eJournals Vox Romanica 66/1

Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2007
661 Kristol De Stefani

Gerold Hilty und die erlebte (Zürcher) Romanistik in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

121
2007
Gerold  Hilty
Georges  Lüdi
vox6610001
Gerold Hilty und die erlebte (Zürcher) Romanistik in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 1 À l’occasion du 80 e anniversaire de Gerold Hilty, Georges Lüdi, président du Curatorium de Vox Romanica, s’est entretenu avec celui qui a été le rédacteur de notre revue pendant 28 ans, de 1963 à 1991. Nous avons le plaisir de publier ici les souvenirs et les réflexions de Gerold Hilty en hommage à notre grand prédécesseur. La rédaction Wie sah die Romanistik bei Deinem Studienbeginn aus? Ich habe meine Studien der Romanischen Philologie an der Universität Zürich im Wintersemester 1946/ 47 begonnen. Zuerst eine Bemerkung zur Zahl der Professoren. Es waren vier Professoren für Romanische Philologie: Jakob Jud für Französische und Italienische Sprachwissenschaft, Arnald Steiger für Spanische Sprach- und Literaturwissenschaft, dann in der Literatur Theophil Spoerri für Französische Literatur seit der Renaissance und Mittelalterliche Italienische Literatur und Reto Bezzola für die Ältere Französische und die Neuere Italienische Literatur. Jede Professur hatte damals ein Lehrdeputat von acht Stunden. Daneben gab es - nach kriegsbedingter Unterbrechung - Lektorate für Französisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch. Das war das Angebot. Nun zum Inhaltlichen. Jakob Jud vertrat damals selbstverständlich die Sprachgeographie und die Dialektologie. Anfang der vierziger Jahre war der AIS abgeschlossen worden; es wurde noch am Index gearbeitet, dessen Abschluss Jakob Jud nicht mehr erlebt hat. Daneben vertrat er die Historische Sprachwissenschaft, aber nicht ausschliesslich; gelegentlich bot er auch Vorlesungen über modernere Sprachphasen an, zum Beispiel über «français populaire» und dergleichen. Arnald Steiger hielt Vorlesungen über Spanische Sprachwissenschaft, vor allem historische; zu seinen Lehrverpflichtungen gehörten im französischen Bereich die Proseminarien und die Vorlesungen für die Sekundarlehramtskandidaten; sein Lehrauftrag war also nicht auf das Spanische beschränkt, umfasste dort aber auch die gesamte Literatur. Er war mit anderen Worten für das Spanische allein zuständig, sowohl für die Sprachwie auch für die Literaturwissenschaft. Reto Bezzola lehrte die Altfranzösische Literatur, worüber er auch viel publiziert hat, und daneben die neuere Italienische Literatur. Das war natürlich für ihn ein bisschen frustrierend, hatte er 1 Diese Erinnerungen und Ansichten von Gerold Hilty stellen die Verschriftlichung eines Gesprächs am 17. Oktober 2007 in seinem Haus in Oberrieden dar. Die Fragen stellte Georges Lüdi. Der orale Stil wurde bewusst beibehalten; Gerold Hilty hat den Text inhaltlich durchgesehen und präzisiert. Vox Romanica 66 (2007): 1-9 Georges Lüdi doch sowohl im Italienischen wie im Französischen den in den Augen der Studierenden weniger dankbaren Teil, während Theophil Spoerri sich die attraktiveren Perioden von den Anfängen der italienischen Literatur bis zu Tasso und von der französischen Renaissance bis in die Moderne reserviert hatte. Methodisch dominierte bei Theophil Spoerri die sogenannte Stilkritik; er gab zusammen mit Emil Staiger die Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Stilkritik Trivium heraus, deren Erscheinen allerdings Anfang der fünfziger Jahre nach nur neun Jahrgängen eingestellt wurde, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern wohl auch, weil sich die Stilkritik in der Form, wie sie in der Zeitschrift betrieben wurde, wissenschaftlich ein bisschen totgelaufen hatte. War diese Zürcher Situation repräsentativ für die Romanische Philologie im deutschsprachigen Raum oder hatte Zürich ein eigenes Profil? Zürich, aber auch Bern, waren sicher Spezialfälle in Bezug auf die Sprachgeographie. Aufgrund des AIS waren diese beiden Universitäten wegen der Gegenwart von Jakob Jud und Karl Jaberg gleichsam das Mekka der Sprachgeographie; sie wurde an diesen Universitäten intensiver betrieben als an anderen deutschsprachigen Universitäten. In Basel wirkte damals Walther von Wartburg, der sich stärker auf sprachhistorische Studien konzentrierte; seine grösseren Werke waren damals bereits erschienen, von den 40-er Jahren an arbeitete er vor allem intensiv an seinem FEW, d. h. in der historischen Lexikologie, aber in einem weiten Rahmen. Soweit ich das überblicke, war in Deutschland damals die alte Philologie, die Textphilologie noch lebendig; sie hatte den Krieg überlebt; es erschienen weiterhin Textausgaben in der Tradition der deutschen Romanistik, in welcher man ursprünglich, um sich habilitieren zu können, mindestens eine Textausgabe hergestellt haben musste. Insofern wurden in Zürich durchaus besondere Akzente gesetzt. Dazu kommt, dass, auch bei Jakob Jud, in Zürich ein klarer Einfluss der Genfer Schule von Ferdinand de Saussure spürbar war. Jud hat sich sehr intensiv mit Saussure und vor allem mit Bally auseinandergesetzt. Er war keineswegs ein sturer Sprachhistoriker, sondern brachte grosses Interesse für die in Genf entwickelte synchronische Perspektive auf. Inwiefern war damals die Idee der «Gesamtromanistik» noch lebendig und gab es schon Ansätze der Auseinanderentwicklung in Richtung von Einzelphilologien? Die Romanistik war damals noch viel stärker als heute eine Einheit. Jakob Jud verband regelmässig französische mit italienischen Fragestellungen und suchte immer wieder den Überblick über die Gesamtromania. Dabei lag ihm auch das Rätoromanische sehr am Herzen. Auch Arnald Steiger versuchte, über das Spanische 2 Gerold Hilty und die erlebte (Zürcher) Romanistik hinauszugehen, natürlich namentlich in Richtung des Arabischen, dessen Einfluss auf die romanischen Sprachen sein besonderes Forschungsgebiet war. Aber auch die Studierenden betrachteten sich als «Romanisten» und bildeten eine Gemeinschaft. Es gab gemeinsame Ausflüge und Feste, eine gemeinsame Romanistenweihnacht, zu welcher selbstverständlich alle Professoren kamen. Obwohl die Studienschwerpunkte der Studierenden verschieden sein konnten, Französische, Spanische, Italienische Philologie oder Vergleichende Romanische Sprachwissenschaft als Hauptfächer gewählt werden konnten, fühlten sich die Romanisten als Einheit. Das Romanische Seminar mit seinen drei Räumen war gleichsam ihre Heimat, wo sich die schätzungsweise etwa 150 Studierenden trafen und miteinander diskutierten. Die Betreuungsverhältnisse waren ziemlich gut, auch wenn sich die Studierenden nicht ganz gleichmässig auf die vier Professuren aufteilten; in den (Pro-)Seminarien dürfte der Durchschnitt bei etwa 25 Teilnehmern gelegen haben. Welches waren in der Folgezeit die entscheidenden Veränderungen und wann haben sie stattgefunden? In den 50-er Jahren hat sich zuerst wenig verändert, weil die Ablösung von Jakob Jud durch Konrad Huber anfangs des Jahrzehnts keinen Bruch darstellte. Huber war ein Schüler von Jud, hatte seine Dissertation im Bereich «Wörter und Sachen» geschrieben und führte die Wortforschung seines Lehrers weiter; er vertrat nicht eine andere Sprachwissenschaft als er. Er hat wohl etwas mehr sprachhistorische Themen angepackt, gerade auch in seiner unveröffentlichten Habilitationsschrift, aber es war keine Neuausrichtung; seine Arbeitsgebiete waren wohl sogar weniger breit als jene seines Lehrers, wie dies bei jungen Nachfolgern älterer Lehrstuhlinhaber häufig der Fall ist, welche ja mit dem abtretenden Vorgänger verglichen werden und nicht mit dem, was dieser Vorgänger bei seinem Amtsantritt gewesen sein mag. Eine Einschränkung lag zum Beispiel darin, dass er sich nur ganz selten mit Französisch beschäftigt hat und dann meist mit etwas periphereren Themen wie Sondersprachen. Das Französische gehörte auch nicht zu seinem eigentlichen Lehrgebiet. Denn beim Rücktritt von Jakob Jud hatte Arnald Steiger den Lehrstuhl übernommen und damit, neben dem Spanischen, auch die Verantwortung für die Französische Sprachwissenschaft. Dies war eigentlich schade, denn er hielt dann Vorlesungen über französische Themen, die nicht seine Spezialgebiete waren, und musste deshalb seine eigentliche Stärke, das Spanische, vernachlässigen. Für ihn war wohl dieser Wechsel, den er selber angestrebt hatte, auch wissenschaftlich nicht besonders fruchtbar, weil er im französischen Bereich kaum geforscht hatte. Und eine Forschung über das Frankoprovenzalische im Kanton Freiburg führte zu keinen Publikationen. Aber er war ein ausgezeichneter Didaktiker; er konnte komplizierte Probleme so darstellen, dass sie verstanden wurden, und vermochte auch in seinen französischen Vorlesungen die Studierenden zu begeistern, auch die Sekundarlehramtskandidaten. 3 Georges Lüdi Ist es richtig zu sagen, dass Deine Wahl als Nachfolger von Arnald Steiger auf das Wintersemester 1959/ 60 die erste entscheidende Veränderung in der romanischen Sprachwissenschaft darstellte? Ja, obwohl es vom Lehrauftrag her kein Bruch war, weil ich ja sowohl die Französische Linguistik wie die gesamte Iberoromanistik zu übernehmen hatte, inklusive der Literatur. Ich hatte zweifellos mehr auf dem Gebiet des Französischen gearbeitet als Arnald Steiger, vor allem im Rahmen meiner unpublizierten Habilitationsschrift über die erlebte Rede, die ich «oratio reflexa» nenne. Zwar hatte ich dafür alle romanischen Sprachen berücksichtigt, aber die grossen Diskussionen um diese Stilform fanden natürlich im Französischen statt. Und auch wenn es institutionell kein Bruch war; war es sicher in der Art etwas Neues, mit der Zeit auch im Inhalt der Lehrveranstaltungen. Ich habe versucht, meinen Weg zu finden und das Historische mit dem Synchronen zu verbinden, indem ich neben Vorlesungen über Strukturunterschiede zwischen dem Deutschen und Französischen auch Lehrveranstaltungen über französische Sprachgeschichte anbot. Daneben habe ich früh begonnen, mit Kollegen zusammenzuarbeiten, z. B. schon im Wintersester 1961/ 62 mit Stefan Sonderegger in einem gemeinsamen Seminar über «Sprachliche Begegnungen zwischen Galloromanen und Rheingermanen», mit einer Exkursion bis in die Niederlande. Dabei versuchte ich, das Spanische nicht zu kurz kommen zu lassen und bot auch literaturwissenschaftliche Vorlesungen an, beispielsweise über Lope de Vega und, im Anschluss daran, über die «Jüdin von Toledo». In der Literaturwissenschaft hatte schon in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre ein Einschnitt stattgefunden. Nach dem Rücktritt von Theophil Spoerri Ende Sommersemester 1956 übernahm Bezzola den Lehrstuhl, und im Sommersemester 1957 wurde auf ein persönliches Ordinariat Georges Poulet berufen, allerdings mit einem sehr beschränkten Lehrgebiet (von der französischen Revolution bis zur Gegenwart), während sein Kollege Bezzola die gesamte Italienische und Rätoromanische Literatur und die Französische Literatur von der Eulalia-Sequenz bis Ende des 18. Jahrhunderts vertrat. Dennoch hat Georges Poulets Wahl die Entwicklung der Zürcher Literaturwissenschaft entscheidend mitgeprägt; methodisch hat mit seiner Lehrtätigkeit etwas Neues begonnen, und er hat im übrigen im Verlaufe der Jahre durchaus auch über Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts geforscht und gelesen. Du hast die starke Erweiterung des Romanischen Seminars in den Folgejahren massgeblich mitbestimmt. War das im wesentlichen eine quantitative Erweiterung oder war sie auch thematisch? Und inwiefern geschah dies im Einklang mit der internationalen Entwicklung der Romanistik? Ich hatte schon früh damit begonnen, mein grosses Gebiet in Zusammenarbeit mit anderen abzudecken. Da wäre beispielsweise Georges Güntert für den Bereich der spanischen Literatur zu erwähnen. Aber gerade weil ich wusste, dass 4 Gerold Hilty und die erlebte (Zürcher) Romanistik mein Lehrgebiet zu gross war, dachte ich sehr früh, der Lehrkörper müsse erweitert werden. Und in den 60-er Jahren war dies einigermassen leicht möglich, weil Geld zur Verfügung stand und die Studierendenzahlen zunahmen. Dazu kam noch etwas Persönliches. Heinrich Schmid und ich waren bei der Nachfolge Steiger Konkurrenten gewesen; nach meiner Wahl habe ich sofort versucht, auch für Heinrich Schmid einen Platz am Romanischen Seminar zu schaffen. Nach seiner Habilitation wurde er zunächst als Assistenzprofessor gewählt und später zum Extraordinarius befördert. Das war die erste Erweiterung des Lehrkörpers. Dabei hat er nicht nur mich selber in historischer französischer Sprachwissenschaft und Konrad Huber in italienischer Sprachwissenschaft entlastet, sondern auch der Vergleichenden Romanischen Sprachwissenschaft neue Impulse gegeben, bis hin zum Rumänischen, das er als einziger vertrat. Da er im Iberoromanischen kaum gearbeitet hatte, haben wir Absolvierende des Faches «Vergleichende Romanische Sprachwissenschaft» immer gemeinsam geprüft. Heinrich Schmid war zuständig für den ganzen Osten, ich für den Westen, von Portugiesisch bis Französisch. Das ergab eine ausgezeichnete Zusammenarbeit, wobei Heinrich Schmid einen besseren Gesamtüberblick hatte. Als Ende der 60-er Jahre Reto Bezzola zurücktrat, veränderte sich die Konstellation in den Literaturwissenschaften stark. Ich drängte zunächst sehr darauf, dass im Französischen eine selbständige Professur für mittelalterliche Literatur geschaffen wurde. Daneben musste die Italienische Literatur vertreten sein, so dass es mit der Berufung von Marc René Jung für Mittelalterliche Französische und Ottavio Besomi für Italienische Literatur zu einer eigentlichen Verdoppelung des Lehrstuhls kam. Im Gegensatz zu Deutschland, wo die Vorstellung vorherrschte und vorherrscht, romanische Literaturwissenschaftler müssten mehr als eine Literatur vertreten können, war also hier, besonders im Italienischen, eine Bewegung hin zu Professuren für Einzelliteraturen zu beobachten. Allerdings war die Argumentation zugunsten der Verdoppelung der Professur zum Teil anders. Eine gewisse Tragik von Bezzola war in meinen Augen, dass er forschungsmässig die fruchtbarsten Arbeiten im Altfranzösischen vorgelegt hatte, aber im Hinblick auf die mutmasslichen Interessen der Studierenden (die wohl nur zum Teil zutrafen) dieses Gebiet in der Lehre vernachlässigte. Dies wurde mit einer Professur, in der das Mittelalter im Zentrum stehen sollte, korrigiert. Damit reihte sich Zürich wiederum in eine deutsche Tradition der mittelalterlichen Philologie ein. Dabei verfügte Marc René Jung über ein feines Sensorium für andere romanische Literaturen des Mittelalters. Beim Rücktritt von Georges Poulet kam es 1970 gar zu einer Verdreifachung seiner Stelle und einer Erweiterung des methodischen Spektrums mit einem Ordinariat (Hans-Jost Frey), einem Extraordinariat (Luzius Keller) und einer Assistenzprofessur (Jacques Geninasca). Als Hans-Jost Frey Ende der siebziger Jahre in die «Vergleichende Literaturwissenschaft» hinüberwechselte, wurde Geninasca sein Nachfolger, und dazu wurde auf das Wintersemester 1979/ 80 Francillon als dritter Vertreter der neueren französischen Literatur gewählt. Das Ungleichgewicht zwischen der franzö- 5 Georges Lüdi sischen Literatur auf der einen, der italienischen und der spanischen Literatur auf der anderen Seite, wurde mit der Beförderung von Georges Güntert für Italienische und Spanische Literatur (Assistenzprofessor 1969, ausserordentlicher Professor 1973, Ordinarius 1978) etwas gemildert. Aufgrund der sehr hohen Studierendenzahlen (allein für das Französische über 400) - und im Zusammenhang mit meiner Ablehnung eines Rufes nach Tübingen («Sie würden mir den Entscheid, in Zürich zu bleiben, erleichtern, wenn eine Parellelprofessur zu der meinigen für Französische Linguistik geschaffen würde», schrieb ich dem Erziehungsdirektor) - wurde dann im Winter 1977 auch mein Lehrstuhl verdoppelt (Berufung von Jakob Wüest), um mich im Bereich des Französischen zu entlasten. Die Berufung von Jakob Wüest bot dann aber doch die Möglichkeit, Dich vermehrt und am Schluss ausschliesslich in die Iberoromanistik zurückzuziehen, und damit die Tendenz nach «Nationalsprachprofessuren» zu verstärken. Ja, aber da kam mein Rektorat dazwischen, während dessen ich sozusagen nicht gelesen habe und Jakob Wüest die Französische Linguistik weitgehend allein vertreten hat. Dass er sich in der Lehre fast ausschliesslich auf die synchrone französische Linguistik konzentrierte (während er durchaus weiter zu historischen Fragestellungen publizierte), mag zur Legendenbildung beigetragen haben, bei Hilty könne man nur historische Linguistik studieren. Die Wahl von Wüest war durchaus ein Schritt auf dem Weg in die Spezialisierung, die später bei der Nachfolge von Jung zur Schaffung einer eigenen Professur für Historische Französische Sprachwissenschaft (Martin Glessgen) führte. Dies war möglich, weil 1984 eine zweite Professur für Französische Literatur des Mittelalters geschaffen worden war (Luciano Rossi). Ich habe demgegenüber lange Zeit bewusst die vergleichende Perspektive Französisch-Spanisch gepflegt, z. B. mit einer Vorlesung über die Ausgliederung der westromanischen Sprachen zu Beginn der 90-er Jahre, die bei den Studierenden auf ein sehr gutes Echo stiess (über 100 Hörer). Und meine allerletzte Vorlesung war über die ältesten Sprachdenkmäler im galloromanischen und im iberoromanischen Raum. Damit versuchte ich weiterhin, die Westromania als gesamten Raum zu vertreten. Dass ich mich freilich in den letzten Jahren noch bewusster aufs Spanische zurückgezogen habe, geschah auch aus taktischen Gründen, um die Notwendigkeit einer eigenen Professur für Iberoromanische Sprachwissenschaft zu beweisen und zu verhindern, dass mein doppelter Lehrauftrag bei meiner Nachfolge auf die Landessprache Französisch eingeschränkt würde. Die Berufung von je einer Professorin für die Italienische und Spanische Literatur bei der Nachfolge Güntert (Tatiana Crivelli und Itzíar López Gil) hat in der Tat die Verselbständigung der einzelnen Romanischen Philologien noch verstärkt. 6 Gerold Hilty und die erlebte (Zürcher) Romanistik Wie beurteilst Du die heutige Situation die man, besonders im Vergleich mit der eingangs skizzierten Ausgangslage mit dem Stichwort «Vervielfachung der Lehrstühle verbunden mit hoher Spezialisierung» bezeichnen könnte? Im Grunde genommen ist es schade, dass die allgemeine, sprachübergreifende Perspektive heute viel weniger gepflegt wird als noch zu meiner Zeit. Das Problem liegt natürlich auch in der Entwicklung der wissenschaftlichen Methoden. In der historischen Sprachwissenschaft lag die vergleichende Perspektive nahe; mit anderen Worten führt die historische Perspektive der Romanistik fast zwangsläufig zum Vergleich (z. B. unter den Nachfolgesprachen des Lateins). Bei moderneren Methoden, etwa im Rahmen des Generativismus, scheint mir die vergleichende Perspektive nicht unbedingt sinnvoll, obwohl dies natürlich durchaus gemacht wird. Dies führt dazu, dass mit dem Überhandnehmen gewisser moderner Ansätze die vergleichende Perspektive fast zwangsläufig leidet. Schon unter dem Strukturalismus, aber da war es durchaus noch möglich, wenn auch sehr anspruchsvoll, Strukturen zu vergleichen. Die Typologie, so wie sie Georg Bossong mit Überzeugung vertritt, wäre eine Möglichkeit, aber wohl nur für eine Minderheit. Und sie führt nicht überall zu gesicherten Resultaten, wie ich das in Vox Romanica 43 bei der Besprechung einer typologischen Arbeit zu den phonologischen Systemen der romanischen Sprachen gezeigt habe. Auch der Plenarvortrag von Roegiest am Romanistenkongress in Innsbruck konnte meine Bedenken nicht ausräumen, dass die methodischen Probleme eines solchen Ansatzes es schwierig machen, die gesamte Romania ins Auge zu fassen. In dem Masse, wie die historische Sprachwissenschaft zurückgegangen ist, ist deshalb fast notgedrungen auch die sprachübergreifende Perspektive zurückgegangen. Die Probleme des Strukturunterschieds zwischen Deutsch und Französisch, über die ich selber publiziert habe, sind Teilprobleme, die eigentlich mehr auf der praktischen Ebene liegen als auf einer tieferen sprachlichen Ebene. Gewisse Erkenntnisse gewinnt man freilich bei einem solchen Sprachvergleich, der fast notgedrungen auf Übersetzungen basieren muss, aber es ist einfach viel schwieriger, mit modernen Methoden die gesamte Romania zu überblicken, wenn man nicht auf einer wissenschaftlich sehr oberflächlichen Ebene stehen bleiben will. Einen gegensätzlichen Trend zur extremen Auffächerung beobachtet man in jenen Universitäten, welche einzelsprachliche Lehrstühle radikal zugunsten übergreifender, allgemeiner Lehrstühle aufgeben wollen. Ist das eine echte Alternative? Ich glaube nicht, dass es eine überzeugende Alternative ist. Wenn man von Dutzenden von Sprachen spricht, welche der Hörer einer Vorlesung oder der Leser eines Artikels nur zum kleinen Teil kennen kann, dann wird die Wissenschaft aus meiner Sicht bis zu einem gewissen Grade unkontrollierbar. Da kann dann vieles 7 Georges Lüdi gesagt werden, das gut tönt und den Anschein von sehr umfassenden Kenntnissen erweckt; aber ich bin etwas skeptisch, ob die Kenntnisse dann wirklich so umfassend sind. Gewisse Universitätsbehörden, nicht nur in der Schweiz, sondern z. B. auch in Frankreich und in Deutschland, streichen als Antwort auf die rückläufigen Studierendenzahlen in den Sprachfächern massiv Professuren oder gar ganze Institute. Wie kann, wie soll die Romanistik darauf reagieren? Zunächst können wir einen Blick auf die Entwicklung der Zahlen der Hauptfachstudierenden in Französisch, Italienisch und Spanisch in Zürich über 10 Jahre hinweg werfen. Im Französischen ging die Anzahl von 325 auf etwa 240 zurück, im Italienischen von 187 auf 122. Im Spanischen hingegen verzeichnen wir eine klare Zunahme von 84 auf 145; Spanisch hat in Zürich die Landessprache Italienisch überholt. In Basel ist die Entwicklung ähnlich, in anderen Ländern Europas ebenfalls. Aber welches sind die Gründe? Und welche Konsequenzen sollten wir für unsere Fächer daraus ziehen? Es ist natürlich recht schwierig, etwas gegen diese Entwicklung zu tun. Wenn man die Entwicklung im Spanischen sieht, so ist ganz klar, dass die Zunahme zu einem rechten Teil durch Südamerika bedingt ist. Das kann uns einen Hinweis geben: es geht dort mehr um Kulturwissenschaft als streng genommen um Sprachwissenschaft. Ich halte es durchaus für möglich, dass die Sprach- und Literaturwissenschaften wieder mehr Interessenten finden, wenn sie bewusster in die Kulturwissenschaften eingebettet werden. In Südamerika sind die kulturellen Probleme so gross, dass man sie nicht übersehen kann. Aber man muss versuchen, diese kulturellen Probleme mit den sprachlichen Problemen in Verbindung zu bringen, auch wegen der Kulturwissenschaften, die ja sonst oberflächlich und blutleer wären, da ja Kultur fundamental von der Sprache getragen wird. Eine Entwicklung, die vielleicht aus dem Krebsgang hinausführt, könnte wie gesagt darin bestehen, dass Sprachwissenschaften und Kulturwissenschaften stärker zusammengehen, womit auch mögliche Spannungen zwischen Sprach- und Literaturwissenschaften gegenstandslos würden. Für fremde Kulturen ist das Interesse wirklich vorhanden. Aber die Philologien müssen dann ganz extrem darauf hinwirken, dass Sprach- und Kulturstudien parallel gehen, dass man nicht über Kulturen arbeitet, ohne deren Sprache zu kennen und zu berücksichtigen. An die Kulturwissenschaften muss denn auch die Forderung nach sprachlicher Absicherung gestellt werden. Es ist ein echter Widerspruch, wenn Kulturforschung ohne Sprachforschung betrieben wird. Dabei ist man nicht an «Nationalkulturen» gebunden. Es gibt z. B. innerhalb der 8 Gerold Hilty und die erlebte (Zürcher) Romanistik Romania durchaus kulturelle Erscheinungen, die über Sprachgrenzen hinweggehen und für deren Verständnis Kenntnisse der verschiedenen Sprachen notwendig sind. Allerdings muss dafür die Tatsache, dass Kultur etwas mit Sprache zu tun hat, von der betreffenden Sprache getragen wird, wieder vermehrt ins Bewusstsein eindringen; im Anschluss daran wäre der Beitrag der Sprachwissenschaft wieder klarer zu definieren. Also eine Entwicklung in Richtung area studies? Ja, das sind grundsätzlich nicht unterschiedliche Perspektiven. Zur Erforschung eines kulturellen Raumes gehört durchaus auch die Kenntnis seiner Geschichte, seiner Geographie usw. Kann «Bologna» einen Einfluss auf die Entwicklung der Romanistik haben? Ich bin natürlich nicht mehr in die Umsetzung der Bolognareformen involviert. Meines Erachtens ist diese Umsetzung ein Intelligenztest für die Professoren. Soweit ich höre, ist Bologna am Romanischen Seminar in Zürich einigermassen intelligent eingeführt worden. Die Auswirkungen auf die besprochene Entwicklung sind nicht von vornherein negativ, so z. B. die Stufung des Studiums gegenüber einem unstrukturierten Studium. Die Professoren müssen allerdings mögliche negative Konsequenzen sinnvoll abfedern. Es könnte ein Vorteil von Bologna sein, geeignete Gefässe für die oben geforderte Verschränkung von Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften bereitzustellen. Letzte Frage: welches ist heute die wissenschaftliche und/ oder die gesellschaftliche Relevanz der Romanistik? Wenn wir einerseits davon ausgehen, dass das Sprechen und Verstehen von Sprachen die Grundlage für den interkulturellen Austausch darstellt, und andererseits Sprachwissenschaft als eine fundamentale Dimension der Kulturwissenschaft verstehen, dann ist die gesellschaftliche Relevanz, als Basis für die Finanzierung unserer Disziplin, sicher vorhanden. Um sich dieser Herausforderung zu stellen, muss sich die Romanistik aber wohl auch wissenschaftlich bewegen, auch um potentielle junge Wissenschaftler zu begeistern, muss jenseits ausgetretener Pfade den Entwurf einer romanistisch geprägten Kulturwissenschaft wagen. Oberrieden/ Zürich Gerold Hilty mit Georges Lüdi 9