eJournals Vox Romanica 66/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2007
661 Kristol De Stefani

Hubert Bessat/Claudette Germi, Les noms du patrimoine alpin. Atlas toponymique II; Savoie,Vallée d’Aoste, Dauphiné, Provence, Grenoble (ELLUG) 2004, 464 p.

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2007
Kathrin  Schneitberger
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Hubert Bessat/ Claudette Germi, Les noms du patrimoine alpin. Atlas toponymique II; Savoie, Vallée d’Aoste, Dauphiné, Provence, Grenoble (ELLUG) 2004, 464 p. Der vorliegende toponomastische Atlas steht in der Tradition der früheren Arbeiten von Hubert Bessat und Claudette Germi, insbesondere von Lieux en mémoire de l’alpe (1993) 1 und Les noms du paysage alpin (2001) 2 . Seinen Grundstock bildet die Doktorarbeit von H. Bessat unter der Leitung von Michel Contini am Centre de dialectologie de l’Université de Grenoble. Der Atlas gliedert sich in eine Einleitung (5-10), die toponomastische Studie (11-345), welche zehn Unterkapitel umfasst, 93 dialektale und toponomastische Karten (347-441) und eine Schlussfolgerung (443-48). Eine ausführliche Bibliographie und 16 kommentierte und mit Namen versehene Farbfotos in der Mitte des Buches runden ihn ab. In der Einleitung (5-10) geht das Autorenpaar Bessat/ Germi auf seine Arbeitsweise und die Gründe für die Entstehung des zweiten Bandes des Atlas toponymique ein. Ziel ist es, den ersten Band, der die Themengebiete der alpinen Landschaft umfasste, um die der menschlichen Nutzung der Lebensraumes Alpen zu erweitern. Dabei stehen wieder die Zuordnung von Toponymen und dazugehörigen Dialektausdrücken zu ausgewählten Themengebieten sowie die Lokalisierung von onomastischem und dialektalem Material mittels Karten im Vordergrund. Reflexionen zur aktuellen und geschichtlichen Verbreitung von Name und Dialekt sowie die Etymologisierung der Patois-Ausdrücke sollen die Studie abrunden. In den Darlegungen ihrer Vorgehensweise beweisen die Autoren erneut, dass sie sich der Bedeutung von Benennungsgeschichte und oraler Tradition bewusst sind. Ein Name ist für sie nicht allein eine schriftliche Aufzeichnung in Kataster oder Karte, die einen Ort identifiziert, sondern das Zeugnis einer bewussten Benennung von Menschen, auf deren Geschichten und lokale Sprachformen es zu hören gilt. Feldstudien sowie die Auswertung von Wörterbüchern 3 und Monographien zu Dialekt und Geschichte sind für Bessat/ Germi daher fixer Bestandteil ihrer Studien. Während die Vorgehensweise durchwegs positiv zu bewerten ist, muss an ihrer Darstellung Kritik geübt werden: Die genaue Vorgehensweise vom Beginn der Recherche bis zu den Resultaten der vorliegenden Arbeit wird dem Leser nur durch Zurückgreifen auf Lieux en mémoire de l’alpe (1993) und Les noms du paysage alpin (2001) verständlich 4 . Dieser Umstand mag zu verzeihen sein, da es sich bei dem vorliegenden Werk um eine Ergänzung der Arbeit von 2001 handelt, und der interessierte Leser wohl immer auch die Vorgängerwerke konsultieren wird. Dennoch ist er bei einem Buch, das prinzipiell als Monographie vertrieben wird, problematisch. Der Hauptteil der Arbeit, die toponomastische Studie, unterteilt sich, wie oben bereits erwähnt, in zehn Unterkapitel. Jedes dieser Kapitel behandelt die Namen eines Themengebiets, wobei jede Namengruppe wiederum einen eigenen Abschnitt erhält. Die Themengebiete, nach der Benennungsmotivik gruppiert, lauten: 1. La forêt, les arbres et la faune sauvage des Alpes (13-50), 2. L’exploitation forestière et les défrichements (51-70), 3. La mise en valeur du sol: friche, jachère et assolements (71-112), 4. Le statut des terres ara- 333 Besprechungen - Comptes rendus 1 H. Bessat/ C. Germi, Lieux en mémoire de l’alpe. Toponymie des alpages en Savoie et Vallée d’Aoste, Grenoble 1993. 2 H. Bessat/ C. Germi, Les noms du paysage alpin. Atlas toponymique I; Savoie, Vallée d’Aoste, Dauphiné, Provence, Grenoble 2001. 3 Wie zum Beispiel A. Duraffour, Glossaire des patois francoprovençaux, Paris 1969. Dieses Wörterbuch gilt als überaus verlässliche Quelle für heute nicht mehr gebräuchliche Dialektausdrücke der behandelten Region. 4 Zu erklären ist diese Tatsache daraus, dass die vorliegende Arbeit eine gewisse Synthese aus neueren und teils lange zurückliegenden Forschungen ist, die auch Basis zu den Vorgängerbüchern waren. bles et les cultures (113-146), 5. Les animaux domestiques et l’espace pastoral (147-78), 6. L’habitat permanent et temporaire (179-220), 7. L’activité artisanale et industrielle (221-36), 8. Les édifices publics et religieux (237-56), 9. Les voies de communication (257-76) und 10. Les toponymes de limites territoriales (277-345). Den einzelnen Kapiteln sowie den Unterabschnitten zu den einzelnen Namengruppen gehen jeweils einleitende historische Fakten voraus, die das Themengebiet, respektive die Namen beziehungsweise die ihnen zu Grunde liegenden Dialektausdrücke, in einen größeren, außersprachlichen Kontext setzen. Bessat/ Germi verfolgen hierbei ein Ziel, dass sie in ihrer Schlussfolgerung (443-48) noch genauer formulieren: «une collaboration plus étroite entre les chercheurs des divers domaines» (447). Denn nur durch eine gewisse Öffnung hin zu außersprachlichen Argumentationshilfen könne die Namenkunde sprachliche Phänomene korrekt interpretieren. Gleichzeitig können ihre Ergebnisse aber auch für die anderen Disziplinen, wie Geschichte, Archäologie und Ethnographie fruchtbar sein. Eine Erkenntnis, mit der das Autorenpaar nicht allein dasteht und die der Toponomastik sicher gut tut. Nach diesen kurzen Einleitungen folgen die Abschnitte zu den Namen einem fixen Schema: Diskussion der dialektalen Karte, Diskussion der toponomastischen Karte, Ausblick auf die dialektale und toponomastische Verbreitung und schließlich Etymologisierung der Namengruppe. Die Diskussionen der Karten und die daraus gezogenen Schlüsse auf Verbreitung und Etymologie weisen jene Objektivität und Zurückhaltung auf, die man bereits aus den anderen Büchern des Autorenpaars kennt. Die gefundenen Belege von Toponymen und Dialektausdrücken werden aufgelistet und geographisch zugeordnet. Schlüsse über die geschichtliche Verbreitung von Namen und Dialektausdrücken werden nur dann gezogen, wenn sie ausreichend belegt werden können. Nicht eindeutig belegte Vermutungen sowie nicht gesicherte Etymologien werden stets mit der nötigen Zurückhaltung formuliert. Als Beispiel möge hier folgender Satz dienen: «Les attestations toponymiques et dialectales . . . de rafour . . . participent-elles d’une diffusion du mot depuis un foyer qui pourrait être Lyon ou ne sont-elles pas plutôt les reliques d’une vaste aire lexicale conservatrice . . .? » (236). Bei der Etymologisierung der Namen und Dialektausdrücke stützen sich die Autoren ferner auf renommierte etymologische Werke wie das FEW 5 , das GPSR 6 oder Praeromanica 7 . Das Fehlen der von Keltologen heute teils geforderten Distanz zu Hubschmids Deutungen kann den Romanisten Bessat/ Germi nicht angelastet werden 8 . Zudem ist die Etymologisierung der Dialektausdrücke nur eine kleine Beigabe zur eigentlichen Arbeit der Studie, der Zuordnung von Toponym und Dialektausdruck sowie deren Lokalisierung. Die Karten, die sich von Seite 348 bis Seite 441 erstrecken, sind von hoher Qualität. Sie beinhalten eine Auswahl der in den jeweiligen Kapiteln behandelten Toponyme und Dialektausdrücke und sind so weder überladen noch unübersichtlich. Sie überzeugen durch klare Zeichen und eine einfache Legende. Während die französischen Departements in einer Karte zusammengefasst wurden, behielt das Aostatal zwölf eigene Karten, was einen sehr detaillierten Einblick in die Namengebung und Dialektsituation dieses Landstrichs ermöglicht. Ihre Übersichtlichkeit verdanken die Karten sicher nicht zuletzt dem Faktum, dass sie auf dem digitalen Kataster der Region basieren. Hier liegt aber auch ein kleines Problem der Karten. Der nicht ortskundige Leser kann nur mit Hilfe einer zweiten Karte der Region die verzeichneten Fundorte der Toponyme und Dialektausdrücke einordnen, 334 Besprechungen - Comptes rendus 5 W. v. Wartburg, Französisches etymologisches Wörterbuch (FEW), Bonn/ Basel 1928-2002. 6 L. Gauchat et al., Glossaire des patois de la Suisse romande (GPSR), Neuchâtel/ Paris 1924-. 7 J. Hubschmid, Praeromanica, Bern 1949. 8 Dennoch wäre zum Beispiel die Herleitung von arolle aus kelt. *arawo (37) aus heutiger keltologischer Sicht zu überdenken. da ihm die Gemeindegrenzen, die als einziger Indikator auf den Karten des Buches verzeichnet sind, meist nur wenig helfen. Den Karten folgt die Konklusion des Buches (443-48), die in knappen Worten Sinn und Zweck der Arbeit zusammenfasst und eingesteht, dass die vorliegenden Forschungen keinesfalls als vollständig zu verstehen sind. Wichtigstes Ergebnis der Studie sind neben der erfolgreichen Zuordnung von Toponymen und Dialektausdrücken sowie deren Lokalisierung «de nombreux exemples [qui] sont venus illustrer les contributions que la toponymie alpine apporte aux connaissances linguistiques, géographiques, historiques et ethnographiques» (444), also ein Beitrag zur interdisziplinären Forschung 9 . Dass eine fruchtbare Zusammenarbeit mit anderen Forschungsdisziplinen allerdings nicht einseitig, sondern reziprok verlaufen sollte, wurde bereits weiter oben erwähnt. Der Atlas schließt mit einer ausführlichen Bibliographie, die nicht nur linguistische Werke zu Onomastik und Dialektologie enthält, sondern auch Monographien aus Geschichte und Ethnologie. Das Autorenpaar berücksichtigt ferner auch Arbeiten regionaler und lokaler Natur. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Les noms du patrimoine alpin ein überaus gelungener Beitrag zur alpinen Namenforschung ist. Er zeigt eindrücklich die Namenvielfalt und ihre Motivik in den Alpen. Ferner verdeutlicht er, wie auch seine Vorgängerwerke, wie viele alpine Toponyme in den aktuellen und historischen lokalen Sprachformen verankert werden können und daher keiner vagen, vorrömischen Wurzeln als Etyma bedürfen. Diese Erkenntnis wurde leider lange Zeit von den Namenforschern ignoriert 10 , und es ist nicht zuletzt Bessat/ Germi zu verdanken, dass nun ein Umdenken bei der Interpretation der Toponyme der Region stattfindet. Weiters hat sich das Autorenpaar, obwohl es über jahrzehntelange Erfahrung in Recherche und Auswertung von Toponymen und Dialektstudien im frankoprovenzalischen Gebiet und seinen Nachbarregionen verfügt, die bescheidene Ehrlichkeit bewahrt, einzugestehen, wenn eine Frage nicht lösbar ist oder allfällige Antworten nur Vermutungen sein können. Diese Eigenschaft macht ihr Buch umso wertvoller, weil es dem Leser das berechtigte Gefühl gibt, sich auf die Ergebnisse, die sich darin befinden, verlassen zu können. Zu kritisieren gibt es eigentlich nur einige formale Aspekte. Neben den bereits erläuterten Problemen mit Einleitung und Karten stellt sich die Frage, ob das erste Kapitel La forêt, les arbres et la faune sauvage des Alpes (13-50) nicht besser in den ersten Band des Atlas Les noms du paysage alpin (2001) gepasst hätte. Ähnlich wie das letzte Kapitel dieses Buches Toponymie et aires culturelles alpines (2001: 191-206) wohl eher in den hier rezensierten zweiten Band gehört hätte. Ferner wäre ein Index der behandelten Namen mit Verweisen auf die dazugehörigen Dialektausdrücke, wie er von Bessat/ Germi (443) angekündigt wird, wünschenswert gewesen. Wird dieser in naher Zukunft nachgereicht, sei auch dieser Kritikpunkt vergessen. Kathrin Schneitberger ★ 335 Besprechungen - Comptes rendus 9 Beispielsweise die Stützung von archäologischen Funden zur Siedlungsgeschichte durch bestimmte Toponyme, wie Raffour, Grange, Chazal (447). 10 Obwohl bereits A. Kübler in seinem kleinen Büchlein Berg- und Flurnamen der Gemeinde Chamonix: Ein Beitrag zur Kenntnis des Francoprovenzalischen, Münnerstadt 1901 erste Ansätze zur Herleitung der Namen von Chamonix aus dem lokalen Patois zeigte.