Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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2005
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Kristol De StefaniLa Chanson de Roland. Édition critique par Cesare Segre. Nouvelle édition refondue, traduite de l’italien par Madeleine Tyssens. Introduction, texte critique, variantes de O. Index des noms propres. Glossaire établi par Bernard Guidot, Genève (Droz) 2003, 389 p. (Textes Littéraires Français 968)
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2005
Stephen Dörr
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La Chanson de Roland. Édition critique par Cesare Segre. Nouvelle édition refondue, traduite de l’italien par Madeleine Tyssens. Introduction, texte critique, variantes de O. Index des noms propres. Glossaire établi par Bernard Guidot, Genève (Droz) 2003, 389 p. (Textes Littéraires Français 968) Der lange Titel dieser Rolandslied-Ausgabe weckt gewisse Hoffnungen auf eine neue wissenschaftliche Edition. Erste Skepsis schleicht sich allerdings ein, wenn man im Verlagsprospekt von Droz den Kommentar findet: «Texte au programme du concours de l’Agrégration de Lettres Modernes 2004». Kennt man sich etwas im französischen Hochschulsystem und in der Verlagspolitik von Droz aus, erahnt man, dass hier zunächst der Agrégations-Markt bedient werden soll. Doch erst einmal der Reihe nach. Die zur Zeit maßgebliche Ausgabe der Chanson de Roland von Cesare Segre datiert aus dem Jahr 1971 (Milano-Napoli bei Ricciardi). Sie wurde von Madeleine Tyssens ins Französische übersetzt und 1989 als «nouvelle édition revue» von Droz publiziert. Schon damals stritten sich die Gelehrten, ob es sich um eine Übersetzung mit einigen wenigen Korrekturen oder tatsächlich um eine neue Edition handele. So urteilten G. Roques «version française» (RLiR 54 [1990]: 631), A. Varvaro «nuova edizione: revisione minuziosa anche se non se ne dice parola nell’introduzione» (Medioevo Romanzo 15 [1990]: 169-70) und Marie- Claude Gérard-Zai «a consisté en une révision globale du patient examen de Cesare Segre» (VRom 49/ 50 [1990-91]: 596) in durchaus unterschiedlicher Weise. Allen diesen Anzeigen ist eigen, dass sie ihre Meinung nicht belegen. Nur die Besprechung von William Kibler (Rom- Phil. 45 [1992]: 540-44) listet exakt die inhaltlichen Veränderungen auf, die sich bei der Übertragung der italienischen in die französische Fassung ergaben (30 neue Einträge in der Bibliographie, 12 neu emendierte Zeilen in der Edition, 31 neue Anmerkungen, etc.) 1 . Was unterscheidet nun die Ausgabe von 1989 von der «édition refondue» des Jahres 2003? Einfach festzustellen ist: aus zwei Bänden wurde einer. Der komplette Kommentarband von 1989, in meinen Augen eine Meisterleistung philologischer Analyse, fehlt. Daraus könnte man schließen, dass die Kommentare für die Agrégationsvorbereitung überflüssig sind, oder auch, dass nur so ein niedriger Preis des Produktes erreicht werden konnte (in der Tat sind die 20,81 € günstig, vergleicht man sie mit anderen Produkten des Verlages). Handelt es sich hier schon um Merkantilisierung der Wissenschaft und der Ausbildung? Im verbliebenen Band von 2003 findet sich zum besseren Verständnis des Textes ein Glossar, das Bernard Guidot erstellt hat. Der Rest (Introduction, Text und Index des noms propres) ist nichts anderes als ein photomechanischer Nachdruck des ersten Bandes von 1989 (so versteht man das Kleingedruckte unter der Table des matières: «Pour des raisons techniques, les renvois au second volume qu’on trouve dans l’introduction n’ont pu être supprimés de cette édition du texte seul de la Chanson de Roland»). Von einer «nouvelle édition refondue» kann also mit Sicherheit nicht die Rede sein 2 . Somit sehe ich mich von der Aufgabe entbunden, hier auf den Inhalt einzugehen. Im folgenden soll kurz auf das einzig Neue, auf das Glossar, eingegangen werden. Guidots erster Satz lautet: «Commandé par les éditions Droz, ce travail a été élaboré avec l’aide précieuse de publications antérieures». Zitiert werden in der Folge Glossare und Übersetzungen von Foulet bis Dufournet. Die Benutzung von Wörterbüchern ist für Guidot bei der Erarbeitung eines Glossars nicht zwingend (immerhin taucht an einigen Stellen der TL 298 Besprechungen - Comptes rendus 1 Cf. DEAFBiblEl (kostenlos und frei im Internet unter www.deaf-page.de): «traduction de l’édition 1 1971 avec qqs révisions ponctuelles de la part de l’auteur». 2 Cf. hingegen die Besprechung von S. Thieffrey, Script 57 (2003): *177: «Une première traduction de ses conclusions avait paru en 1989 . . . Elle reparaît aujourd’hui, enrichie d’une longue introduction dévolue à l’analyse stemmatique des différentes variantes . . . ». Hielt sie ein anderes Buch in Händen? auf). Eine Glossarerstellung ohne Wörterbücher steht in absolutem Widerspruch zu dem wissenschaftlichen Standard, den Gilles Roques seit langem anmahnt und den F. Möhren definiert hat 3 . Die Einträge entsprechen bei Adjektiven und Substantiven der im Text verzeichneten Form; bei Verben wird der Infinitiv gegeben (in eckigen Klammern, wenn der Infinitiv nicht belegt ist und somit erschlossen wurde); auf eine an TL ausgerichtete Lemmatisierung wird verzichtet, was für ein Glossar verzeihlich ist. So finden sich Lemmata wie «grefs, adj.» (= ein Plural), «hunir, v. trans.» oder «[guverner], v. intrans». Was die semantische Seite betrifft, so werden Translationsangebote gegeben, bei schwierigeren Fällen wird auch der entsprechende Kontext übersetzt. Hier wird deutlich, worum es sich bei der Ausgabe handelt, nämlich um eine für Studenten gedachte Ausgabe, die zumindest für den Bereich des Glossars (nur zur Erinnerung: der Rest ist ein photomechanischer Nachdruck) eher wissenschaftsfern angelegt ist. Illustrierend hier nur zwei Beispiele. - In extenso der Eintrag zu greisle: greisle, subst. masc., 2951: trompette, clairon; gresle, subst. masc., 1319: trompette, clairon; grailles, subst. masc., 700, 1004; graisles, subst. masc. 1454; graisle 1832: trompettes, clairons (= graisle ‘espèce d’instrument à vent en métal (aussi en corne? ) au son plutôt élevé’, DEAF G 1195). Man fragt sich, welcher Nutzer die «definitorischen» Redundanzen benötigt und ob ein solcher Nutzer dann überhaupt in der Lage wäre, graisles unter greisle zu suchen. Eine mäßige Lemmatisierung und Querverweise wären hilfreich gewesen. - Ein anderes Beispiel: Unter [henir] findet sich: ‘hennir’; (cil d’Ociant . . . henissent), 3526: ‘ceux d’Ociant hennissent (emploi dépréciatif, pour les païens)’. Welche Information kann man hieraus ziehen? Der Petit Robert gibt für nfr. hennir folgende Definition: «En parlant du cheval. Pousser le cri particulier à son espèce». Das neufranzösische Translationsangebot führt also in die Irre und richtig hilfreich ist auch der Zusatz ‘emploi dépréciatif’ nicht: cf. hingegen die Definition im DEAF H 354: ‘manifester son émotion en poussant de hauts cris (dit d’hommes)’; sie hätte dem Leser wirklich weitergeholfen. Das von Lucien Foulet 1927 erstellte Glossar zur Bédier-Ausgabe, auf das Guidot selbst hinweist, ist in vielfacher Hinsicht besser als sein eigenes. Es hätte genügt, es einfach abzutippen, was wissenschaftlich gesehen eine zu faule Lösung gewesen wäre. Das Fazit ist einfach: Die von Droz als «Nouvelle édition refondue» verkaufte Ausgabe ist nicht nouvelle und noch viel weniger refondue; es handelt sich vielmehr um einen Etikettenschwindel. Sie ist für den wissenschaftlichen Gebrauch ohne Wert und ich bezweifle auch, dass sie als studentisches Arbeitsinstrument ihr Geld wert ist (ist Wissenschaftlichkeit für die Agrégation nicht mehr gefragt? ). Tröstlich ist immerhin die Klarsichtigkeit der Herausgeber, die im Kleingedruckten unter der Table des matières folgendes formulieren: «On lira bien évidemment le résultat de tous ces renvois [der Introduction, die ins Leere führen] dans l’édition en deux volumes qui reste l’édition de référence de Cesare Segre». Stephen Dörr ★ 299 Besprechungen - Comptes rendus 3 F. Möhren, «Édition et lexicographie» in: M.-D. Glessgen und F. Lebsanft (ed.), Alte und neue Philologie, Tübingen 1997: 153-66, speziell «Les glossaires d’éditions»: 160-64.
