eJournals Vox Romanica 66/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2007
661 Kristol De Stefani

Dominique Stich, Parlons romanche: la quatrième langue officielle de la Suisse, Paris (L’Harmattan) 2007, 212 p.

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2007
Ricarda  Liver
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Dominique Stich, Parlons romanche: la quatrième langue officielle de la Suisse, Paris (L’Harmattan) 2007, 212 p. In der Reihe Parlons . . . des Verlags L’Harmattan, die sich die Beschreibung wenig bekannter Sprachen zum Ziel setzt (Afrikaans und Slovenisch sind hier Ausnahmen neben Lobiri, Pijin, Maori, Oromo etc.), stellt Dominique Stich das Rätoromanische vor, und zwar in der Form der Einheitssprache Rumantsch Grischun mit Ausblicken auf das Sursilvan und das Vallader. Das Buch ist in 12 Kapitel gegliedert. Die beiden ersten geben eine allgemeine Einleitung zur Sprachsituation in der Schweiz und in Graubünden (chap. i) und zu Geschichte und heutiger Verbreitung des Rätoromanischen in Graubünden (chap. ii, La langue, son origine, ses variétés). Die Kapitel 3 und 4 befassen sich mit den phonetischen Verhältnissen, 3 in synchronischer, 4 in diachronischer Sicht (chap. iii, Orthographe et phonétique, chap. iv, Évolutions phonétiques). Kapitel 5 umreisst kurz die Prinzipien, nach denen das Rumantsch Grischun gestaltet ist. Das Kernstück des Buches ist das umfangreiche Kapitel 6 (p. 69-129); es ist der grammatischen Beschreibung des Rumantsch Grischun gewidmet, mit den Abschnitten «le substantif, les numéraux, le pronom, le verbe, auxiliaires et verbes irréguliers». Auf der oberen Hälfte der Seite wird jeweils die Einheitssprache behandelt, auf der durch einen Strich abgetrennten unteren Hälfte die Entsprechungen in Vallader und Sursilvan. Die restlichen 6 Kapitel enthalten teils sprachliches Anschauungsmaterial, teils ergänzende Anhänge: chap. vii, Les toponymes, chap. viii, Réflexions sur le romanche-grison, chap. ix, Phrases usuelles, chap. x, Textes, chap. xi, Lexique. Romanche-grison-Français, Français-Romanchegrison (151-205). Kapitel 12, als «annexe» bezeichnet, stellt einer Auswahl von Wörtern des Rumantsch Grischun die Entsprechungen im Dolomitenladinischen gegenüber, gefolgt von einer französischen Übersetzung. Eine kurze (allzu kurze! ) «petite bibliographie commentée» beschliesst die Publikation. Der Autor hat eine Menge Information in sein Buch verarbeitet. Dafür kann man ihm dankbar sein, insbesondere für die konzise Beschreibung des Rumantsch Grischun (Kap. 6) und für den Abriss einer historischen Lautlehre (Kap. 4). Allerdings bleibt man im Ungewissen bei der Frage, an was für ein Publikum sich dieses Buch wende. Von der Ausrichtung der Reihe Parlons . . . her würde man vermuten, es sei eine breite, nicht linguistisch geschulte Leserschaft (immer französischer Muttersprache) anvisiert. Andererseits operiert der Autor mit Begriffen der Linguistik, setzt die Vertrautheit mit der phonetischen Umschrift voraus, bezieht die diachronische Dimension mit ein. All das ist sicher nicht für ein Laienpublikum geeignet. Liest man das Buch jedoch als Romanist, fühlt man sich befremdet von elementaren Informationen, die vielleicht für Studenten des 1. Semesters neu sein können, andererseits von Ungenauigkeiten (höflich ausgedrückt; es gibt auch krasse Fehler) und pauschalisierenden, reduktiven Aussagen (z. B. über die Entstehung von Schriftsprachen, über die Definition von Sprache). Dass der Verfasser im Rumantsch Grischun die Rettung des bedrohten Bündnerromanischen sieht, sei ihm unbenommen, wenn auch sein Glaube etwas allzu vertrauensselig anmutet («Mais rien n’est perdu, avec la création du romanchegrison . . . », 32; «De par son statut privilégié le RG, lui, est sûr de perdurer . . . », 137). Einige Illustrationen (sie liessen sich leicht vermehren) zu den erwähnten Kritikpunkten. Beginnen wir mit den grundsätzlicheren Aspekten. P. 29 äussert sich der Autor zu der Frage «Qu’est-ce qu’une langue? » Nach der Feststellung «il n’existe aucune définition linguistique de ce qu’est une langue» erörtert der Verfasser zwei Fälle, in denen eine staatliche Instanz einer «Sprache» den Status einer «Sprache» verweigert: das Okzitanische und das Frankoprovenzalische in Frankreich. Kein Wort davon, dass es eine linguistisch-dialektologische und eine soziolinguistisch-historische Definition von «Sprache» gibt, und dass einzig 286 Besprechungen - Comptes rendus die zweite ausschlaggebend ist für die Unterscheidung Sprache - Dialekt (Dialektgebiet). Der Autor ereifert sich über das zentralistische Frankreich, das dem Okzitanischen den Status einer Sprache nicht zugesteht, ebensowenig dem Frankoprovenzalischen, «cette langue incontestée». Die beiden Beispiele sind nur teilweise vergleichbar. Während das Okzitanische auf eine bedeutende schriftsprachliche Tradition im Mittelalter und in neuerer Zeit zurückgreifen kann, ist das Frankoprovenzalische eine einzig aufgrund linguistischer Kriterien definierte sprachliche Einheit. Anders noch einmal der Fall des Bündnerromanischen. Stich bemerkt, man könnte das Engadinische linguistisch abtrennen vom übrigen Bündnerromanischen und mit dem Dolomitenladinischen zu einer eigenen Sprache vereinigen. Dass das nicht so geschehen sei, sei wiederum eine politische Entscheidung: «Là encore c’est un État qui a pris la décision». Richtig, und zu Recht, denn das Engadinische teilt seine Geschichte mit den übrigen bündnerromanischen Varietäten, nicht aber mit dem (dialektologisch zweifellos nahe verwandten) Dolomitenladinischen. Ein zweites Problem, in dem die Darstellung von Stich unbefriedigend ist, betrifft die Entstehung von Schriftsprachen. P. 67 fragt der Autor: «Les langues de culture sont-elles si naturelles que cela? » Abgesehen davon, dass der Begriff «natürlich» inbezug auf die Sprache problematisch ist 1 , bleibt der Verweis auf die Rolle von Dante und Luther bei der Entstehung der italienischen und der deutschen Schriftsprache mehr als vage. Der Autor vergisst (und er ist beileibe nicht allein dabei), dass die Situation in Romanisch Bünden letztlich nicht vergleichbar ist mit derjenigen in den grossen romanischen oder germanischen Ländern, wo (abgesehen von den politischen Faktoren) eine grosse Zahl von Intellektuellen, Schreibenden und Lesenden, an der allmählichen Herausbildung eines schriftlichen Standards beteiligt waren. In Graubünden ist die kritische Masse für einen vergleichbaren Prozess einfach nicht gegeben. Dessen müssten sich auch die grössten Optimisten unter den Verfechtern des Rumantsch Grischun bewusst sein. An mangelhaften Beschreibungen und eigentlichen Fehlern im Sachlichen 2 sei Folgendes erwähnt. - Sprachgeschichte. Die Rolle der Räter in der Urgeschichte Graubündens ist missverständlich dargestellt. Was p. 12 als Siedlungsgebiet der Räter bezeichnet wird (GR, Ostschweiz, Liechtenstein, Südbayern, Tirol) gehört zwar zur römischen Provinz Raetia, war aber sprachlich ziemlich sicher gemischt. Entsprechend ist auch die Aussage «Le latin s’installe donc en lieu et place du rhétique» (ibid.) zu differenzieren. Die Wörterbücher des Bündnerromanischen sprechen vorsichtig von «vorromanisch». Zu Bifruns Übersetzung des NT wird p. 22 N2 gesagt: «Il s’agit de la première traduction de la bible dans une langue romane». Dem Romanisten stehen die Haare zu Berge! Zwei Aussagen zum Prestige des Puter resp. des Engadinischen in seiner Gesamtheit sind fragwürdig. P. 24 wird gesagt, das Puter sei «plus prestigieux grâce aux cantiques de Frizzoni», p. 27, Vallader und Puter verdankten ihr Prestige «à leur usage liturgique». Beides ist viel zu eng (und welcher Leser kann mit dem Namen Frizzoni etwas anfangen? ). Das Engadin hat seit dem 16. Jh. eine (nicht nur religiöse) literarische Tradition, die in der Gegenwart unvermindert weiterwirkt. - Mangelnde Vetrautheit mit der heutigen Realität Graubündens. Es ist mindestens missverständlich, dass p. 31 bei der Beschreibung der deutschsprachigen Regionen jeweils die (wenig gebrauchten) rätoromanischen Namen voranstehen und die 287 Besprechungen - Comptes rendus 1 Cf. R. Keller, Sprachwandel, Tübingen 1990, 58s. 2 Wir verzichten auf die Erwähnung von Druckfehlern (die es ja nicht mehr gibt) resp. Versehen, die bei der Korrektur unbemerkt blieben. Sie sind nicht übermässig, aber doch ziemlich zahlreich. üblichen deutschen in Klammer beigefügt werden: Valragn (Rheinwald), . . . Avras (Avers) etc. Schlimmer sind Fehler wie p. 31 «le Val d’Avras (Surmeir)» (richtig: Alvra; Avras ist romanisch für Avers). Dass der Heinzenberg (Mantogna) p. 25 als eine der «trois vallées» der Sutselva deklariert wird, muss jeden verdriessen, der sich an die Aussage des Duc de Rohan in Conrad Ferdinand Meyers Jürg Jenatsch erinnert, wonach der Heinzenberg der schönste Berg der Welt wäre. Im Übrigen ist das Romanische am Heinzenberg inzwischen ausgestorben. - Fehler in der Sprachbeschreibung. Aus welchem veralteten Lehrbuch wohl die Aussage (70) stammt, das Surselvische unterscheide da von de? Und die angeblich unterschiedenen Funktionen werden erst noch verwechselt: «da (appartenance) et de (provenance)». DRG 5: 17s. da I stellt die Dinge klar. Bei der Behandlung des Adjektivs (75) wird richtig auf die surselvische Besonderheit hingewiesen, dass das Adjektiv je nach syntaktischer Funktion (attributiv oder prädikativ) eine unterschiedliche Form hat. Die Aussage «Ce système se retrouve également dans les temps composés de la conjugaison avec être qui procède de même au masculin pluriel (nominatif latin du type boni)» ist jedoch mindestens ungenau. Der für das Rätoromanische singuläre i-Plural tritt einzig bei den schwachen Partizipien auf, nicht jedoch bei den starken, die den üblichen s-Plural aufweisen. Neuere Diskussionen der romanistischen Forschung zum Bündnerromanischen sind offensichtlich am Verfasser vorbeigegangen. So wird p. 88 gesagt, die Formen des Demonstrativums (hier: pronom démonstratif) «peuvent tous servir comme pronoms ou comme adjectifs». Die als «adjectifs» charakterisierten Formen (z. B. surs. quei cudisch ‘dieses Buch’) haben jedoch nicht den Status eines Adjektivs, sondern vielmehr den eines emphatischen Artikels (cf. il grond cudisch, quei grond cudisch). Ferner wird aus der Darstellung von Stich nicht klar, dass surs. quest nicht denselben Status hat wie RG quest: im RG wie im Engadinischen (und im Italienischen questo) ist quest das Demonstrativum «der Nähe» (entsprechend dt. dieser in Opposition zu jener); im Surselvischen kommt quest nur noch in festen Formeln vor (questa sera, questa notg), während die Opposition «dieser/ jener» mit quei/ tschei ausgedrückt wird 3 . Auch zur traditionellen Charakterisierung der Formen quei, gliez, tschei als «neutres», die Stich übernimmt (und zum «Neutrum» im Surselvischen generell), gibt es eine neuere, überzeugendere Auffassung 4 . Im Anschluss an die Darstellung des Konditionals im RG werden p. 103 einige «temps non retenus en romanche-grison» vorgestellt, neben dem engadinischen synthetischen Futur und dem passé simple das surselvische Paradigma, das als «subjonctif imparfait (différent du conditionnel)» bezeichnet wird (miravi, temevi, vendevi, sentevi). Ich bin sicher, dass der Leser dieses Buches mit diesen Paradigmen, zu deren Verwendung nichts gesagt wird, rein gar nichts anfangen kann. Das surselvische Verbalsystem, gerade im Bereich Konditional/ Konjunktiv, ist äusserst kompliziert. Wer sich hier ein Bild machen möchte, braucht sehr viel detailliertere Informationen 5 ; andernfalls bringt die Erwähnung des Phänomens überhaupt nichts. Ziemlich peinlich, dass der Autor das berühmte Muoth-Zitat, «la meilleure des conclusions» (150), als «inscription en sursilvan» bezeichnet und auch noch falsch übersetzt: Stai si, defenda, romontsch, tiu vegl lungatg «Lève-toi, défends le romanche, ton antique langue! ». Romontsch ist Vokativ, «Romane». 288 Besprechungen - Comptes rendus 3 Cf. R. Liver, Rätoromanisch, Tübingen 1999: 134s. (mit Literatur). 4 P. Wunderli, «Requiem für eine heilige Kuh.Das ‹Neutrum› im Surselvischen»,ASSR 106: 134-63. 5 Eine Übersicht bei Liver, op. cit. p. 142s. Detaillierte Behandlung der Thematik bei M. Grünert, Modussyntax im Surselvischen, Tübingen/ Basel 2003. Genug der Kritik. Am Schluss fragt man sich: Wozu dieses Buch? Sicher vermittelt es eine Menge Information, und die Beschreibung des Rumantsch Grischun kann als gut gelungen bezeichnet werden. Die Ansprüche an eine wissenschaftlich fundierte Darstellung des Bündnerromanischen sind jedoch nicht erfüllt. Dass in der «petite bibliographie commentée» keine linguistischen Arbeiten erwähnt werden, die über das Rumantsch Grischun hinausgehen, ist symptomatisch. Und warum verschweigt der Autor, dass er nicht der erste ist, der das Bündnerromanische einem französischsprechenden Leserkreis zugänglich macht? 6 Ricarda Liver ★ N. J. Lacy/ J. T. Grimbert (ed.), A Companion to Chrétien de Troyes, Cambridge (Brewer) 2005, 242 p. (Arthurian Studies 63) Voici un Companion destiné à guider le lecteur, à la fois débutant et spécialiste, dans son approche de celui qu’il est convenu d’appeler le premier grand romancier de France. Chrétien de Troyes accède donc au rang d’un Malory ou d’un Gower pour qui il existe dans la même collection des ouvrages analogues, l’œuvre du poète champenois devient l’égale du cycle du Lancelot-Graal ou d’Ancrene Wisse également à l’honneur chez Brewer. Cette ascension s’est faite graduellement et aurait elle-même pu faire l’objet d’un livre entier. Le présent volume exclut, à quelques rares exceptions près, toute mise en perspective concernant l’évolution de la critique sur Chrétien de Troyes et confère d’emblée la parole à dix-sept «authoritative voices», qui, en seize chapitres, font le point - en synchronie - sur les aspects les plus importants de l’œuvre de Chrétien de Troyes. L’organisation des études, «classique» et discrète, est de bon sens: une première partie est consacrée au Background, la suivante aux Texts et la dernière à la Medieval Reception and Influence. C’est à la fois un parcours et un état des lieux. Voici le détail des seize contributions, toutes dues à des spécialistes aux compétences indiscutables. De l’arrière-plan - on aurait aussi pu dire «contexte» - se sont occupés: John W. Baldwin, «Chrétien in History» (3-14); June Hall McCash, «Chrétien’s Patrons» (15-25); Laurence Harf-Lancner, «Chrétien’s Literary Background» (26-42); Norris J. Lacy, «The Arthurian Legend Before Chrétien» (43-51); Douglas Kelly, «Narrative Poetics: Rhetoric, Orality and Performance» (52-63); Keith Busby, «The Manuscripts of Chrétien’s Romances» (64-75); Peter F. Dembowski, «Editing Chrétien» (76-83). Les Textes sont traités dans l’ordre qu’on suppose chronologique par Roberta L. Krueger, «Philomena: Brutal Transitions and Courtly Transformations in Chrétien’s Old French Translation» (87-102); Donald Maddox et Sara Sturm-Maddox, «Erec et Enide. The First Arthurian Romance» (103-19); Joan Tasker Grimbert, «Cligés and the Chansons: A Slave to Love» (120-36); Matilda Tomaryn Bruckner, «Le Chevalier de la Charrette: That Obscure Object of Desire, Lancelot» (137-55); Tony Hunt, «Le Chevalier au Lion: Yvain Lionheart» (156-68); Rupert T. Pickens, «Le Conte du Graal: Chrétien’s Unfinished Last Romance» (169-87). La postérité de l’œuvre de Chrétien est explorée par Annie Combes, «The Continuations of the Conte du Graal» (191-201); Michelle Szkilnik, «Medieval translations and Adaptions of Chrétien’s Works» (201-13); Emmanuèle Baumgartner, «Chrétien’s Medieval In- 289 Besprechungen - Comptes rendus 6 M. Schlatter, J’apprends le Romanche, quatrième langue nationale, Lausanne 1964. R. Liver, Manuel pratique de romanche. Sursilvan - vallader. Précis de grammaire suivi d’un choix de textes. Deuxième édition revue et corrigée, Cuira 1991.