Vox Romanica
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0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniAschenberg, Heidi/Wilhelm, Raymund (ed.), Romanische Sprachgeschichte und Diskurstradition. Akten der gleichnamigen Sektion des xxvii. Deutschen Romanistentags, Tübingen (Narr) 2003, 236 p. (Tübinger Beiträge zur Linguistik 464)
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2008
Edeltraud Werner
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Aufwertung der Situation des Schreibers und des Schreibens im Rahmen der Analyse altfranzösischer Manuskripte, um so «die sprachliche Dynamik», die «aufgrund des intensiven Varietätenkontaktes» (264) parallel zur allmählichen Verfestigung der Schriftsprache bestand, besser erkennen zu können. Gerade die Gewohnheiten einzelner Schreiber lassen sich auf bequeme Weise in dem von David Trotter vorgestellten kleinen Korpus herausarbeiten (Boin sens et bonne mémoire: tradition, innovation et variation dans un corpus de testaments de Saint-Dié-des- Vosges [XIII e -XV e siècles], 269-78). Für dieses diastratisch und diaphasisch relativ homogene, diachronisch jedoch differenzierte Korpus wurden achtzig Dokumente (Manuskripte von Testamenten) transkribiert und mit MS Word ® erfasst. Die so eingegebenen Daten wurden indiziert und sind mit dem einfach zu nutzenden Programm Concordance ®11 oder anderer Software auswertbar. So lassen sich etwa bestimmte Graphien unzweifelhaft einzelnen Schreibern/ Notaren zuordnen, um somit individuelle (z. B. leis) von den allgemein verbreiteten Graphien (les) zu unterscheiden. Bei der Graphie leis für den bestimmten Artikel im Plural etwa stellt sich heraus, dass sie lediglich «l’affaire de deux notaires seulement» (277) ist. Der Beitrag von Martin Kött zur bewussten Nutzung verschiedener Varietäten in Pressetexten der zweiten Hälfte des 19. Jh. schließt den Band ab: «Authentizität durch Variation» (279-91). Ein Journalist, der Reportagen oder Interviews verfasst, ist, so Kött, um Authentizität bemüht; mit möglichst wortgetreuen Zitaten «beglaubigt er seine persönliche Anwesenheit vor Ort» (289). Es geht ihm freilich nicht um detailgetreues Wiedergeben spontan formulierter Äußerungen, sondern vielmehr lediglich um den Eindruck des Echten, wie Verf. an Belegen zeigen kann. So wird in einem Interview des Figaro vom 31. 7. 1888 z. B. ein umgangsprachliches gosses (‘enfants’, 288) effektvoll in den ansonsten schriftsprachlichen Zitattext eingestreut. Diese Inkonsequenz nimmt der Journalist in Kauf, nicht nur, weil perfekte Authentizität ohnehin kaum herzustellen ist, sondern auch, weil in Tageszeitungen die Homogenität und damit Verständlichkeit der Texte garantiert werden muss (cf. 289s.). Die Rezensentin ist im vorliegenden Sammelband auf praktisch keinen bedeutenden Tippfehler gestoßen, lediglich auf p. 238 irritiert im untersten Absatz die offensichtliche Verwechslung von «Regulatum» und «Regulans». Bei der typographischen Gestaltung des Bandes wurde erfreulicherweise auf platzsparende Maßnahmen wie z. B. reduzierte Schriftgröße verzichtet. Insgesamt ein vielseitiges, anregendes und schließlich auch formal ansprechendes Buch. Martina Nicklaus ★ Aschenberg, Heidi/ Wilhelm, Raymund (ed.), Romanische Sprachgeschichte und Diskurstradition. Akten der gleichnamigen Sektion des xxvii. Deutschen Romanistentags, Tübingen (Narr) 2003, 236 p. (Tübinger Beiträge zur Linguistik 464) Der Tagungsband umfasst eine Auswahl der in der im Untertitel angeführten Sektion des Münchener Romanistentages gehaltenen Vorträge. Es handelt sich um insgesamt zwölf Beiträge, darunter die beiden positionierenden Aufsätze der Herausgeber. Heidi Aschenberg führt den Band an, indem sie die Themenstellung «Diskurstraditionen» in der gegenwärtigen historischen Sprachwissenschaft in einer Art state of the art verortet, Raymund Wilhelm beschließt ihn, indem er Perspektiven einer sich als Kommunikationsgeschichte konzeptu- 255 Besprechungen - Comptes rendus 11 Frei zugänglich unter: www.concordancesoftware.co.uk, noch nicht Vista-kompatibel. alisierenden Sprachgeschichtsschreibung als Geschichte von Diskurstraditionen aufzeigt und hier zur Weiterforschung anregt. Der sehr sorgfältig redigierte Band umfasst die folgenden Beiträge: Heidi Aschenberg, «Diskurstraditionen - Orientierungen und Fragestellungen» (1-18); Barbara Frank-Job, «Diskurstraditionen im Verschriftlichungsprozess der romanischen Sprachen» (19-35); Jörn Albrecht, «Können Diskurstraditionen auf dem Wege der Übersetzung Sprachwandel auslösen? » (37-53); Silvia Albesano, «Volgarizzare il De consolatione philosophiae di Boezio: Traduttori trecenteschi a confronto» (55-70); Christiane Maass, «Di lingua latina in toscana tradocto. Zum Problem der Übersetzung im Kreis um Lorenzo de’ Medici» (71- 87); Eva Stoll, «Tratados de caballería im Spanien des 16. Jahrhunderts: eine Textsorte zwischen Tradition und Innovation» (89-109); Rafael Arnold, «Ein Diskurs - Vier Traditionen. Die venezianische Haggada von 1609» (111-33); Sybille Grosse, «Französische Briefsteller» (135-61); Roland Schmidt-Riese, «Grammatik im siècle classique: zu Konstitution und Pragmatik der Grammaire algonquine (1674) von Louis Nicolas» (163-81); Dorothée Kaiser, «Zum Einfluß angelsächsischer Diskurstraditionen auf die Wissenschaftssprache in Hispanoamerika» (183-201); Monika Sokol, «Konstitution, Tradierung und Entlehnung des Rap: Ein Modellfall für die Diskurstraditionsforschung? » (203-20); Raymund Wilhelm, «Von der Geschichte der Sprachen zur Geschichte der Diskurstraditionen. Für eine linguistisch fundierte Kommunikationsgeschichte» (221-36). Im Überblick enthält der Band damit Beiträge zur einzelsprachübergreifenden Historiographie von Sprachen und Diskursen, zum Zusammenhang von Sprachgeschichte und Übersetzung, zu Entstehung und Wandel einzelner Diskurstraditionen, zum Verhältnis von Einzeltexten zu Diskurstraditionen sowie zu diskurstheoretischen Traktaten und ihren Einflüssen. Heidi Aschenberg verfolgt in ihrem Beitrag zunächst die Beschäftigung mit Texten bis zu Platon zurück und zeichnet diese über Aristoteles und Castelvetro, über die Gattungstheorien und -systematiken der Literaturwissenschaft bis hin zur in den 1960er Jahren entstandenen Textlinguistik nach, in der über eine Konzeptualisierung von Textmustern deskriptive Termini eingeführt werden, wie da sind Textsorte, Text als komplexes Handlungsmuster, Textsortenwissen, Texttyp etc., die alle - wenn auch nicht isomorph - auf etwas rekurrieren, das man Text (sowohl als empirisch-individuell fassbares als auch als kognitives in einer Gemeinschaft verankertes Phänomen) nennt. Im Sammelband wird für die sprachhistorische Dimension der Begriff der Diskurstradition zugrunde gelegt, so wie er von Coseriu als Texttradition vorgeschlagen und dann durch Peter Koch und Wulf Oesterreicher in der Terminologisierung Diskurstradition bzw. Diskursnorm präzisiert wurde. Dabei werden Diskurstraditionen übereinzelsprachlich definiert, die sich in der Einzelsprache/ in Einzelsprachen konkretisieren (können). Es handelt sich hierbei um einzelsprachübergreifende Regelkomplexe und Konventionen, also Techniken der Textproduktion. Verf. hebt dabei, ebenfalls mit Bezug auf Koch/ Oesterreicher die Bedeutung medialer wie auch konzeptioneller Aspekte von Texten hervor - eine Scheidung, die fast alle Beiträge des Sammelbandes durchzieht und die so obstinat präsent bleibt. Diskurstraditionen können aber auch als habitualisiertes Wissen kommunizierender Subjekte gefasst werden, welches impliziten und expliziten Normsetzungen folgt. Eine andere Ausweitung des Begriffs der Diskurstradition wird in der Bezugsetzung zu realhistorischen Kontexten gesehen, insbesondere in der Betrachtung sog. Epochenschwellen, etwa im Übergang von der Illiteralität über eine beschränkte Verschriftung hin zur quasi unbegrenzten Verschriftung über Buchdruck bis zur Internetkommunikation. Die Spezifik des Begriffs Diskurstradition, verglichen mit den Begriffen Texttyp und Textsorte als klassifikatorische Begriffe, liege in seiner historischen Perspektivierung, die es gestatte, neue Fragen mit neuem bzw. modifiziertem Erkenntnisinteresse an die Geschichte der Sprache(n), und zwar nicht nur der Nationalsprachen, wie 256 Besprechungen - Comptes rendus überwiegend üblich, zu stellen. Im zweiten Teil des Beitrags werden die Aufsätze im Sammelband kurz - auch mit Bezug auf den dort verstandenen Begriff der Diskurstradition - vorgestellt. Der Überblick von Aschenberg eignet sich gut zur Einführung für eine Ausrichtung in der historischen Sprachwissenschaft, die mit der aktuell zunehmenden Dominanz eines kulturwissenschaftlichen Paradigmas in den Philologien immer wirkmächtiger wird und neue Sehweisen offeriert. Barbara Frank-Job konzentriert sich in ihrem Beitrag auf Diskurstraditionen im Verschriftlichungsprozess mit dem Schwerpunkt auf ausgewählten Fallbeispielen aus der mittelalterlichen Romania. Verf. geht mit Bezug auf Oesterreicher davon aus, dass Diskurstraditionen als konventionalisierte und keineswegs universale Konzepte Elemente der Lebenswelt einer Sprachgemeinschaft sind und als solche dem gesellschaftlichen Wandel und der gesellschaftlichen Interpretation unterliegen. Sie schlägt dabei in einem strukturalistischen Grundverständnis den Bogen zum Konzept des kollektiven (und damit kulturellen) Gedächtnisses einer Gemeinschaft im Sinne von Assmann. Dabei handle es sich bei sprachlich fundierten Gedächtniseinheiten nicht unbedingt um solche, die in einer Sprachgemeinschaft verankert sind. Vielmehr stünden sie in Bezug zu Sprechergemeinschaften, da Sprecher in der Regel Teil verschiedener Sprechergemeinschaften sind. Zentral für Frank- Job wird dabei zum einen die Verschriftung nähesprachlicher Äußerungen in die Volkssprache und zum anderen das Eindringen der Volkssprache in die distanzsprachliche Verschriftung, die durch das Lateinische getragen wurde. Die Darlegungen werden durch das immense Materialkorpus, das Verf. gemeinsam mit Hartmann 1997 zusammengestellt hat, eingängig illustriert. Jörn Albrecht beschränkt sich mit Hinweis auf die Komplexität seiner Themenstellung, ob Diskurstraditionen auf dem Weg der Übersetzung im Gefolge der Nachahmung fremder Muster Sprachwandel auslösen können, auf eine, wie er selbst sagt, eher anekdotisch angelegte Thematisierung von Grundüberlegungen zur Wirkung von Übersetzungen im vorgegebenen Rahmen. Zunächst klärt er sein Verständnis von Diskurstradition, die er mehr oder weniger salopp mit «Schreibe» gleichsetzt, um dann die Diskurstradition mit Bezug auf die Einzelsprache sowie im Rahmen der langue-parole-Dichotomie anzureißen. Es folgt eine Skizze konkurrierender Termini wie Textsortenkonvention und Sprechakt, desgleichen werden die drei Ebenen Coserius (allgemein, historisch, textbezogen) eingeführt sowie die Diskurstraditionen im Rahmen der Dichotomie universal vs. historisch-kontingent durchleuchtet. Zur eigentlichen Thematik überschwenkend befasst er sich knapp mit dem Status der Zielsprache im Übersetzungsprozess, dem Problem der Nachweisbarkeit von diskurstraditionellen Kategorien bzw. Erscheinungsformen sowie dann mit der «Kernfrage» und da zum einen mit der Auflistung «übersetzungsresistenter» und «übersetzungsanfälliger» Bereiche der Sprache und zum anderen mit der Frage, ob sich die Zielsprache der Übersetzung durch Imitation von Diskurstraditionen anderer Sprachen beeinflussen lässt, was zu zwei weiteren Fragen führt, nämlich einer genetischen (Entstehen Diskurstraditionen immer innerhalb von Einzelsprachen? ) und einer systematischen (Kann eine Diskurstradition sich soweit verselbständigen, dass sie auf die Sprache zurückwirkt, die sie hervorgebracht hat? ). Beide Korollarfragen werden verneint, eine Verneinung, deren Überprüfung leider unterbleibt. Die daran anschließenden Begründungen von Verf. für seine spekulative Apodiktik sind allerdings keine Antworten auf die aufgeworfenen Fragen und deren Verneinung, sondern erläutern diese eher im Falle ihrer Bejahung. Das Titelthema wird nicht zielführend behandelt. Silvia Albesano zeigt über einen Vergleich von drei Boethius-Übersetzungen aus dem 13. Jahrhundert (die volgarizzamenti von Alberto della Piagentina, 1332, von Grazia di Meo, 1343, sowie eine venetische Version aus der Biblioteca Civica in Verona vom Ende des 14. Jahrhunderts), dass der Umgang der Übersetzer mit ihrer Vorlage in höchst verschiede- 257 Besprechungen - Comptes rendus ner Weise erfolgt und geprägt ist durch die jeweilige Intention, die mit der Übersetzung verbunden wird. Analysen solcher Fallbeispiele vermögen in der Tat auch für die Linguistik Material zu liefern, die diskurstraditionelle Erkenntnisse über Übersetzungsmotive und -ziele gewähren. Christiane Maass gibt einen fundierten Einblick in die Rolle von Übersetzungen ins Lateinische sowie in die Volkssprache im durch Lorenzo de’ Medici geprägten intellektuellen Zirkel, dem insbesondere Cristoforo Landino, Marsilio Ficino, Pico della Mirandola und Angelo Poliziano angehören.Während Übersetzungen ins Lateinische bis dahin Ausdruck einer gebildeten, d. h. in den klassischen Sprachen der Antike gebildeten, Gruppe war, versucht Lorenzo bewusst und gezielt durch die Initiierung von Übersetzungen der Klassiker in die eigene Sprache (traditionell abwertend durch den Terminus volgarizzamento benannt) deren gleichwertiges Prestige zu dokumentieren. Im lorenzinischen Kreis wird bewusst das Wortfeld um volgare vermieden und genauso bewusst diejenige Terminologie für die Übersetzungen ins Toskanisch-Florentinische verwendet, die bislang für das Übersetzen ins Lateinische reserviert war, nämlich tradurre bzw. tradocto, trotz der im gesamten 15. Jahrhundert weiter bestehenden Dichotomie von Übersetzen (für dotti) und Vulgarisieren (für indotti). Im Kreis um Lorenzo werde durch die Aufwertung der Übersetzung ins Toskanische im gleichen Atemzug auch der klassische Unterschied zwischen den dotti, d. h. den in den klassischen Sprachen Gebildeten, und den indotti aufgehoben zugunsten eines gebildeten toskanischen Publikums. Der Sonderstatus der laurenzianischen Cerchia in der Frage der Übersetzung in die Volkssprache wird überzeugend und klug vorgeführt. Eva Stoll beschäftigt sich mit sog. Tratados de caballería im Spanien des 16. Jahrhunderts, die mit der Diskurstradition des früheren Ritterromans weder formal noch inhaltlich noch mit Bezug auf einen bestimmten geistig-kulturellen und politischen Rahmen vieles gemeinsam hätten. Die behandelten Traktate könnten allenfalls in die Diskurstradition tiermedizinischer, speziell hippologischer Handbücher des Mittelalters gestellt werden. Die Ausführungen sind interessant, würden aber als weniger spektakulär anzusehen sein, wenn Verf. den Begriff caballería nicht in beiden Diskurstraditionen (Ritterroman, tiermedizinische Abhandlung) mit «Ritter» übersetzt hätte, sondern angesichts des gewandelten externen Bezugsrahmens für diesen Begriff, sich, wie auch einmal geschehen, dafür entschieden hätte, für ihre Texte die Übersetzung «Reiter» oder gar «Pferdewesen» o. ä. zu wählen. Das Problem, das hier behandelt wird, ist m. E. eher eines der Polysemie bzw. eines sozial-professionellen Bedeutungswandels und nicht unbedingt ein solches von Diskurstraditionen. Rafael Arnold präsentiert einen viersprachigen Haggada-Druck (hebräisch-aramäisch, judenspanisch, judenitalienisch und jiddisch) vom beginnenden 17. Jahrhundert, in dem sich unterschiedliche Traditionslinien binden. Das Buch spiegle die vielschichtige jüdische Kultur in Venedig wider (sephardische, aschkenazische und italienische Juden). Dargestellt werden, auf den Druck fokussiert, Text und Texttradition, Bildtradition, Übersetzungstraditionen, Schrifttradition (Text und Übersetzungen sind im hebräischen Alphabet dargeboten) sowie die Rezeption der Haggada in wechselnden historischen Kontexten. Der Blick, der dabei auf die Diskurstraditionen des Originals sowie der kulturspezifischen Übersetzungstypen geworfen wird, vermag in eindringlicher Weise die Bedeutung der sprachlichen Gestaltung der verschiedenen Texttraditionen zu vermitteln. Sibylle Grosse wendet sich mit den Briefstellern einer Diskurstradition zu, die, im Mittelalter entstanden, in verschiedenen mittel- und südeuropäischen Kulturen unterschiedliche Auslegung erfahren habe. Untersucht werden französische Briefsteller bis ins 20. Jahrhundert. Auch Große bettet ihre Interpretation in einen medial-konzeptionellen Rahmen à la Koch/ Oesterreicher ein. Ausführlich wird diskutiert, inwiefern Briefsteller eine Diskurstradition konstituieren bzw. inwieweit sie mit anderen Diskurstraditionen kor- 258 Besprechungen - Comptes rendus relieren (etwa Urkunde, Schulbuch, Briefroman, ouvrages de civilité etc.). Es wird ein Geflecht von Diskurstraditionen herausgelöst, das deutlich macht, wie übrigens auch in anderen Beiträgen des Sammelbandes, dass eine Diskurstradition per se stante nicht existiert. Es folgt die Analyse von drei (aus bis ca. 1900 nachgewiesenen 195) Briefstellern (An., Le stile et maniere de composer, dicter, et ecrire toute sorte de lettres, 1553, Philipon de la Madelaine 1761, Bernage 1964), die neben typischen diskurstraditionellen Gemeinsamkeiten auch Unterschiede im formalen und inhaltlichen Bereich offenbaren. Charakteristisch sei die Einpassung der Briefsteller in die jeweils vorherrschende Alltagskultur der anvisierten Zielgruppe, was sich sowohl in der sprachlichen Ausgestaltung (etwa Anredeformen) als auch in den empfohlenen Versatzstücken und Aufbauelementen niederschlage. Roland Schmidt-Riese zeichnet Entstehung und kulturhistorische Einbettung der ältesten Grammatik zur Beschreibung einer kanadischen Indianersprache im Gefolge von Kolonisation und Missionierung durch Frankreich nach und stellt die Grammatik der Algonquinsprache in die Tradition der zeitgenössischen Diskurstradition «Grammatik», die terminologisch und klassifikatorisch eng an das lateinische Modell angelehnt ist. Mit dem Beitrag von Dorothee Kaiser erfolgt eine weitere Verlagerung der Betrachtung in den außereuropäischen Raum. Der Einfluss angelsächsischer Diskurstraditionen auf die Wissenschaftssprache im spanischsprachigen Amerika wird über eine Analyse der Abfassungsstrategien sprachwissenschaftlicher Aufsätze illustriert. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Diskussion von Diskurstraditionen zwischen Konvention und Innovation. Angelsächsische und romanische Diskurstraditionen werden in Bezug auf prototypisch verstandene Textsorten Essay und Artikel behandelt. Ausgewertet werden dann Materialien venezolanischer sprachwissenschaftlicher Zeitschriften, da das angelsächsische Modell in diesem Land den größten Erfolg zu verzeichnen habe. Verschiedene Ebenen des Einflusses und der Übernahme werden aufgelistet und am Material erläutert (Übernahme der Sprache, Übernahme von Gliederungsprinzipien, von Publikationsnormen, von sprachlichen Elementen, von Textelementen und deren Bezeichnung sowie von stilistischen Elementen). Verf. schließt mit der kritischen Frage, die man sich u. E. nicht nur in Bezug auf das venezolanische Beispiel stellen sollte, nämlich inwieweit die Übernahme neuer Modelle, die in manchen Ländern nahezu sklavisch vollzogen werde, erstrebenswert bzw. notwendig sei. Monika Sokol befasst sich mit dem Rap, einer in den 1970er Jahren in den USA entstandenen Populärmusik, die auch bald in Europa ihre Anhänger fand. Dieses Musikgenre wird aus der Perspektive der Diskurstradition als polyfunktionale Gattung beschrieben, deren Hauptmerkmal die Diskursbetontheit mit dem distinktiven Merkmal des rhythmisierenden Sprechens sei. Der Rap erscheint als paraliterarisch-lyrische Diskurstradition, deren Vorläufertraditionen, insbesondere auch in der afro-amerikanischen Kultur gesehen werden. Dabei spiele die mediale Dekontextualisierung sowie die Entwicklung neuer Produkte über die Mittel der Schriftkultur eine zentrale Rolle: Diskurstypen bzw. -elemente würden herausgelöst, die ihrerseits Bestandteil anderer Traditionen sind bzw. sein können, wie etwa die Publikumsinzitation, das verbal duelling mit den Erscheinungsformen boasting, dissing, marking und signifying. Nach den Gattungsmerkmalen des Raps schwenkt Verf. zum französischen Rap über, der ursprünglich hauptsächlich von männlichen Jugendlichen mit Migrantenhintergrund praktiziert wurde. Heute sei der Rap integraler Bestandteil der hexagonalen Kultur und verbinde, ähnlich wie die chanson française, über die diskursive Komponente Populärkultur und literarische Hochkultur. Es sei ein Ausbau in Richtung auf höhere Stilregister erfolgt mit Berücksichtigung auch literarischer Konventionen mit teils ostentativen und unironischen Bezügen zum französischen Literaturkanon. Hinzu kämen nicht-diskursive Elemente. Verf. postuliert demzufolge, dass das Instrumentarium der Diskursforschung modifiziert bzw. ergänzt werden müsste mit Blick auf nichtdiskursive Traditionen und Elemente, die sich mit einer Gattung vereinen. Sprechen (oder 259 Besprechungen - Comptes rendus Singen) stehe in nicht distinktivem Verbunde mit anderen modi significandi, die ihrerseits traditionsgebunden eingesetzt würden. Der Beitrag endet mit einer interessanten These für die mittelalterliche Mündlichkeits-Schriftlichkeitsforschung, die vorschlägt, man möge die mittelalterliche Lyrik auf eine rezitativ gesungene Realisierungsmöglichkeit hin überprüfen und Redeverben dort, wie z. B. dezir, eventuell als Hinweis auf eine Art Sprechgesang, wie er ja auch für den Rap konstitutiv ist, deuten. Raymund Wilhelm leuchtet in seinem Beitrag Perspektiven einer diskurstraditionellen Orientierung für die romanische Sprachgeschichtsschreibung aus und plädiert für eine Ergänzung der «traditionellen» Sprachgeschichtsschreibung um eine linguistisch fundierte Kommunikationsgeschichte. Das Erkenntnisinteresse der sprachhistorischen Forschung, die in den letzten Jahren wieder verstärkt in den Vordergrund romanistischer Themenstellung gerückt sei, wird offen hinterfragt. Wichtig werde zum einen eine Erweiterung der Sprachgeschichte im Sinne einer historischen Varietätenlinguistik und zum anderen eine Öffnung hin zur Kommunikationsgeschichte.Während mit Bezug auf die romanischen Sprachen ersteres bereits als sprachhistorisches Thema erkannt worden sei (Sprache des «kleinen Mannes»; Geschichte mündlicher Sprache; regionale Sprachgeschichtsschreibung in Abstandsnahme von der auf die nationalsprachliche Norm abgehobene Sprachgeschichtsschreibung), sei letzteres zwar mehrfach gefordert worden, eine genaue Gegenstandsbestimmung einer solchen linguistisch fundierten Kommunikationsgeschichte als Teil einer allgemeinen Kommunikationsgeschichte, die nur interdisziplinär leistbar ist, sei aber bislang kaum abzusehen. Pragma- und textlinguistische Ansätze müssten hierfür unbedingt durch eine diskurstraditionelle Komponente erweitert werden. Eine kommunikationsgeschichtliche Orientierung der historischen Sprachwissenschaft vermöge dabei neue Gegenstandsbereiche zu erschließen. Das Konzept der Diskurstradition könne hier einen methodisch gesicherten Zugang zu den auf den ersten Blick recht heterogenen Aufgabenfeldern der Sprach- und Kommunikationsgeschichte ermöglichen. Die Beschäftigung mit Sprachnormen (einzelsprachlich) müsste um die Beschäftigung mit Diskursnormen (prinzipiell sprachübergreifend) erweitert werden. Die Verwobenheit der beiden Normen sei methodisch aufzulösen. Es gehe dabei um Statuszuweisungen anhand der Bewertungskriterien des Korrekten (für eine Einzelsprache) und des Angemessenen (bezüglich der in der jeweiligen Kommunikationssituation gültigen Regeln). Im Rahmen einer kommunikationsgeschichtlichen Perspektivierung könne es dabei nicht um die Analyse von Einzelfällen gehen, sondern vielmehr zum einen um die Darstellung kommunikativer Situationen und die mit ihnen traditionell verbundenen textuellen Muster (Diskurstraditionen) und zum anderen um die Berücksichtigung der Bindung der Diskurstraditionen an bestimmte soziale Gegebenheiten, Trägergruppen, Institutionen, Mentalitätsstrukturen etc. Von besonderem Interesse sei dabei der Wandel von Diskursnormen im Zusammenhang mit sozial-, kultur- und mediengeschichtlichen Wandlungsprozessen, etc. Der Sammelband zeichnet sich durch seine sorgfältige Zusammenstellung aus, die die Themenverbindung Sprachgeschichte - Diskurstraditionen exemplarisch in verschiedene Tiefen ausleuchtet und kann als anregendes Werk für einen Neuorientierung oder Orientierungsverlagerung der Sprachgeschichtsschreibung gesehen werden. Den Herausgebern ist zu ihrer klugen und engagierten Gestaltung des Bandes zu gratulieren. Durch die Umrahmung der Beiträge durch ihre Ein- und Ausleitung sowie das immer wieder thematisierte Konzept der Diskurstraditionen in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung gewinnt der Band eine Geschlossenheit, die sonst bei Tagungsakten oft nicht erreicht wird. Edeltraud Werner ★ 260 Besprechungen - Comptes rendus