Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2009
681
Kristol De StefaniMatthias Grünert/Mathias Picenoni/Regula Cathomas/Thomas Gadmer, Das Funktionieren der Dreisprachigkeit im Kanton Graubünden, Tübingen (A.Francke) 2008, xx + 458 p. (Romanica Helvetica 127)
121
2009
Iwar Werlen
vox6810225
Matthias Grünert/ Mathias Picenoni/ Regula Cathomas/ Thomas Gadmer, Das Funktionieren der Dreisprachigkeit im Kanton Graubünden, Tübingen (A. Francke) 2008, xx + 458 p. (Romanica Helvetica 127) Der Kanton Graubünden ist der einzige amtlich dreisprachige Kanton der Schweiz. Die drei Amtssprachen Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch gelten als gleichwertig (so Artikel 3 Absatz 1 der Kantonsverfassung). Dass diese Gleichwertigkeit problematisch ist, zeigt schon Absatz 2, der Kanton und Gemeinden verpflichtet, für die Erhaltung und Förderung des Rätoromanischen und des Italienischen besorgt zu sein, während das Deutsche hier - aus verständlichen Gründen - nicht erwähnt wird. Wie die amtliche Dreisprachigkeit des Kantons «funktioniert», das ist der Gegenstand des vorliegenden Buches, das die Ergebnisse eines vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung und verschiedenen Bündner Institutionen unterstützten Forschungsprojektes darstellt. Im Vorwort, das dreisprachig abgedruckt ist, weist Bruno Moretti, der Leiter des Projektes, darauf hin, dass zwar Forschungsarbeiten zum Rätoromanischen, den deutschen Dialekten (Bündner und Walser) und dem Italienischen in reicher Zahl vorliegen, dass aber die Mehrsprachigkeit (amtliche, gesellschaftliche und individuelle) trotz dem epochemachenden Werk von Weinreich 1 und Kristols Monographie über Bivio 2 eher stiefmütterlich behandelt wurde. Deswegen setzt sich die vorliegende Arbeit das Ziel, die Dreisprachigkeit in Bezug auf Sprachkenntnisse und Sprachverwendung, auf die metasprachlichen Diskurse, auf die Einstellungen gegenüber den Sprachen und auf die Beziehung zwischen den Sprachgruppen zu untersuchen. Nur kurz sei darauf hingewiesen, dass sich hinter den Sprachnamen jeweils komplexe soziolinguistische Verhältnisse verbergen: Deutsch betrifft die sogenannte mediale Diglossie von Standarddeutsch und den Deutschschweizer Dialekten, Italienisch verweist auf die Diglossie von Standarditalienisch und den Südbündner Dialekten, und Rätoromanisch ist ein cover term für die - je nach Lesart - vier oder fünf romanischen Idiome, ihre Schriftstandards und Rumantsch Grischun als gemeinsamem Schriftstandard. Die Beantwortung der gestellten Fragen wurde in verschiedenen Teiluntersuchungen durchgeführt: halbstandardisierte Interviews mit jeweils acht Personen aus achtzehn ausgewählten Orten und eine schriftliche Befragung von jeweils mindestens vierzig Personen aus den gleichen Orten, eine schriftliche Befragung von Angehörigen der Kantonsverwaltung (rund 1800) und halbstandardisierte Interviews mit 51 Vertretern der Verwaltung und der kantonalen Sprach- und Kulturorganisationen und schliesslich eine schriftliche Befragung von 78 Gemeinden aus dem sogenannten traditionellen romanischen Sprachgebiet. Die Fragebögen sind im Anhang des Buches abgedruckt, der Verlauf der Interviews wird p. 14 beschrieben. Weiter werden Daten der Eidgenössischen Volkszählungen verwendet, die in Kapitel II (25-56) und weiteren Teilkapiteln ausgewertet werden. Sie zeigen den stetigen Rückgang des Italienischen und des Rätoromanischen als Mutterresp. Hauptsprache in absoluten und relativen Zahlen, der sich allerdings in den rätoromanischen Kerngebieten etwas differenzierter darstellt. Dieser Rückgang geschieht im Wesentlichen zu Gunsten des Deutschen und - in geringerem Ausmass - zu Gunsten der sogenannten «anderen Sprachen» (also der Nicht-Landessprachen). Nach der Einleitung und dem Kapitel über die Volkszählung behandelt zunächst Regula Cathomas in Kapitel III (57-138) «Orte des traditionellen rätoromanischen Sprachgebietes» (das traditionelle romanische Sprachgebiet umfasst die Ortschaften, die in 225 Besprechungen - Comptes rendus 1 U. Weinreich, Languages in Contact. Problems and Findings, New York 1953. 2 A. Kristol, Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit in Bivio (Graubünden). Linguistische Bestandesaufnahme in einer siebensprachigen Dorfgemeinschaft, Bern 1984. Band 1 des Dicziunari Rumantsch Grischun (1939) unter «Romanischbünden» aufgelistet sind). Ausgewählt wurden drei Orte mit starker, drei Orte mit mittlerer und zwei Orte mit geringer Präsenz des Rätoromanischen (erfasst mit Hilfe der Daten der Eidgenössischen Volkszählung 2000). Cathomas gibt die Ergebnisse der Fragebogenerhebung und der Interviews mit acht Personen wieder. Dargestellt werden jeweils der Gebrauch der Sprachen im Alltag, die ersterworbene(n) Sprache(n) und die selbsteingeschätzte Kompetenz in den Sprachen. Es folgt der Sprachgebrauch in verschiedenen Domänen: Familie, Freunde, Arbeitsplatz, Gemeindebehörden und Schule. Ein Teilkapitel ist den Veränderungen der Bevölkerungsstruktur durch Wegzug, Zuzug, Pendeln, Veränderungen der Nutzung (z. B. touristische Nutzung an Stelle von landwirtschaftlicher) und weitere Faktoren gewidmet. Dann wird die Frage nach dem Lernen des Rätoromanischen als L2 gestellt; sie betrifft im Wesentlichen Zugezogene, die teilweise aus Südtirol, teilweise aus der Deutschschweiz stammen. Ein weiteres Teilkapitel behandelt die Einstellungen: Wichtigkeit der Sprachen und emotionale Bindungen an sie. In Teilkapitel 5 wird eine vergleichende Synthese der einzelnen Ortschaften dargestellt, während Teilkapitel 6 sich den Zukunftsaussichten des Romanischen und dem Rumantsch Grischun zuwendet, das kontrovers beurteilt wird. In der Zusammenfassung (138) kommt die Autorin zum Schluss, dass die Zukunftsaussichten des Rätoromanischen durch die Präsenz des Romanischen in den einzelnen Gemeinden geprägt sei: je präsenter das Romanische, umso eher wird es eine Zukunft haben. Uneins sind sich die Befragten über die Rolle der Behörden - Romanen erwarten, dass der Kanton handelt, Deutschsprachige dagegen zählen auf die Eigeninitiative der Romanen. Kapitel IV von Mathias Picenoni behandelt die «Regioni del territorio di lingua italiana» (139-200). Als italienische Regionen werden das Puschlav (Val Poschiavo), die Moesa bestehend aus der Val Calanca und dem Misox und das Bergell (Val Bregaglia) betrachtet. Die drei Regionen weisen unterschiedliche Bedingungen auf. Das Puschlav (bestehend aus den Gemeinden Poschiavo und Brusio) öffnet sich gegen das Veltlin, ist also ans italienische Sprachgebiet angeschlossen. Entsprechend dominiert das Italienische als Hauptsprache in beiden Gemeinden mit über 90 %. Spannungsreich ist das Verhältnis von Standarditalienisch und lokalen Dialekten, die sich in einer diglossischen Situation befinden, wobei in Poschiavo der Dialekt präsenter ist als in Brusio; aber auch in Poschiavo sind Tendenzen zur Vermeidung des Dialektes in der Familie zu finden. Bei den jüngeren Befragten in Poschiavo stellt der Autor fest, dass dieser Ort für sie ihr Zentrum darstellt und damit auch der lokale Dialekt zentral ist; das gilt nicht für Brusio. Die älteren Befragten sehen auch in Poschiavo, dass das Deutsche aus ökonomischen Gründen unabdingbar ist. Das Deutsche tritt deswegen vor allem im Beruf in beiden Ausprägungen (Standard und Dialekt) zu je etwa 20 % auf; das Romanische spielt nur eine geringe Rolle. Insgesamt weisen die beiden Gemeinden unterschiedliche Situationen auf und die ältere Generation unterscheidet sich von der jüngeren. Die Moesa weist zwei unterschiedliche Täler auf: das Calancatal mit einem deutlich höheren Anteil an Deutschsprachigen als die Mesolcina, die stärker auf das Tessin ausgerichtet ist, was den höheren Anteil an Italienischsprachigen erklärt. Das Rätoromanische spielt hier keinerlei signifikante Rolle. Dagegen ist wiederum das Verhältnis von Dialetto und Standarditalienisch interessant - hier unterscheidet sich etwa der Ort Mesocco mit einem zunehmenden Dialektgebrauch von den andern Orten. Überhaupt ist die Diglossie mit Dialetto als informaler und Italienisch als formaler Sprache recht fest. In der Mesolcina werden Deutschsprachige eher integriert als im Calancatal. In der Synthese stellt der Autor fest, dass die Einwohner der Moesa eine Art doppelte Kantonszugehörigkeit aufweisen - rechtlich und politisch gehören sie zu Graubünden, kulturell und sprachlich eher zum Tessin. Das Bergell als dritte Region (mit einer Gesamteinwohnerzahl von 1503 im Jahre 2000! ) war schon Gegenstand einer ausführlichen Studie von Bianconi 3 . Es zeigt eine mehrspra- 226 Besprechungen - Comptes rendus chige Situation, mit einer Dominanz des Italienischen als Hauptsprache (je nach Ort zwischen zwei Drittel und achtzig Prozent) und dem Deutschen (zwischen einem Drittel und knapp dreizehn Prozent). In formalen Situationen wird mehr Italienisch und weniger Bergeller Dialekt gesprochen, in der Familie ist es umgekehrt; in beiden Domänen wird eher Schweizerdeutsch als Hochdeutsch verwendet; im Berufsleben ist das Deutsche in beiden Formen wichtig. Man hat es also mit einer doppelten Diglossie-Situation zu tun, wobei die deutsche Diglossie klar minoritär ist. Die Diglossie Italienisch-Bergeller Dialekt ist je nach Ort unterschiedlich ausgeprägt; der Dialekt ist zwar im Rückgang begriffen, gilt aber als Bergeller Identitätszeichen. Das Romanische hingegen ist als Hauptsprache nicht sehr präsent; Bergeller Dialekt und engadinisches Putèr gelten jedoch als gegenseitig leicht verständlich, und so spielt das Romanische im Verkehr mit dem Engadin eine Rolle. Ebenso wird das Lombardische im Verkehr mit Arbeitskollegen aus dem angrenzenden Italien verwendet. Im fünften Kapitel behandelt M. Picenoni «Casi particolari dell’italofonia» (201-32), nämlich Maloja und Bivio. Maloja gehört zwar politisch zum Bergell, befindet sich aber jenseits des Passes mit Blick aufs Engadin. Von den 240 Einwohnern (2000) zählen sich rund die Hälfte zur italienischen Sprachgruppe und rund ein Drittel zur deutschen. Fragebogen und Interviews zeigen, dass fast alle Einwohner mehrsprachig sind und dass überwiegend die Dialektformen verwendet werden. Als zentral für die Stützung des Italienischen kann die Schule gelten, die auch deutschsprachige Familien zum Gebrauch des Italienischen motiviert, was sich allerdings auch negativ auf den Gebrauch des Bergellischen auswirkt. Das Romanische wird von den Befragten nur schlecht gekannt und insgesamt nur wenig gebraucht - Maloja ist also eher zweials dreisprachig. Maloja befindet sich als kleine Gemeinde mit zwei Sprachgruppen allerdings insgesamt in einer kritischen ökonomischen und sozialen Situation, die zu Konflikten führen kann. Bivio - mit 204 Einwohnern (2000) etwa gleich gross wie Maloja - unterliegt einer klaren Tendenz zur Germanisierung (mit über fünfzig Prozent Deutsch als Hauptsprache gegenüber rund dreissig Prozent Italienisch und etwa einem Achtel Rätoromanisch in der Volkszählung 2000). Die vorliegende Untersuchung zeigt aber, dass rund zwei Drittel der Einwohner mehrsprachig sind und rund ein Drittel Deutsch, Italienisch und Romanisch in ihrem Repertoire haben. Die Primarschule findet auf Italienisch statt; die Sekundarschule in Savognin dagegen auf Deutsch; das Rätoromanische ist in der Schule vor allem auf dem Pausenplatz präsent und wird durch den Kontakt mit dem Tal gefördert. Da die meisten Schülerinnen und Schüler aber deutscher Muttersprache sind, wird dieses Modell in Frage gestellt. Für den Berufsbereich sind die deutschen Varietäten unabdingbar. Die «Sprachinselmentalität», die Kristol noch feststellen konnte, scheint der Vergangenheit anzugehören; der romanische Dialekt von Bivio ist bei den Jüngeren verschwunden. Er scheint ersetzt zu werden durch das Romanische des Tales, gefördert von der Zusammenarbeit im Schulbereich. Im 6. Kapitel (233-50) behandelt Thomas Gadmer «Orte des deutschen Sprachgebietes». Ausgewählt wurden drei Orte: Vals, St. Peter und Klosters. Vals ist eine Walser Gemeinde in rätoromanischsprachigem Umfeld, versteht sich aber im Wesentlichen als deutschsprachige Minderheit. Das Rätoromanische ist hier «schlicht nicht existent» (237), das Italienische wird in der Schule gelernt, aber kaum gebraucht. Gesprochene Sprache ist fast durchwegs Schweizerdeutsch. St. Peter ist ein kleines Dorf im Schanfigg, mit Einflüssen von Walser und Churer Dialekt, ohne klaren lokalen Dialekt. Ein praktisch rein deutschsprachiges Dorf, vergleichbar «einem beliebigen Ort der deutschsprachigen Ostschweiz» (243), mit einem auch durch Pendler bedingten Einfluss von Chur. Italienisch wird als Lingua 227 Besprechungen - Comptes rendus 3 S. Bianconi, Plurilinguismo in Val Bregaglia, Bellinzona 1998. franca mit italienischen und portugiesischen Bauarbeitern verwendet. Der Walserort Klosters ist mit 3890 Einwohnern (2000) ein lokales Zentrum mit touristischer Funktion. Auch dieser Ort ist klar deutschsprachig, Romanisch ist «marginal vertreten» (247). Als Fremdsprachen sind die Sprachen der «Gäste» wichtig - das sind Englisch und Hochdeutsch. Der Vereinatunnel verbindet Klosters zwar verkehrstechnisch mit dem Unterengadin, aber ohne Kontakte zu verstärken. Das Kapitel ist anders strukturiert als die vorausgehenden. In der Synthese wird generelles Verständnis für die Dreisprachigkeit des Kantons erwähnt, ohne dass aber die Deutschsprachigen für sich selbst ein Handlungsbedürfnis verspüren würden. Das 7. Kapitel ist Chur gewidmet: «Chur - Hauptstadt des dreisprachigen Kantons Graubünden» (251-262). Verfasst wurde es von R. Cathomas, M. Grünert und M. Picenoni. Es beruht auf einer früheren Publikation und enthält deswegen einige Wiederholungen, so etwa im Abschnitt über die Zahlen der Eidgenössischen Volkszählungen. Sie zeigen, dass Personen mit Deutsch als Hauptsprache etwa 80 % erreichen, Italienisch und Rätoromanisch sind beide bei etwas über fünf Prozent. Gebraucht werden diese beiden Sprachen allerdings deutlich mehr (Rätoromanisch rund 10 Prozent, Italienisch rund 20 Prozent) und Deutsch wird praktisch von allen gebraucht. Mehr Raum wird dann den Minderheitensprachen und ihrer «Reproduktion» gewidmet. Die Ergebnisse von Interviews zeigen, dass die Einschulung der Kinder von Familien, in denen die Minderheitensprachen gesprochen werden, als einschneidend empfunden wird: das Schweizerdeutsche dringt in die Familien ein und ersetzt die Minderheitensprache. Entsprechend zeigen dann auch die Fragebogen, dass sich die erste Generation der Einwanderer mit Minderheitensprachen ihrer Herkunftssprache zugehörig fühlen, während die zweite Generation sich entweder als beiden Gruppen zugehörig oder nur als Schweizerdeutschsprechende betrachten.Vereine der Minderheitensprachen (z. B. rätoromanische Chöre) bestehen praktisch nur aus Einwanderern der ersten Generation; sie haben «keine Bedeutung» für die Weitergabe der Minderheitensprachen (259). Ein kurzes Teilkapitel ist der zweisprachigen Schule in Chur gewidmet. Sie kann allerdings nicht verhindern, dass das Schweizerdeutsche für die Kinder zur Hauptkommunikationssprache wird. Das letzte, achte Kapitel «Die Sprachen auf institutioneller Ebene» (263-386) von Matthias Grünert ist praktisch eine eigene Monographie, die auf mehreren Datenquellen beruht. Zunächst wird die Auswertung einer Befragung mittels E-Mail und von Interviews, die der Autor auf Deutsch, Italienisch oder Romanisch geführt hat, dargestellt. Beteiligt waren: Kantonale Verwaltung, Kantonale Gerichte, Bündner Kantonalbank, Rhätische Bahn und Bündner Gebäudeversicherung. Der Schwerpunkt dieser Institutionen liegt in Chur; deswegen stammen auch weitaus die meisten der beantworteten Fragebogen aus Chur. Inhaltlich ist dieses Kapitel überaus reich und detailliert gestaltet. Formal unterscheidet es sich von den andern Kapitel durch eine grosse Anzahl von Zitaten aus den Interviews, die die Lektüre sehr lebendig gestalten. Behandelt werden die folgenden Themen: die Präsenz der Sprachgruppen in den kantonalen Institutionen, die Sprachkompetenzen in den Kantonssprachen als Erst- und Zweitsprachen, die Kommunikation am Arbeitsplatz und die Wahl der Arbeitssprache, die mündliche Kommunikation nach aussen, die Korrespondenz aus der Sicht der Verfasser und der Empfänger (hier wird eine Befragung der Gemeindeverwaltungen beigezogen), die Textsorten der kantonalen Institutionen und ihre Internetauftritte. Ein eigenes Teilkapitel ist den Einstellungen zum Rumantsch Grischun gewidmet; ein weiterer Abschnitt sammelt die Aussagen zur Dreisprachigkeit und zu Minderheitenfragen. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einer Zusammenfassung. Das Hauptergebnis lässt sich wie folgt zusammenfassen: die dominierende Sprache ist Deutsch. Das Italienische hat einen stärkeren Stellenwert und ist sicht- und hörbarer als das Rätoromanische, das zwar durchaus verwendet wird, aber eher im mündlichen, als im schriftlichen Bereich. Grünert 228 Besprechungen - Comptes rendus identifiziert hier eine «Aussendiglossie» mit Rätoromanisch als mündlicher und Standarddeutsch als schriftlicher Sprache. Das Rumantsch Grischun findet im rätoromanischen Gebiet deutlich weniger Zustimmung als in den andern Gebieten. Schliesslich identifiziert der Autor zwei unterschiedliche Haltungen zur Dreisprachigkeit: die positive, auf Kohäsion und Gleichberechtigung pochende, und eine utilitaristische, die primär den kommunikativen Nutzen der Sprachen sieht und die Kosten der Dreisprachigkeit als unnötig betrachtet. Der Band schliesst mit einem kurzen Schlusskapitel, das auch auf Rätoromanisch und Italienisch abgedruckt ist. Die entscheidende Einsicht ist wohl, dass die Bündner Sprachenlandschaft zweigeteilt ist: in einen deutschen und einen italienischen Teil. Das rätoromanische Gebiet ist in das deutsche «integriert» (395). Die amtliche Politik der «Erhaltung und Förderung» des Rätoromanischen (so Artikel 3, Absatz 1 der Kantonsverfassung) «ist in der Gruppe der Hauptadressaten mit einer ungenügenden Akzeptanz konfrontiert» (396). Anders und so nicht im Band formuliert: das Territorialitätsprinzip mit seiner Vorstellung vom monolingualen Menschen macht der Mehrsprachigkeit Platz, die für einen grossen Teil der Romanischsprachigen Alltag ist. Das Buch ist das Ergebnis eines umfassenden Blicks auf die Bündner Sprachsituation; es ist das erste seiner Art und deswegen für die Forschung äusserst willkommen. Es zeichnet ein sehr detailliertes Bild der Bündner Dreisprachigkeit. Das ist einerseits sehr verdienstvoll, erlaubt es doch, vorschnelle Generalisierungen zu vermeiden - so zeigt etwa das Kapitel über die romanischen Ortschaften, dass durchaus lokale Unterschiede bestehen, die sich auf die Zukunftsaussichten des Rätoromanischen auswirken können.Anderseits geht in der Fülle der Details der Blick aufs Ganze manchmal verloren. Man muss sich jedoch klar machen, dass der Kanton auf Grund seiner Geographie sehr schwer fassbar ist - die einzelnen Täler, die Pässe, das Strassen- und Bahnnetz stellen für die verschiedenen Ortschaften sehr unterschiedliche Bedingungen dar, die durch politische Grenzziehungen und religiöse Zugehörigkeiten noch verstärkt werden. Unterschiedliche Nutzungen wie Landwirtschaft, Tourismus und Industrie führen zu unterschiedlichen kommunikativen Bedürfnissen und deren Deckung. Die Auswahl der untersuchten Orte spiegelt das Dilemma der Forschenden - das Oberengadin, Paradebeispiel einer vielsprachigen Zone, in der es keine dominierende Hauptsprache (mehr) gibt, wird ausgeklammert. Zwar erhält Chur ein eigenes Kapitel, aber die urbaneren Orte des Kantons wie Davos, Domat/ Ems und etwa die ganze Bündner Herrschaft bleiben ausgespart. Stattdessen werden dörfliche kleine Gemeinden mit einer überblickbaren Struktur untersucht, von denen es zugegebenermassen sehr viele gibt. Damit wird ein kumulatives System von monolingualen Ortschaften als Grundlage genommen und gerade nicht die gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als Ganzes abgebildet. Das zugrundeliegende Forschungsprojekt kombinierte qualitative und quantitative Methoden - allerdings durchwegs Formen der Befragung. Es wurden keine zusätzlichen Instrumente oder Erhebungsmethoden verwendet. Mit den schriftlichen Fragebögen wurde insgesamt eine grosse Menge an Material gesammelt; bei der Auswertung bleiben die Autoren jedoch bei bloss deskriptiven Aussagen (meistens in Prozentzahlen, die bei den teilweise dann doch sehr geringen Grundgesamtheiten wenig Sinn machen). Als einzige unabhängige Variable wird jeweils das Alter angenommen und in der Gegenüberstellung von drei Altersgruppen dargestellt. Das Geschlecht als sicherlich interessante Variable, gerade wenn es um die Weitergabe von Sprachen geht, wird nirgends thematisiert. Auch der sozioökonomische Status oder die Bildungsstufe (nach allen Erkenntnissen zentral für Sprachkompetenzen) bleiben ausgeklammert. Beim Kapitel über Chur fragt man sich, warum hier nicht andere Untersuchungsformen miteinbezogen wurden; im kleinen Teilkapitel über die Sprachen im öffentlichen Raum hätte sich der Linguistic-Landscape-Ansatz aufgedrängt - wer Chur besucht, kommt nicht umhin, die Präsenz der Sprachen im öffentlichen Raum wahrzunehmen. 229 Besprechungen - Comptes rendus Soweit wir sehen können, fehlt eine Auseinandersetzung mit den Sprachenartikeln der Kantonsverfassung von 2003. Zwar ist die Verfassung ein normativer Text und die Aufgabe des Forschungsprojektes war es, die tatsächlichen Verhältnisse festzuhalten. Dennoch hätte der normative Text den Blick auf die Wirklichkeit kritisch schärfen können. Die grosse Menge von Tabellen im Text wird leider nur schlecht erschlossen: es gibt keine Tabellentitel. Hinzu kommt, dass die Formatierung der Tabellen nicht in allen Kapiteln gleich ist. Einzelne Tabellen im Kapitel über die italienischen Gebiete hätten so nicht publiziert werden dürfen (etwa p. 163 unten oder p. 169). Prozentangaben erscheinen manchmal mit Kommata, manchmal mit Punkten. Einzelne Tabellen sind in ihrer Informationsfülle schlicht nicht lesbar (etwa p. 45-49 oder p. 50s.). Im ausführlichen achten Kapitel werden teilweise Prozentzahlenvergleiche in den Text integriert, was der Lesbarkeit schadet (etwa p. 267). Die grosse Fülle der Informationen im gesamten Text hätte durch ein Sachregister erschlossen werden können - darauf wurde leider verzichtet. Druckfehler sind zwar kaum zu finden, ein recht peinlicher erscheint aber auf der Karte 9 im Anhang, wo der Sprachname «Italiensich» zu finden ist (der im übrigen aus der Internetquelle stammt, von der die Karte heruntergeladen wurde). Insgesamt aber legen die Autoren ein Werk vor, das die Bündner Dreisprachigkeit in einer umfassenden Art und Weise darlegt und der weiteren Forschung äusserst nützliche Dienste leisten kann. Iwar Werlen Linguistique romane générale - Allgemeine romanische Sprachwissenschaft Eugenio Coseriu, Lateinisch - Romanisch. Vorlesungen und Abhandlungen zum sogenannten Vulgärlatein und zur Entstehung der romanischen Sprachen. Bearbeitet und herausgegeben von Hansbert Bertsch, Tübingen (Narr) 2008, xx + 484 p. Der vorliegende Band zum Vulgärlatein eröffnet eine Schriftenreihe des Gunter Narr Verlags, die dem Tübinger Eugenio Coseriu-Archiv dazu dienen soll, sowohl Schriften aus dem Nachlass des Forschers als auch sonstige in Verbindung mit dem Archiv entstehende und entstandene Arbeiten zu publizieren. Mit dem Vulgärlatein wurde für den ersten Band gleich ein Thema gewählt, mit dem sich Coseriu seit den fünfziger Jahren immer wieder intensiv und aus verschiedenen Blickwinkeln auseinandersetzte. Hansbert Bertsch, der Herausgeber, dem wir diese Bearbeitung und Zusammenstellung - und zum Teil auch Übersetzung - veröffentlichter Texte und Manuskripte verdanken, ist als Schüler Coserius mit dessen Arbeiten bestens vertraut. In seiner Einleitung (xiii-xx) weist Bertsch darauf hin, wie wegweisend vor allem das in der Vorlesung Apuntes de la evolución de la lengua enthaltene und 1954 veröffentlichte Kapitel zum Vulgärlatein für die romanische Sprachwissenschaft war. Coserius Arbeiten zum sogenannten Vulgärlatein und zur Entstehung der romanischen Sprachen sind auch heute noch keineswegs überholt, wodurch ein Sammelband mit seinen wichtigsten Schriften eigentlich keiner besonderen Rechtfertigung bedarf, aber auch die wieder intensiver gewordene Beschäftigung mit den oben genannten Themen in einer Reihe von Publikationen 1 in den letzten Jahren ließ ein solches Unternehmen wünschenswert erscheinen. Wie bereits der Titel verrät, geht es in dieser umfassenden Darstellung nicht nur um das sogenannte Vulgärlatein, sondern vor allem auch um die Entstehung der romanischen Spra- 230 Besprechungen - Comptes rendus 1 LRL 2, um nur ein Beispiel zu nennen.