Vox Romanica
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0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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2006
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Kristol De StefaniOlga Anna Duhl (ed.), Sotise à huit personnaiges [Le Nouveau Monde], Genève (Droz) 2005, 344 p. (Textes Littéraires Français 573)
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2006
Arnold Arens
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schrift BL Roy. 15 E. VI entstammt einer anderen Vorlage als die anderen vier Handschriften. Die Seiten 87-129 bieten den Faksimile-Abdruck. Auch in der reduzierten Größe kann man leicht die Pracht des Kodex erkennen. Die Qualität der Reproduktion ist von hoher Güte. Die Edition (133-230) macht einen zuverlässigen Eindruck und folgt den von Foulet/ Speer und den von der École des Chartes vorgegebenen Regeln 6 . Überraschend ist an einigen Stellen jedoch die Interpunktion 7 . Es folgt ein Verzeichnis der Eigen- und der Ortsnamen (233-40) und ein Glossar (243- 69). Hier werden die altfranzösischen Wörter durch ein neufranzösisches Interpretament (seltener zwei oder auch drei) wiedergegeben; ein Indiz, das auf die Kenntnis der altfranzösischen Lexikographie schließen lassen würde, fehlt 8 . Daher ist es nicht verwunderlich, dass Wörter ungenau und auch falsch «definiert» werden. Einige Beispiele: acointance wird mit ‘amitié’ definiert: TL 1,92 definiert ‘Bekanntschaft»; adonc/ adonques ‘donc, alors, à ce moment’: Der Leser wird aufgefordert, sich das Passende auszusuchen; cadren ‘globe terrestre’ 9 ist falsch: cf. FEW 2,1392a: ‘cercle gradué servant à mesurer la hauteur du soleil ou d’une étoile’; livre als ‘unité monnaitaire’ [sic] zu definieren, ist nicht hilfreich; mastin ‘vaurien’ trifft nicht zu: s. TL 5,1942 [‘Haushund, Hofhund’] ‘als Schimpfwort von einem Menschen gesagt’; mille ‘1000 [mesure de longueur]’ ist kurios: gemeint ist die Meile! Die Beispiele ließen sich leicht vermehren. Das Resümee ist schnell gezogen. Wir sind unseren japanischen Kollegen dankbar für die Herausgabe dieses Bandes, auch wenn die philologische Seite den kunsthistorischen Ausführungen und der Qualität des Faksimiles nachsteht. Stephen Dörr ★ Olga Anna Duhl (ed.), Sotise à huit personnaiges [Le Nouveau Monde], Genève (Droz) 2005, 344 p. (Textes Littéraires Français 573) Die Sotise à huit personnaiges, die um 1507 in Toulouse verfasst wurde, ist ein Werk der «propagande religieuse» (11), das die Privilegien der gallikanischen Kirche gegen die Mächtigen von Kirche und Staat, «y compris Louis XII et son ministre, le cardinal d’Amboise» (hintere Umschlagseite), verteidigt. Nachdem 1503 Kardinal Georges d’Amboise (1460- 90), Erzbischof von Rouen, Gouverneur der Normandie und Minister Ludwigs XII. (1498- 1515), von Papst Julius II. (1503-13) zum ständigen päpstlichen Legaten ernannt worden war, sah man in Frankreich die Rechte und Freiheiten der gallikanischen Kirche bedroht, die in der Pragmatischen Sanktion von Bourges (1438) festgelegt worden waren. Trotz der gegen den französischen König vorgetragenen Kritik, deren Zielscheibe insbesondere dessen Italienfeldzüge und dessen «politique fiscale déraisonnée» (72) sind, ist die Sotise zu- 223 Besprechungen - Comptes rendus 6 Kleinere Fehler: 3,11 unes tables l. une table; 3,13 avoit l. aveit; 4,1 Comment l. Coment; 6,9N2 Phlippes l. Phlippe; 6,26 Nectanebus l. Nactanebus; 7,7 entremectre wohl eher entremettre, 7, 14 dist l. dis. 7 Z. B. 1,20: a ssavoir, et delictable a user (das Komma ist zu streichen); 1,23 hardy de cuer, et preux des armes (das Komma ist zu streichen); etc. (entspricht wohl dem Usus im Englischen). 8 Kleinere Irrtümer: aideur: personne qui aide kursivieren; barat: ne par bart l. ne par barat; cadren: globe terrrestre l. globe terrestre. 9 Diese falsche Definition könnte aus Gdf 1,766c stammen und wäre ein Indiz dafür, dass zumindest Gdf konsultiert wurde. gleich auch ein Werk «de la propagande royale» (45). Denn sie diente den politischen Ambitionen Ludwigs XII., der eine «politique anti-papale» (11) betrieb und dessen Ziel es war, «de sortir victorieux du conflit personnel qui l’opposait au pape Jules II» (47). Der 1579 Verse umfassende Text, der durch einen «non-conformisme générique» (55) gekennzeichnet ist, besteht aus einer «[m]oralité-cadre» (61) (v. 1-109, 1529-79) und der Sotise (v. 110-1528), in der fünf sots und eine sotte in satirischer Form einen Dialog führen. In der einleitenden Moralité, in der Monde und Abuz in Erscheinung treten, werden «deux conceptions allégoriques du ‹monde›» (75) gegenübergestellt, nämlich einmal die nach dem Modell des «âge d’or de la France féodale» (69) verstandene alte Welt. Abuz versetzt diese in einen Trancezustand, um alsdann als «démiurge» (80) die neue Welt erstehen zu lassen. Die politische Utopie einer neuen Welt, die «le premier avatar dramatique de la littérature française» (68) ist und die in den Versen 110-1528 vorgestellt wird, ist aber zum Scheitern verurteilt, da die neue Welt durch «[le] règne des vices, de la confusion et surtout du despotisme» (70) gekennzeichnet ist. Dies wird konkret aufgezeigt durch eine schonungslose Kritik an den einzelnen Klassen der Gesellschaft: Durch die Figur des sot dissolu werden der Kirche in Form von «attaques ad hominem» (82) Heuchelei, Simonie, Glaubensverrat u. a. vorgeworfen. Sot glorieux attackiert die Ausbeutung, den Geiz und die Selbstsucht von Adel und Soldaten; sot corrompu die Korruption der Vertreter der Justiz, sot trompeur «l’usure et l’avarice» (88) der Händler und Kaufleute. Sot ignorant, der das niedere Volk repräsentiert und außerhalb der Gesellschaft steht, greift den «penchant de la Rebellion» (89) dieser sozialen Klasse an. Und sotte folle schließlich, die als einzige weibliche Figur auftritt und nicht eine bestimmte soziale Klasse, sondern das weibliche Geschlecht repräsentiert, ist die Verkörperung der «Folie en personne» (91); aufgrund ihres «caractère diabolique» (92) führt sie auch zum Untergang der neuen Welt. Nachdem die neue Welt dann zusammengebrochen ist, tritt in der abschließenden «[m]oralité-cadre» (61) (v. 1529-79) die alte Welt erneut in Erscheinung und warnt in einem Monolog vor allen Lastern und Missbräuchen. Auf diese Weise findet «le conservatisme de l’auteur . . . sa meilleure expression» (75). Die Sotise ist lediglich in einem Druck überliefert, der zwischen 1510 und 1512 in dem Atelier des Pariser Buchhändlers Guillaume Eustache erstellt wurde. Ein Manuskript des Textes konnte bislang noch nicht aufgefunden werden.Von dem Druck existieren insgesamt fünf Exemplare, von denen drei in der BNF, Paris, und zwei im Musée Condé, Chantilly, aufbewahrt werden. Im Jahre 1904 hatte Emile Picot erstmalig - und bisher auch letztmalig - die Sotise in einer Edition zugänglich gemacht 1 . Eine Neuedition dieses Werkes war somit bereits seit langem ein dringendes Desiderat. Es ist deshalb zu begrüßen, dass O. A. Duhl, «associate professor of foreign languages and literatures» am Lafayette College in Easton (Pennsylvania), mit ihrer Edition diese Forschungslücke geschlossen hat. Frau Duhl stellt der Textedition eine sehr umfassende, von großer Erudition zeugende «Introduction» (17-163) voran. Darin informiert sie detailliert über die Textgeschichte, den möglichen Autor, den Ort und das Datum der Entstehung des Textes, über dessen gattungsspezifischen Merkmale sowie dessen Struktur. Alsdann werden eine exhaustive inhaltliche Analyse des Textes, dessen «mise en scène», Metrik sowie Sprache analysiert. Von ganz besonderem Interesse sind in der Einleitung die Darlegungen zur «paternité littéraire de la Sotise» (20-40). Da die Sotise keinerlei Hinweise auf den Autor liefert, wurde in der bisherigen Forschungsdiskussion einerseits «un scepticisme profond» (20) hinsichtlich der Bestimmung eines Autors geäußert; andererseits wurde davon ausgegangen, dass einer der Pariser Rhetoriker, z. B. Jean Bouchet, Pierre Gringoire oder, und das war die meistvertretene und auch von E. Picot aufgestellte These, André de La Vigne der Autor des Werkes sei. 224 Besprechungen - Comptes rendus 1 Recueil général des sotties, Paris 1902-12, 3 vol. Die Textedition des hier zu behandelnden Werkes befindet sich in vol. 2, 1-104. O. A. Duhl trägt nun hier eine ganz neue und nach meinem Urteil überzeugende These vor. Das Werk ist nicht in Paris, sondern in Toulouse entstanden und geht auf einen «auteurcompilateur» (81) zurück, der etwa Blaise d’Auriol sein kann. Für die Richtigkeit dieser Annahme sprechen gattungsspezifische, poetische und insbesondere auch historisch-politische Gründe, war das Parlament von Toulouse doch die Instanz, die am vehementesten die Privilegien der gallikanischen Kirche verteidigte. Die hier neu vorgenommene und rundherum überzeugende Textedition (173-250) basiert auf dem Exemplar des Frühdrucks BNF, Paris Rés. Yf 2934, auf das in dem kritischen Apparat durch Sigel A verwiesen wird. Sigel P verweist auf Lesarten der Edition von E. Picot. Duhl hat nur Korrekturen an der Version des Frühdrucks vorgenommen «pour corriger les vers faux et pour éviter les ambiguïtés sémantiques» (165). Die ausführlichen «Notes critiques» (251-95), die substantielle Kommentare zu inhaltlichen und sprachlichen Problemen enthalten, stellen erneut die weite Sachinformiertheit von Duhl unter Beweis. Ein «Glossaire» (297-320), eine systematisch angelegte Bibliographie (321-332) sowie ein «Index des noms propres» (333-40) schließen den Band ab. Etwas störend wirken im Kommentar die stereotyp durch «On/ on l’a vu» (80, 94, 102, 272 u. a.). «On/ on a vu» (19, 69, 74 u. a.) und durch «Nous avons vu» (104) eingeleiteten Wiederholungen; hier hätten einfache Verweise genügt. Außerdem ist die Gliederung der Einleitung an mehreren Stellen unlogisch angelegt; Untergliederungen in nur einen Punkt (so 1.1, 1.4 und 1.7) sind unsinnig. Mehrfach (so z. B. 20-26) wird viel zu ausführlich ein Sachverhalt dargelegt; hier wäre argumentative Raffung angezeigt gewesen. Trotz dieser nur Marginalien betreffenden Bemerkungen ist festzuhalten, dass O. A. Duhl eine ausgezeichnete Leistung erbracht hat: Sie hat einen für die Bewertung der zeitgeschichtlichen Gegebenheiten Anfang des 16. Jahrhunderts relevanten Text in gekonnter Weise neu ediert. Arnold Arens ★ Jacques Decottignies, Vers naïfs, pasquilles et chansons en vrai patois de Lille, édition critique, commentaires et glossaire par Fernand Carton, Paris (Champion) 2003, 477 p. (L’Âge des Lumières 21) Es dürften nur ganz wenige Spezialisten sein, die mit dem Namen Jacques Decottignies etwas verbinden können. Denn es handelt sich um einen kaum bekannten Autor der nordfranzösischen, konkret der pikardischen Dialektliteratur, dessen Werk bislang noch nicht in einer Edition zugänglich gemacht worden war. Jacques Decottignies wurde 1706 als ältestes von insgesamt sieben Kindern des Kleinhändlers und Straßensängers François Cottignies, genannt Brûle-Maison, in Lille geboren. Ab dem Zeitpunkt seiner Heirat (1735) unterhielt er ebenso wie der Vater in Lille ein Geschäft, in dem er «toutes sortes de produits textiles, . . . toutes sortes d’objets» (12) anbot. Diesen Beruf übte er als «mercier de la première classe» (12) aus, während François Cottignies lediglich Händler der zweiten Klasse war. Im Alter von 56 Jahren starb er 1762 «ailleurs qu’à Lille» (17) und hinterließ Ehefrau und sieben Kinder. Und wiederum ebenso wie der Vater wurde auch der Sohn literarisch aktiv, indem er entweder als Autor oder als «diffuseur» (22) literarischer Texte wirkte. Von den hier insgesamt 50 edierten Texten 1 , die in 225 Besprechungen - Comptes rendus 1 Mit der Zählung der Texte und Textsorten geht es in diesem Werk recht fehlerhaft zu. Carton stellt zwar fest: «Nous avons retenu 49 textes, dont certains, très brefs, sont distingués par les lettres A, B ou C. Ils ont été regroupés en 45 pièces» (22). In Wirklichkeit ediert er aber 50 Texte, die in 45
