eJournals Vox Romanica 65/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2006
651 Kristol De Stefani

Jacques Decottignies, Vers naïfs, pasquilles et chansons en vrai patois de Lille, édition critique, commentaires et glossaire par Fernand Carton, Paris (Champion) 2003, 477 p. (L’Âge des Lumières 21)

121
2006
Arnold  Arens
vox6510225
O. A. Duhl trägt nun hier eine ganz neue und nach meinem Urteil überzeugende These vor. Das Werk ist nicht in Paris, sondern in Toulouse entstanden und geht auf einen «auteurcompilateur» (81) zurück, der etwa Blaise d’Auriol sein kann. Für die Richtigkeit dieser Annahme sprechen gattungsspezifische, poetische und insbesondere auch historisch-politische Gründe, war das Parlament von Toulouse doch die Instanz, die am vehementesten die Privilegien der gallikanischen Kirche verteidigte. Die hier neu vorgenommene und rundherum überzeugende Textedition (173-250) basiert auf dem Exemplar des Frühdrucks BNF, Paris Rés. Yf 2934, auf das in dem kritischen Apparat durch Sigel A verwiesen wird. Sigel P verweist auf Lesarten der Edition von E. Picot. Duhl hat nur Korrekturen an der Version des Frühdrucks vorgenommen «pour corriger les vers faux et pour éviter les ambiguïtés sémantiques» (165). Die ausführlichen «Notes critiques» (251-95), die substantielle Kommentare zu inhaltlichen und sprachlichen Problemen enthalten, stellen erneut die weite Sachinformiertheit von Duhl unter Beweis. Ein «Glossaire» (297-320), eine systematisch angelegte Bibliographie (321-332) sowie ein «Index des noms propres» (333-40) schließen den Band ab. Etwas störend wirken im Kommentar die stereotyp durch «On/ on l’a vu» (80, 94, 102, 272 u. a.). «On/ on a vu» (19, 69, 74 u. a.) und durch «Nous avons vu» (104) eingeleiteten Wiederholungen; hier hätten einfache Verweise genügt. Außerdem ist die Gliederung der Einleitung an mehreren Stellen unlogisch angelegt; Untergliederungen in nur einen Punkt (so 1.1, 1.4 und 1.7) sind unsinnig. Mehrfach (so z. B. 20-26) wird viel zu ausführlich ein Sachverhalt dargelegt; hier wäre argumentative Raffung angezeigt gewesen. Trotz dieser nur Marginalien betreffenden Bemerkungen ist festzuhalten, dass O. A. Duhl eine ausgezeichnete Leistung erbracht hat: Sie hat einen für die Bewertung der zeitgeschichtlichen Gegebenheiten Anfang des 16. Jahrhunderts relevanten Text in gekonnter Weise neu ediert. Arnold Arens ★ Jacques Decottignies, Vers naïfs, pasquilles et chansons en vrai patois de Lille, édition critique, commentaires et glossaire par Fernand Carton, Paris (Champion) 2003, 477 p. (L’Âge des Lumières 21) Es dürften nur ganz wenige Spezialisten sein, die mit dem Namen Jacques Decottignies etwas verbinden können. Denn es handelt sich um einen kaum bekannten Autor der nordfranzösischen, konkret der pikardischen Dialektliteratur, dessen Werk bislang noch nicht in einer Edition zugänglich gemacht worden war. Jacques Decottignies wurde 1706 als ältestes von insgesamt sieben Kindern des Kleinhändlers und Straßensängers François Cottignies, genannt Brûle-Maison, in Lille geboren. Ab dem Zeitpunkt seiner Heirat (1735) unterhielt er ebenso wie der Vater in Lille ein Geschäft, in dem er «toutes sortes de produits textiles, . . . toutes sortes d’objets» (12) anbot. Diesen Beruf übte er als «mercier de la première classe» (12) aus, während François Cottignies lediglich Händler der zweiten Klasse war. Im Alter von 56 Jahren starb er 1762 «ailleurs qu’à Lille» (17) und hinterließ Ehefrau und sieben Kinder. Und wiederum ebenso wie der Vater wurde auch der Sohn literarisch aktiv, indem er entweder als Autor oder als «diffuseur» (22) literarischer Texte wirkte. Von den hier insgesamt 50 edierten Texten 1 , die in 225 Besprechungen - Comptes rendus 1 Mit der Zählung der Texte und Textsorten geht es in diesem Werk recht fehlerhaft zu. Carton stellt zwar fest: «Nous avons retenu 49 textes, dont certains, très brefs, sont distingués par les lettres A, B ou C. Ils ont été regroupés en 45 pièces» (22). In Wirklichkeit ediert er aber 50 Texte, die in 45 den Jahren zwischen 1740/ 45 und 1753 entstanden, stammen 11 Texte zweifelsfrei aus der Feder von Decottignies, für 19 andere Texte ist seine Autorenschaft sehr wahrscheinlich, und 20 weitere Texte wurden von ihm lediglich verbreitet. Thematisch werden in den Texten einerseits zeitgenössische politische Begebenheiten speziell von regionaler, aber auch von überregionaler Bedeutung (etwa die Eroberungen Ludwigs XV., des Marschalls von Sachsen, die Schwangerschaft der Königstochter u. a. m.) sowie andererseits Dinge des alltäglichen Lebens in Lille und näherer Umgebung (etwa Eheleben, Liebesgeschichten, zeitgenössische Mode, Verhalten der Arbeiterinnen u. a. m.) behandelt. Hinsichtlich der Genres weisen die Texte eine große «diversité de la production» (57) auf. Es sind folgende Gattungen zu unterscheiden: 1) chroniques: In dieser in 8-Silbnern gestalteten «série épico-burlesque» (61) werden aktuelle politische Themen behandelt und als «nouvelles à la main» (62) dargeboten. 2) pasquilles: Dieses in Wallonien entstandene und alsdann in der Pikardie, speziell in der Gegend von Lille gepflegte Genre bietet 8-silbige Dialogtexte mit einer Länge von 100 bis 400 Versen, in denen die soziale Satire ein wesentliches Element bildet; es zeichnet sich insbesondere durch seine «saveur des ‹choses vues›» (57) aus. 3) chansons unterschiedlicher metrischer Gestaltung und unterschiedlicher Länge, die aktuelle, galante oder satirische Themen behandeln. 4) kürzere Texte wie Chronogramme, Rätsel, Reklame-Prospekte, Stanzen und Rondeaux in ebenfalls unterschiedlicher metrischer Anlage. Carton selbst stellt fest: «L’intérêt de ces textes n’est pas proprement historique» (57). Diese Werke sind aber aufgrund der in ihnen gebotenen konkreten Beschreibung des Alltagslebens sowie der Sitten und Gebräuche in und um Lille eine wichtige Quelle für die Volkskunde und die Soziologie. Und sie sind insbesondere für die Sprachwissenschaft, hier konkret die pikardische Dialektologie, von unschätzbarem Wert. Ist doch Jacques Decottignies «le premier chansonnier patoisant» (70), dessen Texte sich durch eine außerordentliche «richesse lexicale» (49) auszeichnen und dem es daran gelegen war, das Erbe einer «langue composite bien marquée régionalement» (50) zu bewahren. Hinzuzufügen ist außerdem, dass Decottignies in extensiver Weise Anmerkungen in seine Texte eingefügt hat, um deren Verständnis für die des patois nicht mächtigen Leser zu ermöglichen. Diese Anmerkungen «constituent l’esquisse du premier lexique de patois lillois». (51) Deshalb ist es nur zu begrüßen, dass diese Texte aus der Vergessenheit geholt und jetzt erstmalig ediert wurden. Und für eine solche Aufgabe kann man sich keinen Geeigneteren vorstellen als Fernand Carton, Emeritus und ehemaliger Präsident der Universität Nancy 2, der, wie sein umfangreiches Publikationsverzeichnis 2 dokumentiert, ein ausgewiesener Sprachwissenschaftler ist, insbesondere auf den Gebieten der Phonetik und der (speziell pikardischen) Dialektologie. Auch in seinen universitären Veranstaltun- 226 Besprechungen - Comptes rendus Textgruppen eingeteilt sind. In einer Tabelle (22) wird Text 2 in 2A und 2B untergliedert, was falsch ist, da Nummer 2 nur einen einzigen Text umfasst. Ebenso wird in derselben Tabelle Text 21 in nur zwei und nicht, was richtig ist, in drei Gruppen untergliedert. Derartige Fehler finden sich auch in der mit «Les genres littéraires» (57) betitelten Auflistung: Hier werden fälschlicherweise nur 6 pasquilles erwähnt, Nummer 40 wurde vergessen; an anderer Stelle heißt es dann aber richtig: «nous en (= pasquilles) avons sept de JD (= Jacques Decottignies)» (63). In der Rubrik Divers (57) wird die Summe der Texte mit 14 angegeben; in Wirklichkeit sind es jedoch nur 13 Texte. Denn fälschlicherweise wird Text 20, der nur aus zwei Textgruppen besteht, in drei Textgruppen unterteilt. Wenn man schon zählt, dann sollte man es richtig machen! 2 Cf. das vollständige Schriftenverzeichnis von F. Carton unter http: / / jl.carton.free.fr/ Biblio_ FC_2006.PDF. gen 3 hat Carton sich als sprachwissenschaftlicher Fachmann erwiesen, der mit äußerster Gründlichkeit arbeitet. Und davon legt auch dieses Werk, dessen Erstellung Carton mit vielfältigen Problemen konfrontierte, wiederum ein Musterbeispiel ab. Zunächst einmal mussten die hier edierten Texte an den verschiedensten Stellen ausfindig gemacht werden. Außerdem musste bei zahlreichen Texten, in denen sich der Autor nicht nennt, versucht werden, aufgrund von thematischen oder sprachlichen Indizien den Autor mit annähernder Sicherheit zu ermitteln. Carton stellt der Textedition eine ausführliche Introduction (9-78) voran. In ihr wird versucht, anhand der Texte die Biographie Decottignies «partiellement» (9) zu rekonstituieren. Es schließen sich dann Ausführungen über die Quellen und die Datierung (18-28) und ganz ausführlich über die Sprache sowie die Metrik (28-56) der Texte an. Den Abschluß der Einleitung bilden dann Darlegungen zu deren dokumentarischem und literarischem Wert (57-69) und zum Stellenwert Decottignies und seines Vaters in der Dialektliteratur in Vergangenheit und Gegenwart (69-78). Diese auf der Basis gründlicher Recherchen erstellte Einleitung informiert in umfassendster Weise über alle relevanten Fragen. Eine solche detaillierte Information ist auch angezeigt, handelt es sich doch um einen nur einigen wenigen Spezialisten bekannten Dichter. Cartons Gründlichkeit und Akribie sind zwar grundsätzlich positiv zu bewerten, werden an der einen oder anderen Stelle in positivistischer Weise aber auch weit übertrieben, etwa wenn pedantisch genau die geographische Lage des von Decottignies in Lille unterhaltenen Geschäfts (13-16) oder die Taufdaten seiner Kinder (16-17) ermittelt werden. Diese Liebe zum Detail, die hier ohne Aussagewert für die philologische Analyse bleibt, findet sich dann auch in der sprachlichen Untersuchung der Texte wieder, wo über Seiten hin Tabellen mit Auflistungen zu Phonogrammen, Morphogrammen, graphischen Varianten u. a. m. (30-40) geboten werden. Im Editionsteil (79-360) sind im ersten Abschnitt in chronologischer Folge die «pièces datées» (79-268) und sodann im zweiten Abschnitt die «pièces non datées» (269-360) enthalten. Das ist ein aus sprachhistorischen Gründen mehr als begründetes Verfahren; andererseits wäre es aus literarhistorischer Perspektive aber auch ebenso wünschenswert gewesen, zwischen Texten zu unterscheiden, die Decottignies mit Sicherheit oder Wahrscheinlichkeit verfasst hat und solchen, bei denen er nur als Vertreiber wirkte. Cartons texteditorisches Prinzip ist es - und das ist richtig so - «pour base la version la plus ancienne de chaque texte» (26) zu wählen und sich von «le plus grand respect possible des textes de base» (27) leiten zu lassen. Aus diesem Grunde hat er darauf verzichtet, Korrekturen am Basistext vorzunehmen sowie dessen Interpunktion oder Worttrennungen zu aktualisieren, nur «pour en faciliter la lecture» (27). Jeder der Texteditionen sind detaillierte, in vier bzw. fünf Rubriken (Analyse, Herkunft, Datum, Autor des Textes und Melodie, wenn es sich um ein chanson handelt) gegliederte Informationen vorangestellt. Und jede Textedition wird in einem Apparat von informativen, sachkundigen Anmerkungen zum historischen bzw. soziologischen Hintergrund sowie neufranzösischen Übersetzungen schwieriger dialektaler Passagen begleitet. Nur Text 35 ist in gesamter Länge ins Neufranzösische übersetzt, weil die Fülle der notwendigen Anmerkungen zu groß geworden wäre. Ein Glossar (361-457), ein Index der Eigennamen (459-63) sowie eine Auswahlbibliographie (465-69) schließen den Band ab. Bei der Erstellung des detaillierten Glossars hat Carton, und da wird der versierte Sprachwissenschaftler und Dialektologe erneut sichtbar, 227 Besprechungen - Comptes rendus 3 In der année universitaire 1966/ 67 saß ich als junger Student dem jungen Dozenten F. Carton an der Universität Nancy zu Füßen, als er dort die Übungen «Exercices de phonétique» und «Exercices de laboratoire» durchführte. In bleibender Erinnerung von damals sind für mich F. Cartons Strenge gegenüber der Sache, aber auch gegenüber den Personen und seine bis ins Detail gehende Präzision bei allem, was er machte. «relevé la totalité des unités lexicales et des verbales dialectales, avec toutes leurs variantes graphiques», um auf diese Weise «un corpus utilisable statistiquement» (361) zu präsentieren. Darum darf es nicht verwundern, dass man in dem Glossar Lemmata findet wie etwa abondance, âge, alerte u. a. m., die man normalerweise nicht erwartet. Zwar ist und bleibt Jacques Decottignies ein auctor minor. Aber bekanntlich hat die Philologie die Aufgabe, sich auch mit den literarischen Zeugnissen solcher Autoren zu befassen. Darum ist die Tatsache, dass Fernand Carton diesen bislang wenig oder auch gar nicht bekannten Autor aus der Vergessenheit holt, ein mutiges und zugleich notwendiges Unterfangen. Und die Art und Weise, wie er dies getan hat, verlangt einem jeden Respekt und Anerkennung ab. Denn in einer aus «une trentaine d’années de recherches minutieuses» (hintere Einbandseite) resultierenden, von stupendem Fleiß zeugenden Arbeit hat F. Carton eine überzeugende Textedition vorgelegt. Arnold Arens ★ Ursula Bähler, Gaston Paris et la Philologie romane. Avec une réimpression de la Bibliographie des travaux de Gaston Paris publiée par Joseph Bédier et Mario Roques (1904), Genève (Droz) 2004, 873 p. (Publications romanes et françaises 234) Ursula Bähler nous offre un ouvrage très richement documenté sur Gaston Paris (1839- 1903), un des pionniers de la philologie romane et un des médiévistes français du xix e siècle les plus éminents. Cette vaste étude fournit une contribution très appréciable à l’historiographie de la philologie romane à travers un personnage emblématique. L’auteur transgresse les limites traditionnelles attribuées au genre biographique par de fréquentes ouvertures à implication plus générale sur les approches «institutionnelle, prosopographique, thématique, vue panoramique des travaux effectués dans le domaine pendant un laps de temps défini» (12). Elle confesse la fascination qu’exerce sur elle la personnalité de Gaston Paris et l’œuvre de ce savant fortement impliqué dans les événements de son temps. Rappelons, pour mémoire, qu’Ursula Bähler a publié en 1999 un ouvrage remarqué, Gaston Paris dreyfusard. Le savant dans la cité, avec une préface de Michel Zink. En prenant l’exemple de Gaston Paris, l’un des centres de gravitation du mouvement philologique de la deuxième moitié du xix e siècle, on touche en même temps à l’ensemble des problèmes scientifiques et institutionnels, mais aussi historiographiques, de la philologie romane à cette époque et même au-delà. L’image de Gaston Paris a été fortement ternie dès les années 1980, depuis l’avènement du New Medievalism, et plus particulièrement du New Philology; il «serait en effet un positiviste pur et dur qui aurait enterré les textes médiévaux sous un savoir philologique normatif et qui, de par ses idées ‹nationales› (pour ne pas dire ‹nationalistes›) aurait corrompu la discipline de la philologie romane dès son établissement même»(14). Cet ouvrage se situe dans le sillage du «groupe de Recherche sur l’Histoire de la Philologie romane» dirigé par Michel Zink. On citera la belle thèse d’Alain Corbellari de 1997, Joseph Bédier, écrivain et philologue et le grand ouvrage Évolution des études médiévales en France de 1860 à 1914, publiée en 2001, par Charles Ridoux. L’auteur rend hommage aux travaux de Michael Werner qui ont été à l’origine de son projet, présenté comme thèse d’habilitation à l’université de Zurich. Pour célébrer le centième anniversaire de la naissance de Gaston Paris, Michel Zink, de l’Institut, organisa les 27 et 28 mars 2003, à la Fondation Hugot du Collège de France, un colloque, dont les Actes, intitulés Le Moyen Âge de Gaston Paris. La Poésie à l’épreuve de la philologie, ont été publiés chez Odile Jacob, en 2004, peu de temps avant la parution de la thèse d’Ursula Bähler. Cette publication souligne encore davantage l’intérêt suscité par 228 Besprechungen - Comptes rendus