Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniIn memoriam Gustav Ineichen (6. 6. 1929-10. 7. 2005)
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Volker Noll
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In memoriam Gustav Ineichen (6. 6. 1929-10. 7. 2005) Am 10. Juli 2005 verstarb in Göttingen Gustav Ineichen. Noch ein Jahr zuvor hatten sich Freunde, Kollegen und Schüler dort zusammengefunden, um ihn zu seinem 75. Geburtstag mit einer Festschrift zu ehren. Für viele von ihnen war es das letzte Mal, dass sie diesen in vieler Hinsicht außergewöhnlichen Menschen und weltgewandten Sprachwissenschaftler in seinem Element erleben durften. Er gehörte einer Generation an, die sowohl nach ihrer Ausbildung als auch durch ihr Curriculum Romanistik als umfassende Wissenschaft betrieb. Der Name Gustav Ineichens ist untrennbar mit der Romanischen Bibliographie und den Romanistischen Arbeitsheften verbunden, die er über drei Jahrzehnte im Max Niemeyer Verlag herausgab. Gustav Ineichen wurde am 6. Juni 1929 im Kanton Luzern geboren. Bereits in jungen Jahren interessierte er sich für die Sprachen seiner Heimat. So war er mit dem italienischen Dialekt des Tessins und dem Rätoromanischen vertraut. Daneben beschäftigte er sich schon früh mit dem Russischen, studierte Romanistik und klassische Sprachen, lernte in seinem späteren, langjährigen Aufenthalt in Rom Arabisch und wandte sich schließlich dem Chinesischen und dem Koreanischen zu. Mit dem Orient ergaben sich vielfältige Berührungspunkte, wobei sich Gustav Ineichen vor allem der Arabistik und der Sinologie verbunden fühlte. Das Studium absolvierte Gustav Ineichen an der zweisprachigen Universität Freiburg/ Schweiz, wo Gianfranco Contini lehrte. Er entwickelte bald enge Bindungen zu Italien - vor allem zu Padua und Venedig - und wurde insbesondere auch durch die Beziehungen zu D’Arco Silvio Avalle, Ignazio Baldelli, Arrigo Castellani, Gianfranco Folena und Cesare Segre geprägt. Zur Basler Schule von Wartburgs und dem Französischen Etymologischen Wörterbuch, an dem er kurzzeitig arbeitete, fühlte er sich weniger hingezogen. Gustav Ineichen promovierte 1957 bei Arrigo Castellani über Die paduanische Mundart am Ende des 14. Jahrhunderts auf Grund des Erbario Carrarese (ersch. in ZRPh 73, 1957). Ein Jahr zuvor hatte er seine erste wissenschaftliche Arbeit, die Übersetzung des Rosenromans aus dem Altfranzösischen, veröffentlicht. Seine Habilitationsschrift verfasste Gustav Ineichen als Mitarbeiter der Fondazione Giorgio Cini unter der Ägide von Gianfranco Folena in Venedig. Es handelt sich um die kommentierte Herausgabe von El libro agregà de Serapiom (1962-66), der pharmakologischen Abhandlung eines gewissen Serapion aus Spanien in der volkssprachlichen Übertragung von Jacobus Philippus aus Padua. Der Serapion carrarese hatte auch seiner Dissertation zugrunde gelegen. Die Universität Zürich verlieh Gustav Ineichen 1963 die venia legendi. 1965 folgte Gustav Ineichen einem Ruf an die Universität Göttingen, von der seine gesamte weitere wissenschaftliche Laufbahn ausging. Diese Kontinuität wur- Vox Romanica 65 (2006): 270-272 In memoriam Gustav Ineichen (6. 6. 1929-10. 7. 2005) 271 de zweimal unterbrochen. Von 1970-75 übernahm Gustav Ineichen die Leitung des Schweizerischen Kulturinstituts in Rom (ISR), was ihn wiederum den variationsreichen Dialektgebieten Italiens und dem Mittelmeerraum, aber auch dem Orient nahebrachte. Bei den «Weißen Vätern» in Rom studierte er in dieser Zeit Arabisch. Gustav Ineichen fühlte sich dem Katholizismus romanischer Prägung verbunden, wobei er die nach seiner Aussage bestehende katholische Leichtigkeit gern gegenüber der Strenge des norddeutschen Protestantismus hervorhob. In die römische Zeit fiel auch Gustav Ineichens maßgebliche Beteiligung an der Übersetzung der Codices Madrid von Leonardo da Vinci (1974). 1985 verbrachte Gustav Ineichen einige Zeit als Gastprofessor an der Universität Nanking (China). Bei seinen sprachtypologischen Studien war er einige Jahre zuvor auf die besondere Struktur des Chinesischen gestoßen und erlernte diese Sprache dann in den Veranstaltungen eines Göttinger Kollegen. Der Sachverhalt ist charakteristisch für Gustav Ineichens wissenschaftliche Aufgeschlossenheit und Neugier sowie seine pragmatische Einstellung. Er legte Wert darauf, dass man «Kenntnisse über Sprachen und Kulturen nicht nur am Schreibtisch und aus Büchern, sondern stets auch aus persönlichen Erfahrungen in situ erwerben sollte». In seiner kleinen Autobiographie Sprachen, Länder und Reisen (2000) beleuchtet Gustav Ineichen weitere Stationen seines Lebensweges und zeichnet seinen Werdegang in diesen «Erinnerungen eines Professors» - so der Untertitel - auf originelle und in vielen Punkten anekdotische Art nach. Als Ordinarius für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität Göttingen (1965-70 und 1975-94) setzte Gustav Ineichen einerseits einen wissenschaftlichen Schwerpunkt in der Beschäftigung mit dem italienischen und dem französischen Mittelalter. Dabei war ihm die Einbindung des Kultur- und Geisteslebens sowie sprachphilosophischer Überlegungen besonders wichtig. Sein Beitrag «Dantes Verhältnis zur Sprache» (1973) zeigt dies auf anschauliche Weise. 1985 erschien seine Kleine altfranzösische Grammatik. Andererseits konzentrierte sich Gustav Ineichen aus einem strukturalistischen Ansatz heraus auf Fragen der modernen Linguistik, vor allem im Bereich der romanischen und der allgemeinen Sprachtypologie, der er 1979 unter gleichem Titel eine vielbeachtete Monographie widmete. Dieses Gebiet entsprach im besonderen seiner weitgefächerten linguistischen Orientierung. Auch zur Orientalistik veröffentlichte er eine Reihe von Beiträgen. Eine eindrucksvolle Synthese aus seiner Beschäftigung mit dem Orient und der romanischen Welt legte er in Arabisch-orientalische Sprachkontakte in der Romania - Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Mittelalters 1997 vor. 1999 erschien ein Sammelband mit Gustav Ineichens maßgeblichen Aufsätzen zu Typologie und Sprachvergleich im Romanischen, der die Breite seines Schaffens mit Themen wie Dante, Marco Polo, Nebrija, Sephardentum, lingua franca und der neueren Sprachpolitik in den romanischen Ländern dokumentiert. Zu seinem 60. und zu seinem 75. Geburtstag wurde Gustav Ineichen durch die Festschriften Variatio linguarum (1989) und Sprachkontakte in der Romania (2004) geehrt. Er war Mitglied der Accademia Galileiana in Padua und der New York Academy of Science. Volker Noll 272 Als Romanist und Sprachwissenschaftler lässt sich Gustav Ineichen aber nur zum Teil über seine Beiträge und Schriften erschließen. Davon abgesehen hielt er nicht viel von ausufernder Publikationstätigkeit. «Schreiben Sie nicht zuviel» lautete eine seiner Maximen. Vor allem war Gustav Ineichen auch ein begnadeter Hochschullehrer. Wer ihn erlebt hat, weiß um die ihm eigene Faszination, mit der er seine Zuhörerschaft fesselte. Für gewisse Formen der Hochschulpädagogik und Didaktik konnte er sich möglicherweise deshalb nicht erwärmen. Zumindest war er nicht auf sie angewiesen, weil er sie auf natürliche Weise einsetzte. Auch hatte er eigene Vorstellungen zu Funktion und Beschreibung von Literatur. Als Hochschullehrer lagen Gustav Ineichen Schulenbildung und Epigonentum fern. Er pflegte einen Individualismus, den er in die Wissenschaftsgemeinschaft förderlich einzubringen wusste und den er auch anderen zugestand. So gewährte er seinen Schülern einen breiten Freiraum und unterstützte sie in der Beschäftigung mit Themen und Gebieten, für die sie sich interessierten. Seine Großherzigkeit, die in vielen Dingen hervortrat, zeichnete ihn besonders aus. Wer für ihn arbeitete, brachte sich mit Begeisterung ein und empfand das eigene Engagement nie vordringlich als berufliche Verpflichtung. Schüler müssen sich irgendwann von ihren Lehrern lösen. Diesen Standpunkt hat Gustav Ineichen immer vertreten. Auch er selbst bewies, dass er loslassen konnte. Als er sich im Alter von 65 Jahren emeritieren ließ, brachte er im Vorfeld dieses Ereignisses auf seiner Bürotür folgenden Hinweis an: «Prof. Ineichen: Rücktritt aus Altersgründen». Natürlich sollte dies nicht seine subjektive Befindlichkeit zum Ausdruck bringen, denn er fühlte sich wohl. Er hatte seine anstehende Emeritierung damit nur auf eine prägnante Formel gebracht. Mit Gustav Ineichen verliert die Romanistik einen originellen, wachen und brillanten Kopf. Er besaß eine gewinnende Persönlichkeit, die sich durch besonderen Charme und Humor, Großzügigkeit, Loyalität, eine positive Lebensauffassung und allgemeines Wohlwollen auszeichnete. Seine Freundschaft und menschliche Wärme werden uns fehlen. Sein Vertrauen in das Leben wird alle, die ihn näher gekannt haben, stets begleiten. Münster Volker Noll
