt hier eine allgemeine Theorie des Sprachwandels, wobei er von der «Annahme (ausgeht), dass Sprachwandel durch Vorgänge während des Spracherwerbsprozesses bestimmt und ausgelöst wird» (114). Die Hypothese, wonach sich die Sprache gleichsam als Folge eines ungenauen Erwerbs durch eine neue Generation wandeln würde, ist alt; sie wird von Kaiser allerdings nicht in dieser undifferenzierten Form vorgebracht.Vielmehr ergeben sich im Rahmen der generativen Prinzipien- und Parametertheorie einige Probleme mit dieser Annahme. Parameter sind bekanntlich eine Art angeborener grammatischer Variablen, unter denen die Kinder jene Variable auswählen müssen, die ihrer Muttersprache entspricht. Wie kann es nun aber geschehen, dass eine Generation von Kindern gleichsam den falschen Parameter wählt? Eine mögliche Erklärung wäre, dass der Sprachwandel bereits in der Sprache der Erwachsenen angelegt ist. Kaiser verwirft nun allerdings nicht nur die Hypothese, wonach es in der Sprache der Erwachsenen zu einem Systemwandel kommen könnte, sondern auch die Annahme, quantitative Verschiebungen in der Sprache der Erwachsenen könnten die Kinder bei der Wahl des Parameters beeinflussen. Die einzige Hypothese, die ihm akzeptabel scheint, ist diejenige eines Parameterwechsels durch Dialekt- oder Sprachkontakt. Da eine solche Erklärung für einen Parameterwechsel zwischen dem Alt- und Modernfranzösischen nicht zu finden ist, betrachtet er dies als ein weiteres Argument gegen die Annahme eines Parameterwechsels. Nun liegt aber seit kurzem William Labovs 2 fundamentale Untersuchung zu den sozialen Einflüssen im Sprachwandel vor. Diese widerlegt wohl endgültig die These, wonach der Sprachwandel beim Erwerb der Muttersprache durch eine neue Generation stattfinden würde. Vielmehr zeigen die empirischen Untersuchungen, dass Kinder keine Schwierigkeiten haben, die Sprache ihrer Erzieher nachzuahmen. Die entscheidenden Änderungen finden in der Pubertät statt, wenn die Jugendlichen auf der Suche nach ihrer eigenen Identität sind und sich von der Sprache der Elterngeneration entfernen. Solche Erkenntnisse sind freilich mit der streng sprachimmanenten Sicht, die Kaiser als Generativist pflegt, schwer zu vereinbaren. Hier sehe ich denn auch die Grenzen der vorliegenden Arbeit. Höchst beeindruckend bleibt jedoch, wie es Kaiser gelingt, neueste Ansätze der Grammatiktheorie mit soliden philologischen Prinzipien zu verbinden. Jakob Wüest ★ Paul Teyssier (ed.), avec la collaboration de Romana Timoc-Bardy pour le roumain, Comprendre les langues romanes. Du français à l’espagnol, au portugais, à l’italien & au roumain. Méthode d’intercompréhension, Paris (Chandeigne) 2004, 396 p. Les évolutions politiques récentes, en Europe, semblent favoriser une nouvelle ouverture à l’égard de études comparatives, y compris celles qui s’occupent des langues romanes. C’est 220 Besprechungen - Comptes rendus 2 W. Labov, Principles of Linguistic Change, vol. 2, Social factors, Oxford 2001.