Vox Romanica
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0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniMartin-Dietrich Glessgen, Linguistique romane. Domaines et méthodes en linguistique française et romane, Paris (Armand Colin) 2007, 480 p.
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ouvrage, en dépit de son but affiché: «Das Buch möchte eine verständliche Einführung in Geschichte und Strukturen des Vulgärlateins auf dem aktuellen Forschungsstand [souligné par moi] geben.» (v). Sous le titre «Allgemeines» (ch. 11.1), Kiesler se livre à des considérations générales sur les progrès des études romanes. Constatant un certain morcellement des recherches, notamment en raison de différences d’opinion ou d’approche entre chercheurs et des définitions variables du latin vulgaire, qui, bien qu’inévitables, compliquent la tâche du chercheur, il ajoute: «Andererseits erfordert eine angemessene Beschreibung einen einheitlichen und kohärenten Blickpunkt» (103). Par là, il rejoint, plus qu’il ne pense, une de mes principales conclusions, à savoir que, les deux modèles de la successivité et de la simultanéité étant incompatibles l’un avec l’autre, les combiner, comme il le fait, débouche sur des résultats inacceptables et voue les recherches romanes au sur-place et à l’asphyxie. 4.5. En conclusion générale de mon appréciation critique, je dirais que l’ouvrage de Kiesler pèche par deux défauts particulièrement gênants. L’un consiste en ce que s’en dégage une impression de désordre du fait que l’auteur ne prend pas position entre les deux modèles concurrents, comme, me semble-t-il, il conviendrait en bonne méthode. Le second défaut vient de ce que l’auteur place, si je puis dire, la charrue devant les bœufs, en n’appliquant pas d’emblée, au volet latino-centrique de l’ouvrage, les excellents principes du chapitre 11. 5. Le bilan est mitigé. Dans la perspective du modèle de la simultanéité, auquel j’adhère et qui me paraît être actuellement le seul valable pour l’exploration comparative historique des parlers romans, bien des passages du livre de Kiesler me paraissent manqués ou surannés. Il eût été préférable que l’auteur, au lieu de nous offrir une présentation latinocentrique, qui fait sans doute l’affaire de latinistes, mais pas celle des romanistes, choisisse une fois pour toutes un seul modèle, le bon, et l’applique systématiquement au latin vulgaire reconstruit ou à reconstruire, dans la perspective de la problématique qu’il est un des quelques romanistes actuels à avoir examinée. Vu les qualités réelles que cet auteur manifeste aussi dans ce livre et l’étendue de ses connaissances, l’entreprise esquissée ici à son intention est, je l’espère, à portée de la main, pour le plus grand bien des études romanes. Je lui souhaite bonne chance. Robert de Dardel ★ Martin-Dietrich Glessgen, Linguistique romane. Domaines et méthodes en linguistique française et romane, Paris (Armand Colin) 2007, 480 p. In den Stürmen der diversen Studien - und Universitätsreformen - ob unter dem Zeichen des «Bologna-Prozesses» oder den Schlägen einsparungserpichter Kultusminister - scheint sich die «gute, alte» Romanistik nicht schlecht zu behaupten; wenigstens, wenn es nach Menge und Qualität der explizit unter diesem Markenzeichen in den letzten zehn Jahren erschienenen Publikationen geht. Darunter stellen bekanntlich das im Jahr 2005 mit dem achten Band abgeschlossene Lexikon der romanistischen Linguistik (LRL) und die auf drei Bände geplante (und hic et nunc - 2007 - bereits in zwei Bänden vorliegende) Romanische Sprachgeschichte (RSG) die Flaggschiffe dar. Rund um diese beiden monumenta aere perenniora gruppiert sich aber seit geraumer Zeit eine erkleckliche Anzahl mehr oder weniger umfangreicher Einführungen (etc.) in alle oder ausgewählte Sektoren der romanischen Sprachwissenschaft (cf. p. 34-36), auf denen die akademische Vermittlung der romanischen Sprachwissenschaft - und da ganz besonders in den deutschsprachigen Ländern - im wahrsten Wortsinn gründet. Verf. hat nun den überaus lobenswerten und vorzüglich 212 Besprechungen - Comptes rendus gelungenen Versuch unternommen, auf den Spuren aller in der Nachfolge der bekannten Origini delle lingue neolatine von Carlo Tagliavini verfassten Romanistik-Einführungen eine enzyklopädisch angelegte Konzeption der zeitgenössischen romanischen Sprachwissenschaft zu entwerfen, an zwei verschiedenen Universitätsstandorten (Straßburg und Zürich) eigenverantwortlich im akademischen Unterricht zu testen und dazu schlussendlich das vorliegende Buch zu verfassen, das trotz seines Umfangs und seines unübersehbar hohen Anspruchs bezüglich Materialmenge und Methodendarstellung immer noch als ad usum Delphini geschrieben gelten darf. Doch wird es wohl anderen Lesern dieses hochinteressanten Buchs so wie dem Rezensenten gehen, der sich - das Buch nach erfolgter Lektüre hoch erfreut beiseite legend - unmittelbar darnach mit Sorgenfalten auf der Stirn die Frage gestellt hat, ob es wohl in den Hörsälen der «real existierenden» Universitäten von heute genügend Studierende geben wird, die imstande sind, die in den vorliegenden 480 Seiten vorgestellten wissenschaftlichen Landschaften nutzbringend zu durchwandern, gebührend zu verstehen und sich dementsprechend zu eigen zu machen. Das Buch besteht aus einem Einleitungskapitel («Partie introductive») und vier Hauptteilen («Parties»), in die 35 graphisch überaus geschickt gestaltete Schwarzweiß-Graphiken eingeflochten sind, die seinen Charakter als manuel in heuristisch günstiger Form unterstreichen. In der «Partie introductive» (15-36) werden die folgenden vier Thematiken in ebensoviel Unterkapiteln abgehandelt: La linguistique romane et la structure du manuel (15- 18), Le concept de «langue» (19-26), La linguistique devant la langue et la société (28-31) und Lectures proposées en linguistique romane (32-36). Verf. scheut dabei auch nicht vor der Evokation aktueller «heißer» Themen zurück wie z. B. der Frage nach dem «apport de la linguistique à la société» (29-30) oder jener nach den «dangers de la linguistique» (30-31). Bereits in diesem Abschnitt kommt ein wesentliches Konstituens des ganzen Buchs deutlich zum Vorschein, nämlich das nach Argumenten und bibliographischen Ratschlägen sehr großzügig bemessene Durchschreiten großer thematischer Landschaften, das einem aufmerksamen Leser (semper utriusque generis) durchaus eine gute Vorstellung von jenen Reichtümern vermitteln kann, die die «Linguistique romane» nach Stoff, Methode und Theorienvielfalt früher wie heute zu bieten vermochte bzw. dies noch immer tut. Der erste Hauptabschnitt (Première partie: Les langues et variétés romanes actuelles, 39- 110) ist vor allem der Darbietung von «Stoff» gewidmet und stellt einen ausführlichen und akkurat gestalteten Rundmarsch durch alle geo-, sozio- und pragmalinguistischen Ecken und Winkel der mit den Füßen erfahrbaren (Alten und Neuen) Romania dar. Die Unterkapitel lauten: L’identification des langues romanes (39-46), Le contact linguistique dans la Romania (47-53), Les espaces linguistiques traditionnels dans la «Romania continua» (54- 67), La classification des langues romanes (68-72) und L’étude variationnelle des langues romanes (73-110). Dabei bleibt wirklich kein auch nur entfernt in der romanischen Linguistik als kanonisch geltender Aspekt unberücksichtigt; dies betrifft vor allem das zuletzt zitierte Unterkapitel, worin Verf. - der ja ein vielfach ausgewiesener Fachmann für verschiedene Species von Variation ist - zwischen Sprachabstand, Sprachausbau, primären und sekundären Dialekten, Norm- und Prestigefragen, Textgenera in Syn- und Diachronie und sogar der Dialektometrie all das erwähnt, was ein variationserprobter bzw. -orientierter Nachwuchsromanist kennen bzw. wissen sollte. Ob man den zweiten Hauptabschnitt (Structures et histoire interne des langues romanes, 113-295) als die pièce de résistance des ganzen Buches bezeichnen soll, mag Geschmackssache sein. Hinsichtlich der Anzahl der dafür aufgewendeten Seiten trifft diese Qualifikation auf jeden Fall zu. Dieser einsichtigerweise dominant innerlinguistisch und methodisch ausgerichtete Abschnitt enthält die folgenden vier Unterkapitel: Cadre général (113-23), Phonétique/ phonologie et graphématique (124-65), Morphologie et syntaxe (166-225) und Lexicologie (226-95). Verf. entfaltet dabei durch die geschickte Verflechtung von Text, er- 213 Besprechungen - Comptes rendus klärenden Aufstellungen, Übersichten, Tabellen und bibliographischen Hinweisen sowie durch eine sich nie allzu langatmig gebärdende Diktion ein wirklich beachtens- und lobenswertes didaktisches Geschick. Dazu trägt ein verschiedene Schriftgrößen und -arten (Fett, Normal, Kursiv, Kapitälchen etc.) lese(r)freundlich kombinierendes Layout durchaus das Seine dazu bei. In der Darstellung innerlinguistischer Sachverhalte werden erneut durchgehend variationsspezifische Fakten und Methoden eingeblendet sowie dem sprechenden Beispiel (in der Gestalt einzelner Belegformen oder ganzer Sätze) der ihm gebührende Platz eingeräumt, so dass bei den Lesern an keiner Stelle der Gedanken aufkommen kann, dass die diskutierten Sachverhalte und Probleme anders als multifaktoriell zu betrachten und zu erklären seien. Die Auswahl der Beispiele bleibt auch hier der ganzen Romania (mit Einschluss des Rumänischen) verpflichtet. Die Menge und die Zusammenstellung der erklärten und präsentierten Fachtermini sollten einen Anfänger durchaus in die Lage versetzen, sich nach dem eingängigen Studium dieses Buchs unverzüglich an die Lektüre einschlägiger (französischer und auch anderer) Texte der Sekundärliteratur zu wagen. Der dritte Hauptabschnitt (Histoire externe des langues et variétés romanes, 299-385) stellt das «diachrone Herz» des ganzes Bandes dar und liefert eine wirklich spannend geschriebene bzw. (im guten Wortsinn) «erzählte» Geschichte der romanischen Sprachen von der Ausbreitung des Lateinischen bis heute. Die entsprechenden Unterkapitel lauten: Introduction (299-307), La base latine des langues romanes (VII e siècle av. J.-C.-V e siècle apr. J.-C.) (308-14), La genèse de la Romania (V e -X e siècles) (315-31), La Romania au Bas Moyen Âge (XI e -XV e siècles) (332-50), L’époque moderne (1500-fin du XIX e siècle) (351-71), L’époque contemporaine (1880-2000) (372-80) und Les apports de l’histoire externe (381- 82). Dabei werden den Lesern mit aller Deutlichkeit die sozio-kulturellen, demographischen, ökonomischen sowie allgemein-historischen Bedingtheiten des Werdens, Entstehens und Vergehens von Sprachen und Sprechern sowie von Texten und deren Produzenten vor Augen geführt. Erneut fällt die geschickte und kompetente Beibringung von (linguistischen, metalinguistischen sowie textlichen) Beispielen und historischen Begebenheiten sehr angenehm auf. Die vom Verf. getroffene Periodeneinteilung erscheint im Lichte seiner Argumentation plausibel, ganz abgesehen davon, dass die Dichte der just der Romanistik quer durch mehr als zwei Jahrtausende zur Verfügung stehenden Dokumentation diesbezüglichen Innovationen oder gar Spekulationen sowieso wenig Spielraum lässt. Der abschließende vierte Hauptabschnitt (Éléments méthodologiques et pratique de la recherche en linguistique romane, 385-452) repräsentiert eine Mischung aus methodischen Reflexionen und direkt an die Adresse der romanistischen Studienanfänger gerichteten Hinweisen, Ermahnungen und Warnungen, die sich würdig in die Reihe (und den Tenor) dessen einreihen, was man seinerseits bei H. Lausberg und G. Rohlfs auf den ersten Seiten von deren Einführungsbüchern lesen konnte. Diese Reflexionen des Verf. sind keineswegs nur aus der Perspektive der für Studierende bestimmten Propädeutik von Interesse, sondern stellen darüber hinaus forschungspolitische Wegmarkierungen dar, die angesichts des angeschnittenen Themas einer gesamthaft gesehenen romanischen Linguistik und vor dem Hintergrund der aktuellen hochschulpolitischen Allgemeinlage inner- und außerhalb des deutschen Sprachraums in der Tat hochwillkommen sind. Die Unterkapitel tragen die folgenden Überschriften: Méthodologie. Méthodologie et pratique de la recherche en linguistique (romane) (385-86), Philologie. Étude des sources pour l’histoire des idiomes romans (387-424), Éléments d’historiographie en linguistique romane (425-52). Im der Philologie bzw. - wie die Germanisten sagen würden - dem «Alten Fach» gewidmeten (zweiten) Unterkapitel entfaltet der diesbezügliche sehr erfahrene Verf. vor den Augen seiner jungen Leser die ganze Vielfalt der philologischen Arbeitsmittel und -methoden, von den Problemen der Paläographie und Diplomatik, über jene der Herausgabe und philologisch-editorischen Erschließung von Fachtexten bis hin zur Erstellung von Editionen mit den Mitteln 214 Besprechungen - Comptes rendus von EDV und Internet. Nicht nur für den Fachmann im nostalgischen Sinn «sympathisch», sondern für das Selbstverständnis der ganzen Disziplin notwendig bzw. nach bald zwei Jahrhunderten «Romanistik» unabdingbar ist das mit großem Engagement verfasste Unterkapitel über die Geschichte (res gestae) der romanischen Linguistik an sich. Den Lesern wird dabei anhand der Genese wichtiger Schlüsselbegriffe (wie linguiste, linguistique etc.) klargemacht, dass nicht nur die vordem in extenso vorgestellten romanischen Sprachen und deren Strukturen, sondern auch die darum bemühte Wissenschaft, also die romanische Linguistik, eine geschichtliche gewordene sowie nach Raum und Zeit diversifiziert abgelaufene bzw. ablaufende Tätigkeit ist. Damit ist sichergestellt, dass Namen wie Friedrich Diez, Graziadio Isaia Ascoli, Gustav Gröber oder Wilhelm Meyer-Lübke in die mémoire collective auch der jungen Romanisten beiderlei Geschlechts als kanonische bzw. eine spezifische corporate identity stiftende Entitäten eingeschrieben werden. Ein an Reflexionen reicher Abschlussparagraph (Épilogue: à quoi sert la linguistique (historique)? , 450-52) beschließt den argumentativen Teil dieses an sehr willkommenen Denkanstößen gewiss nicht armen Bandes. Es folgen eine (dreispaltig gestaltete) Bibliographie (453-62) mit rund vierhundert bibliographischen Referenzen, ein zweiteiliger Index (Index des notions, 463-69 und Index des noms, 470-72), eine Table des illustrations (473) und die Table des matières (474-80). Mit nicht geringem Vergnügen habe ich das elegante sowie dann und wann in sehr förderlicher Weise mit prägnanten Metaphern durchsetzte Französisch des (germanophonen) Verf. zur Kenntnis genommen. Hier noch, wie bei Rezensionen unvermeidlich, einige punktuelle An- und Bemerkungen in der Abfolge der Gesamtpaginatur: - p. 57: Das Frankoprovenzalische wird - neben Okzitanisch und Gaskognisch - als eine der vielen romanischen «langues» dargestellt und damit der Eindruck erzeugt, als hätte es unter diesem Namen auch außerhalb der klassifikatorischen Konzeptionen der Linguisten eine reale (und vor allem von seinen Sprechern sub hoc nomine und sub specie unitatis erfahrene bzw. wahrgenommene) Existenz (gehabt). Tatsache ist jedoch, dass das auf G. I. Ascoli (1874) zurückgehende Konzept franco-provenzale sich inhaltlich und terminologisch exklusiv in der Gedankenwelt der Linguisten entfaltet hat und dort auch sehr gut verwenden lässt, sich jedoch in der «realenWelt» - worunter dieWelt der locuteurs réels dans la rue zu verstehen ist - nie verwurzeln konnte bzw. dort auch historisch nicht verankert war. Mit einer sprachpolitisch induzierten und - historisch gesehen - jungen Ausnahme: Aostatal. Dort hat der Terminus francoprovençal im Zuge der Entwicklung der seit 1945 bestehenden lokalen Autonomie eine gewisse Popularität und allgemeine Bekanntheit erreicht. Die vom großen Frankoprovenzalisten Gaston Tuaillon mehrfach vorgebrachte Defensio des Frankoprovenzalischen als langue (mineure) mit eigener Geschichte, Literatur und sozialer Verankerung muss als regionalpatriotisch induziert betrachtet werden. Eine mit dem Aostatal vergleichbare Situation mag heute auch in einigen Hochtälern des Schweizer Kantons Wallis vorliegen, wo der dort noch intergenerationell weitergegebene Patois frankoprovenzalischen Typs sich einer besonderen Aufmerksamkeit vonseiten der Sprecher und darum bemühter Linguisten erfreut. Siehe dazu Rezensent: «Sprachpolitik: auch für und mit Geisterbzw. Traumsprachen? », Sociolinguistica 16 (2002): 49-63. - p. 59: Die unteritalienische Gräzität in Kalabrien und Apulien soll auf byzantinische Einwanderungen nach dem Fall Konstantinopels (1453) zurückgehen. Das halte ich im Lichte der vorhandenen philologischen Forschungen und auch der Geschichte Unteritaliens sowie des Byzantinischen Reiches für völlig unwahrscheinlich. Die (schon ältere) Idee der laufenden Auffrischung antiker griechischer Siedlungsimplantate durch byzantinische Immigranten ist sicher richtig, muss sich aber historisch auf die Zeit zwischen Kaiser Justinian (527- 215 Besprechungen - Comptes rendus 65) und dem endgültigen Rückzug von Byzanz aus Unteritalien in der Folge der normannischen Eroberung (Mitte des 11. Jahrhundert) und somit auf eine Periode beziehen, in der Byzanz in imperialerAbsicht in Süditalien expansiv werden konnte.Die unmittelbar vor und nach 1453 von Byzanz ausgehenden Flüchtlingsströme betrafen eher soziale Oberbzw. Bildungsschichten und führten in urbane Zentren West- und Mittel-Europas. - p. 62 (a): Mit Blick auf die drei Blöcke des Rätoromanischen (Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friaulisch): «Dans le passé, des linguistes ont supposé pour cela une ancienne unité linguistique entre ces trois idiomes et établi un lien avec la population antique des Rhètes (d’où le nom de ‹rhéto-roman› appliqué aux trois langues); . . . ». In der Tat handelt es sich hier um eine sehr komplexe Thematik und es ist auch fraglich, ob deren differenziertere Behandlung überhaupt in ein Einführungsbuch hineinpasst. Da aber Verf. in diesem manuel auch ganz explizit die Geschichtlichkeit der romanistischen Linguistik-Forschung thematisiert, seien dem (mit der angeschnittenen Frage sehr gut vertrauten) Rezensenten einige einschlägige Bemerkungen gestattet. Zunächst ist nichts gegen die Darstellung des Verf. einzuwenden. Sie trifft den Kern dessen, was man dazu heute vielerorts lesen kann. Zum anderen soll aber sogleich festgestellt werden, dass die Entwicklung der ganzen Thematik seit den 1880-er Jahren bis heute ein hochinteressantes Lehrstück einer genuinen wissenschaftlichen Mythogenese darstellt. Mythen sind aber bekanntlich das Resultat von gewollt-ungewollten Verwechslungen, der Interferenz von echtem mit Halb- und Scheinwissen sowie von Unterstellungen und Missverständnissen. Die oben angesprochene unité, die in diesem Kontext auf deutsch wohl «Einheitlichkeit» bedeutet und damit eine Eigenschaft («Kohärenz») bezeichnen soll, wurde 1873 von G. I. Ascoli - unter Verwendung klar erkennbarer älterer Klassifikationsmethoden - in der Form unità mit der (logisch und klassifikationstheoretisch in eine ganz andere Richtung weisenden) Bedeutung einer «(Sprach)Gruppe» (über deren innere Variabilität dabei aber nichts ausgesagt wurde) in die Welt gesetzt und in weiterer Folge (v. a. ab der Jahrhundertwende) nicht mehr in ihrer originalen Intention wahrgenommen und damit fehlgedeutet. Es entstand damit etwas, was im wissenschaftshistorischen Rückblick sprachlich salopp (aber faktisch sehr zutreffend) als «Kuddelmuddel» bezeichnet werden kann. Die Sache mit den Rätern betrifft den von Th. Gartner 1883 auf das Titelblatt seiner «Raetoromanischen Grammatik» gesetzten Sprachengruppen-Namen, der zu diesem Zeitpunkt vor allem bei Schweizer Autoren eine schon 100-jährige Tradition hatte und mit der von Gartner intendierten Bedeutung bereits seit 1866 von niemand Geringerem als Hugo Schuchardt geläufig verwendet wurde. Gartner rechtfertigte seine Terminologiewahl 1883 in ganz wenigen Sätzen nicht mit Volk und Sprache der alten Räter, sondern mit der räumlichen Quasi-Koinzidenz des von ihm untersuchten Raumes mit der großflächigen römischen Provinz Raetia. Bezüglich dieser räumlichen Quasi-Koinzidenz wurde G. in der Folge von C. Battisti (und Co.) heftig kritisiert, worauf er 1910 - erneut in wenigen Sätzen - auf den Terminologie- und nicht Erklärungscharakter seiner Wortschöpfung hinwies und zugab, dass die alte Römerprovinz Raetia - was man in jedem der damals schon sehr zahlreichen Geschichtsatlanten deutlich sehen konnte - wirklich nur (vor allem, was die Geographie des Friaulischen betrifft) eine Quasi-Koinzidenz mit dem gesamten Verbreitungsgebiet des Bündnerromanischen, Dolomitenladinischen und Friaulischen hatte. Zusätzlich kann man in demselben Buch (Handbuch der rätoromanischen Sprache und Literatur 8) lesen, dass sich Gartner die Entwicklung des lokalen Vulgärlateins in dieser Gegend nicht anders als in Gallien vorstellt, nämlich, dass die lokalen Bevölkerungen (Gallier, Räter etc.) das von ihnen übernommene Vulgärlatein nach ihren eigenen Aussprache(etc.)prinzipien abgeändert hätten. Diese Auffassung von Gartner entsprach damit voll und ganz den damals inter- 216 Besprechungen - Comptes rendus national zur Substrat-Frage üblichen Meinungstrends und auch dem, was ich heute (2007) für die wahrscheinlichste (und «unschuldigste») aller Hypothesen zum Kontakt zwischen autochthonen und siegreich importierten Sprachen halte. Das hat aber nicht gehindert, dass man - vor allem aus der Feder italienischer Kollegen (von deren Deutschkenntnissen ich aber keine sichere Kunde habe) - bis heute immer wieder liest, dass Th. Gartner die drei zentralalpinen Idiome zu Fortsetzern des alten Rätischen (sic) und die Sprecher dieser Idiome zu Abkömmlingen des (als [natürlich] einheitlich gedachten: siehe oben unter unità [sic]) Volkes der Räter erklärt habe. Ich selber gehe diesen Fehlmeinungen seit rund einem Vierteljahrhundert anhand aller verfügbaren Quellen nach und habe dazu - abgesehen von zahlreichen Vorträgen auf Deutsch und Italienisch und vielen privaten Briefen (mit zahlreichen kopierten Beilagen aus den Quellen) an die Protagonisten dieser Mythen - einiges in den beiden Sprachen publiziert. Dennoch muss ich feststellen, dass sich in dieser Causa keine Fortschritte im Sinne einer Aufklärung feststellen lassen. Ich konnte jüngst in einer in Padua und Venedig erarbeiteten (und darnach veröffentlichten) Dissertation eine eindeutig auf mangelnden Deutschkenntnissen beruhende diesbezügliche Fehlübersetzung (und natürlich -deutung) der erwähnten Passage von Th. Gartner dingfest machen: siehe dazu Mondo ladino 29 (2005): 215-18 (Besprechung von: I. Sandri: Tratti ladini nella parlata della Val di Non, Mori 2003). Quintessenz, auch an die Adresse der jungen Leser dieses manuel: Mythen sind zäh und 25 Jahre zählen in der Geschichte einer großen Disziplin wie der Romanistik so gut wie «gar nichts». - p. 62 (b): Zum Bündnerromanischen, Dolomitenladinischen und Friaulischen wird behauptet, dass «La science est convaincue aujourd’hui de l’autonomie génétique des trois langues des Alpes orientales, même si leur ressemblances internes et externes permettent un regroupement phénoménologique». Beim Reden und Denken über Klassifikationen spielt der sprachkritische Einsatz der dabei verwendeten Begriffe eine große Rolle. Das ist eine allgemein-wissenschaftliche Erfahrung, die sich leider bis zu den Linguisten noch nicht durchgesprochen hat. So sind der Begriff und das (hier noch dazu hinsichtlich seines quantitativen Umfangs unabgetönt verwendete) Wort Autonomie für die Darstellung von klassifikatorischen Sachverhalten völlig ungeeignet, und erst recht von solchen, die sich auf eine von (allgegenwärtiger, aber quantitativ und qualitativ ungemein variabel abgestufter) Kohärenz und Interaktion gekennzeichnete Sprachlandschaft wie die Romania beziehen. Im übrigen zählt Rezensent zu denjenigen, die - mit guten und mehrfach mitgeteilten Gründen - von der oben zitierten Feststellung gar nicht convaincu(s) sind. - p. 62 (c): Terminologisch [im Einklang mit den französischen Handbüchern von E. Bourciez und P. Bec]: Basse- und Haute-Engadine sowie sur- und subsilvain statt Engadin inférieur und supérieur (61) sowie statt surselvain und sutselvain (62). - p. 84-85: Die zwei dort präsentierten, aus der Werkstatt des Rezensenten stammenden dialektometrischen Karten zur Galloromania sind das (sekundäre) Resultat zweier dendrographischer Analyse aller 638 Ortsdialekte des ALF, deren primärer heuristischer Ertrag jeweils ein komplex verzweigter (Stamm)Baum ist. Diese beiden Stammbäume sollten die Leser aber auch vor Augen haben, um den eminent hierarchischen Aussagewert der beiden Karten verstehen zu können. Die auf den beiden Karten sichtbaren (und mit Buchstaben gekennzeichneten) Teilflächen stehen nämlich zueinander nicht in einer pari-passu-Relation, sondern befinden sich auf verschiedenen Hierarchie-Ebenen des dazugehörenden Klassifikations-Baumes. Siehe dazu Rez., Estudis Romànics 25 (2003): 116-19 (davon Bäume: 116 und 118). 217 Besprechungen - Comptes rendus - p. 87: Verf. erwähnt mit Bedauern das (unbestreitbare) Faktum, dass die weit überwiegende Mehrzahl der derzeit existierenden romanischen Sprachatlanten viel zu wenig ausgewertet und beachtet wurden bzw. werden. Damit hat Verf. voll ins Schwarze getroffen. Als Autor, Benützer und auch Auswerter (sowie vielfacher Besitzer) von Sprachatlanten dankt der Rezensent dem Verf. sehr für diese Feststellung. - p. 89: Es werden die Vorzüge des ALF besprochen. Hier ist ganz unbedingt das folgende, schon 2005 erschienene Buch nachzutragen: G. Brun-Trigaud/ Y. Le Berre/ J. Le Dû, Lectures de l’Atlas linguistique de la France de Gilliéron et Edmont. Du temps dans l’espace. Essai d’interprétation des cartes de l’Atlas linguistique de la France de Jules Gilliéron et Edmond Edmont augmenté de quelques cartes de l’Atlas linguistique de la Basse- Bretagne de Pierre Le Roux, Paris. Dieses (großformatig und - was die Verwendung von Farbdruck betrifft - auch sonst sehr großzügig gedruckte) Buch zeigt anhand von mehr als 500 (! ) färbigen (! ) Diskussionen von das Gesamtnetz umfassenden Karten des ALF auf, welche dia- und synchronen Einblicke in die Geschichte und Struktur der Galloromania mit dieser wunderbaren Datenquelle möglich sind. Zudem hat dieses Buch einen eminent leser- und auch studentenfreundlichen Charakter, so dass es in jeder romanistischen Instituts- oder Seminarbibliothek eigentlich unmittelbar neben den ALF-Bänden aufgestellt gehört. - p. 317: Es wird unterstellt, dass das knapp vor 900 n. Chr. mit den Magyaren (Ungarn) nach Pannonien importierte Magyarische (hongrois) durch den Zusammenbruch des Römerreiches (allerspätestens 476 n. Chr.) als ancienne langue (! ) gegenüber dem fortan sozial geschwächten Lateinischen wieder Oberwasser ([reprendre] le dessus) bekommen hätte. Da ist historisch einiges durcheinandergekommen: Beim Zusammenbruch des Römerherrschaft in Pannonien gab es dort noch gar kein hongrois! Im übrigen ist sehr fraglich, ob die Magyaren bei ihrer pannonischen Landnahme überhaupt noch auf nennenswerte Reste eines «normal» gesprochenen Lateinischen oder Romanischen gestoßen sind. Immerhin hat dieser Raum seit dem 4.-5. Jahrhundert n. Chr. zahlreiche (und dabei demographisch sehr stürmisch verlaufene) Herrschaftswechsel erlebt. - p. 378: Zur Rolle des abbé Grégoire: «Celui-ci inventoria, à l’aube des régimes postrévolutionnaires, les dialectes de France, préparant paradoxalement leur anéantissement». Hätte Verf. statt paradoxalement schlichtweg de ce fait geschrieben, hätte sich jeder Einwand erübrigt. Was der sich selbst immer als anthropophile sehende abbé Henri Grégoire (1750-1831) zwischen 1790 und 1794 mit seiner berühmten Enquête getan hat, folgte einer überaus zweischneidigen prozeduralen Logik, die seit damals (mit z. T. mörderischen Konsequenzen) immer wieder ins Werk gesetzt wurde: etwas vorher dokumentieren und damit allseits sichtbar machen, um es nachher umso zielsicherer bekämpfen (und vernichten) zu können. An der Aktion Grégoires haftete also nichts «Paradoxes», sondern vielmehr war alles (= zuerst flächendeckende Enquête und dann Kampf gegen die patois) sehr klar und konsequent geplant bzw. gewollt. - p. 373: Verf. übersetzt den auf den deutschen Sprachsoziologen Heinz Kloss zurückgehenden Begriff «Abstandsprache» mit langue écart. Die Kloss’sche (sehr metaphernmächtige) Terminologie wurde seit den 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts vom kroatischen Romanisten Íarko Muljaciú schrittweise romanisiert. Muljaciú hat dabei für «Abstandsprache» den Begriff langue par distanciation kreiert, der den Vorteil hat, auf den international leicht erkenn- und transferierbaren Latinismus «Distanz» zu rekurrieren und durch die (faktitive) Wortbildung (-ation) auch die (soziale) Machbzw. Wandelbarkeit der sprachlichen distance(s) zu suggerieren. 218 Besprechungen - Comptes rendus - p. 433: Verf. qualifiziert die beiden Dialektologen G. I. Ascoli und J. Gilliéron persönlich als ladin (Ascoli) und als francoprovençal (Gilliéron). Das ist in beiden Fällen - autobiographisch gesehen 1 - völlig unzulässig bzw. irreführend. Doch können all diese Monita nichts am absolut positiven Gesamteindruck dieses Buches ändern, dem eine rasche und zugleich weite Verbreitung in der Welt der Linguistique romane zu wünschen ist, und zwar inner- und auch außerhalb des französischen (und deutschen) Universitäts- und Sprachraums. Hans Goebl ★ Wolfgang Pöckl/ Franz Rainer/ Bernhard Pöll, Introducción a la lingüística románica, versión española de Fernando Sánchez Miret, Madrid (Gredos) 2004, 311 p. Este libro es la traducción española de la tercera edición reelaborada y con la inclusión de un tercer autor, Bernhard Pöll, de la Einführung in die romanische Sprachwissenschaft, publicada por primera vez por Wolfgang Pöckl y Franz Rainer en 1990. La segunda edición con meras correciones tipográficas apareció en 1994 y la tercera edición, base de la traducción, data de 2003. La traducción adapta los ejemplos y los ejercicios para un público de lengua castellana. Por motivo de consideraciones prácticas, el traductor Sánchez Miret incluye en la bibliografía recomendada y en los ejercicios sólo títulos en castellano. Desde la primera edición de 1990, la concepción general del libro no ha cambiado: el manual consta de trece capítulos y cada capítulo está dividido en tres partes. La primera parte se dedica a problemas metodológicos elementales o a aspectos de las técnicas de trabajo. La segunda parte de cada capítulo analiza una rama de la lingüística. La tercera parte presenta las distintas lenguas románicas. De esta forma el manual trata los temas siguientes: 1. Introducción, Fonética, Fragmentación de las lenguas romances. 2. Historia de la lingüística románica, Cambio lingüístico, Formación de la lenguas romances. 3. Tipos de publicaciones científicas, Etimología e historia de las palabras, Presentación de las lenguas (1): el latín. 4. Búsqueda de bibliografía (I): convencional, Geografía lingüística, Presentación de las lenguas (2): el rumano. 5. Búsqueda de bibliografía (II): electrónica, Semiótica, Pre- 219 Besprechungen - Comptes rendus 1 G. I. Ascoli stammte zwar aus Görz (*1829) und damit aus einer Gegend, die - nach dem Ausweis einer von ihm selbst im Jahr 1873 verfertigten Karte - als zona ladina bezeichnet wurde, war aber Mitglied einer alteingesessenen jüdischen Fabrikantenfamilie mit ganz deutlich artikulierten italo-patriotischen (und zugleich habsburg-kritischen) Neigungen. Von Ascoli existieren zahlreiche autobiographisch verwertbare Stellungnahmen - auch in der Form von Briefen - die nichts anderes zulassen, als für ihn die Qualifikation linguiste italien vorzusehen. J. Gilliéron wiederum wurde 1854 in La Neuveville am Nordufer des Bielersees geboren, wo einerseits die deutsch-französische Sprachgrenze verläuft und andererseits das lokale Romanische bereits viel mehr freigrafschaftliches (bzw. ostfranzösisches) als genuin frankoprovenzalisches Gepräge zeigt. Außerdem war Gilliéron lebenslang ein erklärter Gegner der ascolischen Lehre von den durch particolar combinazione erzeugten Geotypen wie Ladinisch (ladino) oder Frankoprovenzalisch (franco-provenzale). So hat er sich zwar ausgiebig mit frankoprovenzalischem Dialektmaterial beschäftigt, diesen Ausdruck aber in seinem ganzen Oeuvre nie verwendet und auch nie die von Ascoli postulierte Existenz einer geographisch klar definierbaren Großgruppe Frankoprovenzalisch akzeptiert. Und dann ist noch festzuhalten, dass Gilliéron seine Schweizer Staatsbürgerschaft bald nach dem Beginn seiner Lehrtätigkeit an der Pariser École Pratique des Hautes Études (und zwar im Jahr 1886) aufgegeben und an ihrer Statt die französische angenommen hat. Dies und sein in weiterer Folge zur universitären Elite von Paris (v. a. zu G. Paris und P. Meyer) unterhaltenes Nahverhältnis lassen eigentlich keine andere Qualifikation für Gilliéron als linguiste français zu.
