eJournals Vox Romanica 67/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2008
671 Kristol De Stefani

Christine Hélot, Du bilinguisme en famille au plurilinguisme à l’école, Paris (L’Harmattan) 2007, 282 p.

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2008
Sabine  Ehrhart
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Christine Hélot, Du bilinguisme en famille au plurilinguisme à l’école, Paris (L’Harmattan) 2007, 282 p. Die Sprachkenntnisse der Einzelpersonen und die Anforderungen der sie umgebenden Gesellschaften klaffen gerade in Migrationskontexten oft sehr stark auseinander. Das Erziehungssystem ist potentiell ein sehr nützliches Instrument, um in diesem Bereich eine Annäherung zu bewerkstelligen: eine der Aufgaben der Schule sollte es sein, die Beziehung zwischen der individuellen und der kollektiven Ebene zu harmonisieren und eine ausgeglichene Sprachökologie des Klassenzimmers herzustellen, indem auf die sprachlichen und kulturellen Ressourcen eines jeden Schülers individuell eingegangen wird. Das vorliegende Buch liefert wertvolle Ansätze für diese Annäherung. Christine Hélot ist Professorin für Englisch an der Université de Strasbourg. Ihr hier rezensiertes Werk ist 2007 auf der Grundlage ihrer Dissertation und Habilitation in der Reihe espace discursifs erschienen, welche von Thierry Bulot geleitet wird, es ist eine Synthese der langjährigen Arbeiten der Autorin, die in der letzten Zeit bereits mehrere bemerkenswerte Artikel mit neuen Ansätzen auf dem Gebiet der soziolinguistischen Feldforschung in der Schule veröffentlicht hat. Der Titel ihres Werkes «Von der Zweisprachigkeit in der Familie zur Mehrsprachigkeit in der Schule» zeigt bereits die beiden grossen Linien auf, welche die Autorin für die Bereiche der angewandten Linguistik, der Soziolinguistik und der Sprachplanung für die Schule entwickelt: - eine Ausweitung des Begriffs der Zweisprachigkeit auf das dynamischere Konzept der Mehrsprachigkeit - eine Erweiterung der kollektiven Sphäre des Sprachgebrauchs von der Familie als kleinere soziale Einheit zum grösseren institutionellen Rahmen der Schule. Das erste Kapitel liefert eine sehr nützliche Beschreibung der grundlegenden Fachbegriffe im Bereich der Mehrsprachigkeit, mit einem besonderen Augenmerk auf die Fälle, in denen Sprachen von sozial benachteiligten Gruppen nicht sichtbar werden. Im zweiten Kapitel werden verschiedene Fälle der Existenz von mehreren Sprachen innerhalb der Familie beleuchtet und die verschiedenen Strategien, welche Familien in den unterschiedlichsten Situationen zum Sprachengebrauch entwickelt haben. Besonders erwähnenswert sind hierbei die symbolische Zweisprachigkeit, bei der eine Sprache zwar in der Familie existent ist, aber nicht von allen Mitgliedern gesprochen wird und vor allem nicht an die nächste Generation weitergereicht wird, und die verkannte oder unerkannte Zweisprachigkeit, bei der bestimmte vom sozialen Gebrauch her nicht positiv bewertete Sprachen keine oder nur sehr geringe Aufmerksamkeit erfahren, sowohl von aussen stehenden Beobachtern, aber auch von den Sprechern selber. Kapitel 3 stellt verschiedene Möglichkeiten dar, durch welche die Schule die kulturelle und sprachliche Heterogenität der Schüler mit einbeziehen und dadurch aufwerten kann. Besonders interessant ist dabei die verständliche Darstellung des relativ komplexen Modells der Continua of Biliteracy von Hornberger/ Sylvester mit seiner praktischen Anwendung auf die schulische Mehrsprachigkeit. Dieser sprachdynamische Ansatz wird in Kapitel 4 fortgeführt, in dem verschiedene schulpolitische Modelle weltweit vorgestellt werden. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf dem französischen System, bei dem die Neigung zum monolingualen Habitus (nach Bourdieu) wohl überdurchschnittlich stark ausgeprägt ist. Für Schulplaner und -entwickler ist das 5. Kapitel eine besondere Bereicherung, denn hier wird die Erfahrung des Projektes Didenheim beschrieben, welches die Autorin zusammen mit ihrer Kollegin Andrea Young von der Lehrerakademie des Elsass und vor al- 354 Besprechungen - Comptes rendus lem in aktiver Zusammenarbeit mit der Lehrerschaft dieser Schule aus dem Südelsass durchgeführt hat. Kennzeichnend für diese gemeinsame Vorgehensweise ist der Verzicht auf das Monopol beim Expertentum, welches traditionell durch die Mitglieder der Universität und Forschungsinstitute für sich beansprucht wird. Die Erkenntnisfindung im beschriebenen Projekt fand durch eine Ko-Konstruktion im Sinne der Haltung des empowerment statt, bei der alle Beteiligten dasselbe Gewicht bei der Herausarbeitung eines gangbaren Weges für die mehrsprachigen Schulen der Zukunft haben. Die Autorin weist sehr wohl darauf hin, dass auch erfolgreiche Schulprojekte wie das von Didenheim nicht ohne Weiteres in eine andere Umgebung exportiert werden können. Sie können jedoch als Auslöser für andere Projekte dienen, die sich immer im konkreten geographisch-sozialen Kontext verankern müssen, um eine Chance zu haben, dauerhaft im Sinne einer grösseren Gerechtigkeit auf die existierenden gesellschaftlichen Strukturen einzuwirken. In den Schlussfolgerungen situiert sich Christine Hélot nochmals klar im Bezug auf die Methodik der recherche-action, der engagierten Forschung mit der Perspektive der Einflussnahme durch die Forschung auf die von ihr untersuchten Strukturen. Eine der grossen Stärken von Christine Hélots Arbeit ist unbestritten ihre Sicht auf das lernende Kind. Dieses steht im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung mit allen seinen Entwicklungsmöglichkeiten durch eine adäquate Stimulierung. Durch diese Zentrierung des Interesses auf den Schüler und seine Bedürfnisse erreicht die Autorin auch einen synthetischen Blick auf die oft getrennt gesehenen Sphären des familiären oder schulischen Rahmens und kann in diesem zusammenhängenden Bereich auch sinnvolle Vorschläge zu einer besseren Wertschätzung aller kulturellen und sprachlichen Güter machen, welche alle Schüler in die Klasse mitbringen. Bei der äusserst stimulierenden Lektüre von Du bilinguisme en famille au plurilinguisme à l’école - die gleicherweise für den Forscher als auch für den Studenten zu Beginn des Studiums neue Ansichten vermitteln kann - überträgt sich die positive Sicht der Autorin auch auf den Leser und mag bei vielen Lesern den Wunsch auslösen, selbst auf diesem Gebiet aktiv zu werden. So wäre es nun mein Wunsch, die Darstellung der gesellschaftlichen Mehrsprachigkeit noch stärker über den französischen Kontext hinaus auszubauen. Dann könnte man nach der Klärung der soziolinguistischen Rahmenbedingungen auch noch vertiefter auf bestimmte linguistisch-strukturelle Fragen eingehen, z. B. was passiert konkret mit der sprachlichen Produktion der Kinder, die mit den Einflüssen von mehreren Sprachen leben? Der Aspekt der Sprachen der Migration könnte meiner Ansicht nach auch noch mehr der Thematik der bedrohten Sprachen angenähert werden, denn häufig beklagt man im Quellenland der Migration das Verschwinden oder das Abschwächen von Sprachen, die im neuen Aufnahmeland keinerlei Aufmerksamkeit erfahren. Weiter wäre es zu wünschen, dass die von Christine Hélot klar dargestellten Erkenntnisse und Richtlinien gezielt in der Ausarbeitung von Lehrerbildungsprogrammen eingesetzt werden. Die aktuelle Debatte in Frankreich um die Abschaffung der Lehrerausbildungsakademien mit ihrer didaktisch-pädagogischen Ausrichtung zugunsten einer stärkeren Theoretisierung der Lehrinhalte zielt zumindest für die nähere Zukunft nicht unbedingt in diese Richtung. Sabine Ehrhart ★ 355 Besprechungen - Comptes rendus