eJournals Vox Romanica 69/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2010
691 Kristol De Stefani

Hans Lagerqvist, Le subjonctif en français moderne. Esquisse d’une théorie modale. Préface d’Olivier Soutet, Paris (PUPS) 2009, 519 p.

121
2010
Peter  Wunderli
vox6910325
Insgesamt liegt die Stärke von Doro-Mégys Untersuchung unbestreitbar in dem reichen Belegmaterial und den vielfältigen, anregenden Analysevorschlägen. Neben den oben resümierten Überlegungen zu think/ believe in der ersten und zweiten Person, werden noch verneintes think/ believe (117-39), sowie think/ believe in der ersten Person des Imperfekt (141-61) und in der dritten Person (179-208) untersucht. Im Gesamtfazit kann Verf. think und croire als prädestiniert für die altérité radicale (Typ: «She thinks I shot Miles»), believe und penser als prädestiniert für die altérité qualitative beschreiben (Typ: «I think Marino is an excellent police officer»). Entscheidender ist noch ein anderer abschließender Befund (213-14), der sich in den oben vorgestellten, aber auch in den übrigen Kapiteln des Buchs andeutet. Während think und believe sich durch den Grad der Assertivität der relation prédicative des Nebensatzes unterscheiden, ist dies bei croire und penser nicht unbedingt so: Mit penser wird eher ein Standpunkt von S P ausgedrückt, mit croire auf die Überprüfbarkeit der relation prédicative abgehoben. Martina Nicklaus ★ Hans Lagerqvist, Le subjonctif en français moderne. Esquisse d’une théorie modale. Préface d’Olivier Soutet, Paris (PUPS) 2009, 519 p. Und noch eine Untersuchung zum Konjunktiv im Neufranzösischen! Als ob es deren nicht genug gegeben hätte in den letzten 50 Jahren, wobei das Thema vor allem von skandinavischen Forschern unter immer wieder neuen Perspektiven mit fast schon manischer Beharrlichkeit diskutiert wurde. Diesem Einwand hält Olivier Soutet allerdings in seinem Vorwort entgegen, «qu’il est toujours nécessaire que, périodiquement cette question, et plus généralement, celle de l’articulation des modes conjugués en français soit reprise et réévaluée tant à partir de corpus nouveaux que d’analyses théoriques capables d’ouvrir de nouvelles perspectives» (7). Beides tut Hans Lagerqvist, allerdings mit nach unserer Ansicht unterschiedlichem Erfolg.Auf jeden Fall kann er immer wieder zeigen, dass sich bei der Frequenz der verschiedenen Modi in den letzten 50 Jahren z. T. erhebliche Verschiebungen ergeben haben, wenn man auch einschränkend sagen muss, dass seine Korpora nur bedingt mit den stärker literatursprachlich orientierten von Börjeson 1966, Carlsson 1969, Nordahl 1969, Boysen 1971, Silenstam 1973 usw. vergleichbar sind 1 . Lagerqvist stützt sich für seine Untersuchung auf zwei verschiedene, gleichwohl aber in vielerlei Hinsicht affine Korpora: ein Korpus Q (quotidiens), das aus 42 Nummern von Pariser Tageszeitungen aus den Jahren 1997/ 98 besteht, und ein Korpus M (monographies), das 18 Buchpublikationen aus den Jahren 1998/ 99 umfasst, die den Tageszeitungen vergleichbare Themen behandeln. Allerdings ist dem Verfasser bei der Erstellung des zweiten Korpus ein grober Fehler unterlaufen: Er hat darin Jean Ziegler, Les Seigneurs du crime (Paris 1999) aufgenommen. Leider ist Jean Ziegler nicht französischer, sondern deutscher Muttersprache, in Bern aufgewachsen und heißt eigentlich Hans Ziegler. Die Studie beginnt mit einem Vorwort von Olivier Soutet (7), an das sich Danksagungen (8) und ein Verzeichnis der Siglen, Abkürzungen und Symbole (9-11) anschließen. Darauf folgt eine Diskussion der für die Arbeit spezifischen Termini (13-21) sowie einige praktische Hinweise für die Benutzung der Untersuchung (23s.). Es folgt eine Introduction, in der der theoretische Rahmen dargelegt wird, in dem sich Lagerqvist bewegt (25-90). Was man hier vermisst, ist ein systematischer Forschungsbericht. 325 Besprechungen - Comptes rendus 1 Für die genauen bibliographischen Angaben cf. das Literaturverzeichnis von Lagerqvist 2009, v. a. 494s. Das erste Hauptkapitel behandelt dann die Virtualisation par voie axiomatique (91-255), wobei es in erster Linie um die Konjunktivsetzung bei noch zukünftigem Geschehen geht. Alle Hauptkapitel liefern ein reichhaltiges Belegmaterial, das im Rahmen von Lagerqvists Ansatz erörtert wird; oft ergeben sich daraus auch weiterführende theoretische Schlussfolgerungen. Das zweite Hauptkapitel ist der Virtualisation par intervention subjective gewidmet (257-421), in dem v. a. die sprecherbedingte Wahl des subjonctif aufgrund von Zweifeln, Unsicherheit oder Ablehnung diskutiert wird. Das dritte Hauptkapitel schließlich ist mit Subjonctif par structuration sémantico-syntaxique überschrieben (423-63) und behandelt die Modussetzung bei Prolepsis des Nebensatzes, nach le fait que, nach den Verben comprendre, concevoir, expliquer und supposer, sowie im Temporalsatz nach après que. Während die Abgrenzung der Kapitel 1 und 2 einen durchaus systematischen Eindruck macht, gilt dies kaum mehr für Kapitel 3, das eher den Eindruck eines Sammeltopfes für nicht in 1 und 2 unterzubringende Erscheinungen macht. Der Systematik entzieht sich auch Kapitel 4, Les formes syncrétiques (465-77), in dem Verfahren diskutiert werden, um bei identischen Formen von Indikativ und Konjunktiv die jeweiligen Belege doch noch der einen oder andern Kategorie zuweisen zu können. Als Kapitel 5 folgen dann die Remarques finales (479-88), an die sich noch eine ausführliche Bibliographie (489-500), ein Wort- und Sachindex (501-08) sowie Verzeichnisse der Tabellen und Graphiken (509-14) anschließen. Den Schluss macht das detaillierte Inhaltsverzeichnis (515-19). Um diese Strukturierung besser verstehen zu können, ist es notwendig, ausführlicher auf Lagerqvists theoretischen Ansatz einzugehen. Wie er selbst sagt, ist seine «théorie modale liée à l’axe du temps» (153), oder mit anderen Worten: Die Modusgliederung wird auf die Zeitachse projiziert. Für L. ist alles, was in der Gegenwart oder der Vergangenheit liegt, aktuell und würde im Prinzip durch den Indikativ ausgedrückt 2 ; was dagegen in der Zukunft liegt, hätte virtuellen Charakter und wäre zum Konjunktiv affin (38). Die Positionierung eines Geschehens auf der Zeitachse würde dementsprechend einen facteur actualisant oder einen facteur virtualisant darstellen (14). Damit knüpft Lagerqvist an die Modustheorie von Eugène Tanase an 3 , auf den er sich auch explizit beruft (42s.); diese ist in der Forschungsliteratur allerdings so gut wie nicht rezipiert worden, was L. eigentlich hätte als Warnung dienen müssen. Er hat dieses Signal aber ignoriert und besteht darauf, dass Zukünftigkeit Virtualität bedeutet, und Virtualität heißt Affinität zum Konjunktiv, dem Modus der Virtualität 4 . Alle Konjunktivverwendungen, bei denen man eine Zukünftigkeit (futurité) der betroffenen Geschehenswiedergabe ausmachen könnte, wären deshalb durch deren virtualité axiomatique bedingt. Da aber ganz offensichtlich nicht alle Konjunktivverwendungen der Bedingung der futurité gehorchen, wird noch die Kategorie der virtualité subjective eingeführt, zu der alle Fälle gehören, wo ein objektiv reales Geschehen gleichwohl im Konjunktiv wiedergegeben wird. Die Virtualisierung wäre in diesen Fällen nicht durch die futurité bedingt, sondern durch den (komplexen) Faktor doute/ incertitude/ rejet. Und da auch damit noch nicht das ganze Verwendungsspektrum abgedeckt ist, werden auch noch Faktoren wie carence (Nichtexistenz eines Geschehens), éventualité, déonticité usw. in Rechnung gestellt. Gegen diesen Ansatz sind auf Anhieb zwei Einwände zu erheben. Zwar ist die objektive Realität oder Nicht-Realität eines Geschehens nicht vollkommen unerheblich für die Modussetzung, aber sie ist nicht der entscheidende Faktor; entscheidend ist vielmehr, was 326 Besprechungen - Comptes rendus 2 Dies setzt allerdings eine unübliche Begrenzung des Indikativs auf den Bereich Vergangenheit/ Gegenwart voraus; cf. unten. 3 Cf. E. Tanase, Essai sur la valeur et les emplois du subjonctif en français, Montpellier 1943. 4 Bei dieser Gleichsetzung wird allerdings mit der Mehrdeutigkeit des Begriffes Virtualität gespielt: existentielle Virtualität und sprachliche (modale) Virtualität werden einander einfach gleichgesetzt. der Sprecher denkt, glaubt, meint, d. h. nicht die real-zeitliche, sondern die subjektiv-angenommene (Nicht-)Realität (wobei die beiden sehr wohl zusammenfallen, aber auch ebenso gut auseinanderdriften können; in diesem Fall dominiert dann die letztere). Ein zweiter Schwachpunkt ist, dass L. die Gegenwart und damit das Präsens immer nur punktuell sieht 5 und sich dadurch eine Fülle von Abgenzungsproblemen einhandelt; dass die Ausdehnung der Gegenwart immer sprecherabhängig ist und vom aktuellen Moment bis zur Unendlichkeit (überzeitliches Präsens) reichen kann, wird nirgends in Betracht gezogen. Wir sind somit bei Lagerqvist mit einer «Temporalisierung» des subjonctif konfrontiert, womit der Modus seinen Charakter als eigenständige Kategorie im wesentlichen verliert. Dieser Ansatz hat noch weiterreichende Folgen. Die erste (und noch harmloseste) ist die, dass weiterhin bedenkenlos die traditionellen, letztlich an das Tempussystem des Indikativs gebundenen Termini wie subjonctif présent, subjonctif passé, subjonctif imparfait, subjonctif plus-que-parfait usw. verwendet werden. Problematischer wird es bereits, wenn es um die Zeitreferenz geht. Wie soll man in L.s Rahmen plausibel erklären, warum ein subjonctif présent ein vergangenes Geschehen zum Ausdruck bringen kann? L. erklärt, der Indikativ hätte eine feste Zeitreferenz, der subjonctif dagegen nicht (39s.). Aber gibt er damit nicht auch die zeitliche Fundierung des Konjunktivs auf? Zudem muss er zugestehen, dass es auch Verschiebungen bei der Zeitreferenz der indikativischen Tempora gibt (hypothetische Konstruktionen, imparfait de politesse, imparfait hypocoristique usw.); dies hätte dann ein Abdrängen der Geschehenswiedergabe in den virtuellen Bereich zur Folge (48s.) - womit wir nahe bei meiner (nirgends erwähnten) Tempusmetapher wären . . . Das größte Problem stellt aber die Einordnung des Futurums (und des Konditionals) dar. Wenn der Indikativ aktualitätsbasiert ist, dann kann das Futurum kein Paradigma des Indikativs sein, da es ja ein noch virtuelles Geschehen zum Ausdruck bringt. Und in der Tat: Sein temporal-aktueller Ansatz zwingt L. dazu, dem Futurum seinen indikativischen Status abzusprechen und es zu einem eigenen, virtuellen Modus zu machen (39s., 68s. usw.). Nur: Worin besteht dann der Unterschied zwischen Konjunktiv und Futurum? Sind subjonctif und Futurum etwa synonym? Manchmal (z. B. 72, 171) scheint es fast so, aber bei weitem nicht immer. Der Verf. tut sich mit diesem Problem schwer, und er ringt sich schließlich zu der Aussage durch, das Futurum würde die Virtualität bzw. futurité deutlicher zum Ausdruck bringen. Das ist sicher nicht falsch - aber damit wird das Futurum doch wieder zum Tempus! Gleiches gilt übrigens für das Konditional, das für L. ein an die Vergangenheit zurückgebundenes Futurum ist, das primär modalen Charakter hätte (76). Dem ersten Teil dieser Aussage kann man ohne weiteres zustimmen, nicht mehr aber dem zweiten: Der modale Sinneffekt beruht vielmehr auf einer Tempusmetapher, was sich zwingend aus der Analyse der jeweiligen (temporalen) Kontexte ergibt. Und zur Krönung: Es gibt ja auch noch ein periphrastisches Futurum (Typus je vais chanter), und entsprechend wird oft auch ein periphrastisches Konditional postuliert. L. zögert nicht einen Moment, diese Konstruktionen zu futurischen Modi zu machen (15, 174), obwohl das flektierte Element präsentischer Natur ist! 6 Lagerqvists theoretischer Ansatz erweist sich somit als in vielerlei Hinsicht problematisch. Vorbehalte sind jedoch nicht nur hinsichtlich seiner Modustheorie an sich angebracht, sondern auch hinsichtlich einer Reihe von andern Aspekten. Die wichtigsten sollen hier kurz angesprochen werden: 327 Besprechungen - Comptes rendus 5 Cf. z. B. 191. 6 Mit den Periphrasen tut sich L. auch anderweitig schwer. So stuft er 304s. die Konstruktion puisse/ pût + inf. als analytischen subjonctif ein. Aber was soll da «analytisch» sein? Die Konstruktion enthält doch einen eindeutigen subjonctif! Vielmehr dient die Wendung zur Explizierung der Potentialität. - Obwohl L. sich mit dem subjonctif im Modernfranzösischen befasst, wimmelt es in seiner Darstellung von historischen Exkursen, die nur allzu oft überflüssig sind (so z. B. zur Modussetzung in der complétive (94), den concessives en série (389s.) usw.). Zudem bergen diese Ausgriffe immer die Gefahr einer Vermischung von Synchronie und Diachronie in sich. Am deutlichsten wird dies p. 71s., wo die modale Einstufung des Futurums zum einen damit begründet wird, dass das französische Futurum auf eine lateinische Modalperiphrase (habere + Inf.) zurückgehe, zum andern darauf verwiesen wird, dass im Indogermanischen das Futurum meist auf dem Konjunktiv basiere. Im Rahmen einer synchronischen Analyse zählt aber nur die jeweilige systematische Positionierung; historische Verbindungen sind dagegen unerheblich. - Unerfreulich an diesen Exkursen (wenn man sich denn schon mit ihnen abfindet) ist weiter, dass in ihnen das Mittelfranzösische fast regelmäßig einfach übergangen wird (z. B. 239, 363, 374 usw.). Und wenn es denn einmal in Betracht gezogen wird, dann basieren die Aussagen auf dem Que sais-je-Bändchen von Gaston Zink und der kleinen Grammatik zum 16. Jh. von Georges Gougenheim. Letztere Referenz macht auch deutlich, dass die Ausgrenzung des Mittelfranzösischen bei L. problematisch ist, bezieht er doch das 16. Jh. mit ein (und setzt sich damit in Widerspruch zu Zink). Dies erhellt auch p. 115 aus dem Zitat von Amyot und der Erwähnung des Wörterbuchs von Huguet als Quelle. Die drei großen Studien von Martin, Wilmet und Wunderli zur Modus- und Tempusproblematik im Mittelfranzösischen dagegen werden nirgends herangezogen 7 . - L. unterscheidet im Rahmen seines Ansatzes zwischen mode und essence der Verbformen, was im wesentlichen Saussures Unterscheidung von signifiant und signifié entspricht (38, 44, 68 et passim). Sieht man einmal von der wenig glücklichen und unnötigen terminologischen Innovation ab, wird dies in dem Moment problematisch, wo es um eine angebliche Polysemie der Modi geht: Wir hätten es jeweils mit einem subjonctif virtuel und einem subjonctif actuel, einem indicatif actuel und einem indicatif virtuel, einem futur virtuel (objectif) und einem futur actuel (subjectif) usw. zu tun, und zwar in Abhängigkeit von der Realität oder Nichtrealität des jeweiligen Geschehens. In all diesen Fällen liegt jedoch keine semisch begründete Polysemie vor, sondern vielmehr eine Variation im Bereiche der Bezeichnung: L. unterscheidet ganz offensichtlich nicht zwischen signifié und signification (Saussure), Bedeutung und Meinung (Weinrich), Sinn und Bedeutung (Frege) usw., Gegensätze, die nicht nur im lexikalischen, sondern auch im morpho-syntaktischen Bereich durchaus ihre Berechtigung haben (48, 68, 159, 163 et passim). - Dies führt uns zu einem weiteren Problemfeld, den (angeblichen) Semanalysen von L. Dass er zwischen sèmes lexicaux und sèmes grammaticaux unterscheidet (14), ist durchaus berechtigt. Aber wie steht es mit seinen Semen an sich? Im Falle von exclure (107) glaubt er die lexikalischen Seme ‘+ volonté/ déonticité’, ‘+ opposition à qc.’ und ‘+ rejet d’une idée’ isolieren zu können, ferner die grammatikalischen Seme ‘+ doute/ incertitude/ rejet’ und fakultativ ‘+ carence’ und ‘+ futurité’. Einmal abgesehen davon, dass die Annahme fakultativer Seme immer problematisch ist, muss erstaunen, dass rejet sowohl im lexikalischen wie im grammatikalischen Bereich auftaucht. Und was ist mit ‘+ carence’? Ist die Nichtexistenz eines Geschehens ein Sem? Und das Gleiche gilt für seine Zukünftigkeit (+ futurité). Ähnlich liegen die Dinge bei den Einleitungssequenzen für die 328 Besprechungen - Comptes rendus 7 Cf. R. Martin, Temps et aspect. Essai sur l’emploi des temps narratifs en moyen français, Paris 1971; M. Wilmet, Le système de l’indicatif en moyen français. Étude des «tiroirs» de l’indicatif dans les farces, sotties et moralités françaises des XV e et XVI e siècles, Genève 1970; P. Wunderli, Die Teilaktualisierung des Verbalgeschehens (Subjonctif) im Mittelfranzösischen. Eine syntaktisch-stilistische Studie, Tübingen 1970. konzessiven Relativsätze (418). Bei pronominalem und adjektivischem Nukleus glaubt L. die lexikalischen Seme ‘+ concession’ und ‘+ hypothèse’ isolieren zu können, ferner die grammatikalischen Seme ‘+ obstacle inopérant’, ‘+ doute/ incertitude/ rejet’, ‘+ éventualité’, ‘+ subjonctif’, ‘+ focalisation’. Bei adverbialem Nukleus wären es einerseits ‘+ concession’, ‘hypothèse’, andererseits ‘+ doute/ incertitude/ rejet’, ‘éventualité’, ‘+ subjonctif’ und ‘+ focalisation’. Seit wann gibt es denn so etwas wie negative Seme? Und wieso taucht hier subjonctif plötzlich als Sem auf? Und was ist mit dem Sem ‘+ focalisation’, das sonst nirgends eine Rolle spielt? Ähnlich liegen die Dinge bei der Analyse von tolérer (118), wo plötzlich die Rede von einem sonst nirgends erwähnten Sem ‘+ réticence’ ist. Und bei den finalen Konjunktionen wird afin que und pour que einerseits eine Semstruktur ‘+ cause’, ‘+ intention’, ‘+ futurité’, ‘+ subjonctif’, andererseits ‘+ hypothèse’, ‘+ intention’, ‘+ futurité’, ‘+ subjonctif’ zugeschrieben. Die Verben comprendre und convenir hätten in der Bedeutung ‘se rendre compte’ die Semstruktur ‘+ déclaratif’, ‘+ référence anaphorique’, ‘+ sujet humain’, ‘+ actualité’, ‘+ indicatif’, in der Bedeutung ‘trouver naturel, admettre’ die Semstruktur ‘+ appréciation subjective’, ‘+ référence anaphorique’, ‘+ sujet locutif’, ‘+ actualité’, ‘+ subjonctif’. Usw. Es ist ganz offensichtlich: Es gibt bei Lagerqvist keine stringente Semanalyse, die der systemgegebenen Strukturierung von Wortschatz und Grammatik Rechnung tragen würde 8 . Der Verf. erfindet vielmehr seine Seme, wie es ihm gerade passt, indem er textuelle, kotextuelle und kontextuelle Elemente einfach «semisiert», Verwendungsrestriktionen und morphosyntaktische Konsequenzen zu Semen macht, etc. Die Folge ist ein heilloses Durcheinander, in dem zwar treffende Beobachtungen nicht fehlen, das aber weit von einer operablen Darstellung entfernt ist. - Problematisch ist weiter L.s Normbegriff. Wenn L. von Norm spricht, ist immer die Norm der Grammatiker, die präskriptive Norm gemeint (18, 57 usw.); die deskriptive Norm im Sinne von Coseriu spielt nirgends eine Rolle, es sei denn indirekt bei der Berechnung des tau (taux d’autonomie [du subjonctif]) (21). Das mag ja noch hingehen. Problematisch wird sein Vorgehen dagegen, wenn er aus dem Faktor Norm eine eigene Kategorie der Modussetzung macht (Kap. 3.3.4, 57ss.): Die (präskriptive) Norm generiert keine eigene Kategorie der Modussetzung, sie verabsolutiert vielmehr anderweitig begründete Verwendungen der Modi (bei L. wären dies u. a. futurité, doute/ incertitude/ rejet, carence, usw.). Die Norm ist aber bei Lagerqvist nicht nur eine klassifikatorische Kategorie, sie ist auch ein Faktor, der (z. T. in Verbindung mit andern Faktoren) die Modussetzung steuern kann. So wäre z. B. die Verwendung des Indikativs nach unpersönlichen Ausdrücken mit adjektivischem, adverbialem und nominalem Kern durch die Faktoren Realität und Norm bedingt (346). Und der Gipfel wird p. 344s. bei der Semanalyse von il suffit erreicht, wo die Norm sogar zum Sem wird: il suffit wäre durch die Seme ‘+ limitation’, ‘+ éventualité’, ‘+ futurité’ und ‘+ norme’ charakterisiert. Und p. 345 wird gleich noch mal nachgedoppelt, wenn erklärt wird: «. . . le subjonctif a dû être généralisé sous l’influence du sème + norme.» Und ähnlich lesen wir zu den Gefühlsausrücken, dass der Konjunktiv «. . . est amené par le sème grammatical + norme, inhérent aux lexèmes de sentiment» (326)! - Lagerqvist arbeitet sehr oft mit dem Begriff der Stereotypie, um mehr oder weniger mechanisch vorgenommene Modussetzungen zu erklären. Stereotypien können nach ihm sowohl lexikalisch als auch stilistisch begründet sein (19, 30), was zutreffen mag. Wenn nun aber aus der Existenz von Stereotypen ein Argument abgeleitet wird, um Martinets double articulation durch eine triple articulation zu ersetzen, ist das doch des Guten zu- 329 Besprechungen - Comptes rendus 8 Zudem reichen die vorgeschlagenen Semkomplexe in keinem Fall aus, um die entsprechenden Lexien hinreichend von ihrem näheren und weiteren paradigmatischen Umfeld abzugrenzen. viel. Trotzdem: Nach Lagerqvist ist die 1. Artikulationsebene diejenige der Stereotypen, die 2. diejenige der Moneme, und die dritte diejenige der Phoneme (30ss.). Dabei übersieht er allerdings, dass sich die Bedeutung von Stereotypen nicht aus ihren ausdrucksseitigen Komponenten ableiten lässt; sie muss vielmehr als einheitliches signifié angesehen werden, dem allerdings ein gegliedertes signifiant gegenübersteht. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass Stereotypen Einheiten sind, die als mit den Monemen gleichrangig zu gelten haben; und damit erübrigt sich eine dritte Artikulationsebene. Ein weiteres Problem in diesem Bereich ist die terminologisch unglückliche Unterscheidung von stéreotypie explicite und stéréotypie implicite (33s.): Explizit wäre eine Stereotypie, wenn sie keine oder kaum Einschübe und Modifikationen einzelner Komponenten zulässt, implizit dagegen, wenn dies in größerem Ausmaß möglich ist. Dass die Verfestigung der Stereotypien eine graduelle Skala darstellt, ist sicher richtig. Nur: Wo ist die Grenze zwischen explizit und implizit? L. liefert uns kein operables Kriterium und scheint mehr oder weniger nach Gutdünken vorzugehen. Kriterien wie mehr oder weniger starke syntagmatische Unveränderlichkeit, mehr oder weniger große Vorhersehbarkeit der Morpheme und eingeschränkte Produktivität (33s.) bleiben im Vagen und weitgehend beliebig. Es kann denn auch nicht erstaunen, dass es z. B. bei der Beschreibung der volitiven Stereotypen (98s.) von Ausdrücken wie (il) semble, semble-t-il, (il) paraît, il y a lieu de penser usw. nur so wimmelt, ebenso wie von Charakterisierungen wie stéréotypes mi-explicites, mi-implicites, un stéréotype assez implicite, un stéréotype très implicite (d. h. eigentlich kein Stereotyp). Es ist sicher nicht alles falsch, was L. zu den Stereotypen sagt, aber es bleibt über weite Strecken schwer nachvollziehbar und v. a. unkontrollierbar. - Unglücklich ist schließlich auch der Ausdruck pluricontextualité, womit L. nicht das gleichzeitig Wirken von mehreren Kontexten versteht, sondern vielmehr das Zusammenspiel mehrer Kontextfaktoren, die schon für sich allein modusbestimmend wären (z. B. futurité + négation, doute/ incertitude/ rejet + futurité usw.; cf. z. B. 16, 103, 111, 263 usw.). Ein angemessener Ausdruck wäre cumul des facteurs modaux o. ä. - Bleibt noch ein letzter Punkt, Lagerqvists Versuch in Kap. 4 (465s.), synkretische Verbformen (Formenidentität von Ind. und Subj.) doch noch für den Konjunktiv zu vereinnahmen. Dafür nennt er 5 Kriterien: 1. détermination par référence temporelle (bei zukünftigem Geschehen wäre ein Subj. wahrscheinlich); 2. détermination par le tau (bei einem taux d’autonomie von 100 % wäre sicher, dass ein Subj. vorliegt); 3. détermination par exclusion (bei einem sehr hohen tau [98/ 99 %] wäre ein Subj. so gut wie sicher); 4. détermination par ne explétif (ein expletives ne wäre eine Garantie für einen Subj.); 5. coordination et juxtaposition (bei Koordination oder Juxtaposition mit einer nicht-synkretischen Form wäre die Interpretation der synkretischen als Subj. sicher). Die letzten beiden Kriterien sind weitestgehend unanfechtbar, nicht aber die ersten drei. Die temporale Referenz ist dabei das schwächste, und bei der Häufigkeit von Ind. Präs. (mit Zukunftsbezug) und Futurum ist es schlicht als unbrauchbar zu streichen. Kriterium 2 (tau 100 %) ist nur scheinbar solide, denn dieser Wert ist a) vom Korpus und b) von der absoluten Frequenz der einschlägigen Formen abhängig: je niedriger die Frequenz, umso unzuverlässiger das Kriterium. Und dieser Mangel verstärkt sich noch bei Kriterium 3. Die Sicherheit der konjunktivischen Interpretation ist somit nur eine scheinbare, der Rückgriff auf diese Kriterien zu vermeiden. Kommen wir zum Schluss. Hans Lagerqvist liefert uns in seiner Untersuchung ein hervorragendes Material, auch wenn man bedauern mag, dass die Zitate oft nur bruchstückhaften Charakter haben (weniger als ein ganzer Satz) und weitere Kontexte fast vollkommen fehlen. Große Relevanz haben auch seine Frequenzauswertungen, deren Bedeutung im Sinne von Entwicklungsindikatoren aber nicht überbewertet werden darf, denn ältere, direkt ver- 330 Besprechungen - Comptes rendus gleichbare Korpora stehen nicht zur Verfügung. Seine Beispielinterpretationen sind stringent und konsequent im Rahmen seines theoretischen Ansatzes, wenn man auch im Einzelfall seiner Argumentation nicht folgen mag (z. B. 152 Fut. und Cond. bei behördlichen Verordnungen; 201 déonticité [futurité] in «Je cherche une secrétaire qui sache le français»; 227s. jusqu’à ce que + Ind.; usw.). Solche Divergenzen gibt es immer; sie schmälern den Wert der zahlreichen guten Einzelbeobachtungen und -interpretationen in keiner Weise. Die Hauptschwäche der Arbeit liegt im theoretischen Ansatz, der nach meiner Auffassung unhaltbar ist. Dazu kommen noch weniger gewichtige Monita wie die Einseitigkeit der verarbeiteten Sekundärliteratur, die häufige Vermischung von Synchronie und Diachronie, die Vernachlässigung des Mittelfranzösischen bei den historischen (oft überflüssigen) Exkursen, unhaltbare Semanalysen, usw. Alles in allem eine gewichtige Arbeit, die aber in vielerlei Hinsicht mit Vorsicht zu genießen ist. Peter Wunderli ★ Gilbert Salmon (ed.), Les régiolectes du français, Paris (Champion) 2006, 335 p. (Travaux et recherches des Universités rhénanes XIX) Vorliegender Sammelband hat eine kuriose Geschichte. Er enthält 13 Beiträge 1 eines 1993 in Mulhouse abgehaltenen Kolloquiums zum français régional und speziell seiner Lexikographie sowie, darüber hinaus, immerhin 7 Aufsätze nur aus der Feder des Herausgebers. Während erstere mehrheitlich theoretische Fragestellungen zum Gegenstand haben, sind letztere überwiegend inventarisierender Natur. Lexikalische Regionalismen stehen im Vordergrund, ein Artikel zur Phonetik und drei zur (Morpho-)Syntax runden das Bild ab. Ein Aufsatz befasst sich mit dem Afr., alle anderen sind auf die Gegenwartssprache bezogen. Frankreich ist vorrangig vertreten, aber ebenso Belgien und die Schweiz. Sach- und Namensindex beschließen den Band. Zu den Inhalten im Einzelnen. Jean-Pierre Chambon (17-48) gibt einen kritischen Überblick über methodische Probleme der regiolektalen Lexikographie innerhalb des Jahrzehnts von 1983-1993. Nach allgemeinen Ausführungen, die von den ökonomischen Zwängen der Lexikographie des français régional über ihre präskriptiven Aspekte bis hin zur Vernachlässigung varietätenlinguistischer Darstellung und der Überbetonung des ländlichen Regiolekts reichen, verweist der Autor auf zwei Typen von Desiderata. Lexikographisch gesehen ist dies vor allem die vertieftere Berücksichtigung von Etymologie und Wortgeschichte, methodisch gesehen wird eine kritische Auswertung der lexikographischen und sonstigen Quellen gefordert sowie auf deskriptive Phänomene verwiesen, beispielsweise in der Markierungspraxis oder den Belegen. Pierre Rézeau (49-62) präsentiert methodische Aspekte des seinerzeit im Entstehen begriffenen, 2001 publizierten Dictionnaire des régionalismes du français (DRF), gefolgt von 10 Probeartikeln. Der theoretische Teil kann natürlich nicht mehr sagen als das Vorwort des DRF und die damalige Version der Artikel mag Anlass geben, die Detailverbesserungen der Endfassung zu vergleichen. France Lagueunière (63-78) wirft die Frage auf, inwieweit das FEW als Modell für einen Thesaurus der fr. Regiolekte dienen kann. Nach Anmerkungen zu den Regionalismen im FEW und dem Forschungsstand, hebt die Autorin auf generelle lexikographietheoretische Fragen ab: Geographische Angaben, Datierungen, kritische Wertung der Quellen. Dass im Übrigen die 331 Besprechungen - Comptes rendus 1 Wie man p. 11 N19 entnehmen kann, ist ein Beitrag von Knecht, auf den Chambon hier vergebens verweist, nicht eingegangen und folglich nicht publiziert worden.