eJournals Vox Romanica 69/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2010
691 Kristol De Stefani

Ursula Reutner (ed.), 400 Jahre Quebec. Kulturkontakte zwischen Konfrontation und Kooperation, Heidelberg (Winter) 2009, 260 p. (Studia Romanica 153)

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2010
Georges  Lüdi
vox6910336
du sens et son illustration à travers une ou plusieurs citations, très souvent extraites d’Internet; le renvoi aux géosynonymes, dont le relevé cependant n’est pas encore exhaustif. Dans son ensemble, le volume se révèle d’une part une synthèse très efficace sur la question du figement et sur la variation du français, et de l’autre une intéressante proposition méthodologique pour l’étude des locutions. Cristina Brancaglion ★ Ursula Reutner (ed.), 400 Jahre Quebec. Kulturkontakte zwischen Konfrontation und Kooperation, Heidelberg (Winter) 2009, 260 p. (Studia Romanica 153) Am 3. Juli 2008 jährte sich zum 400. Mal die Erstbesiedlung von Quebec durch Samuel de Champlain. Grund genug für einen von der Passauer Romanistin Ursula Reutner in der Tradition der deutschen Kanadastudien mehrheitlich aus Vorträgen zusammengestellten Sammelband, in welchem Sprachwissenschaftler, Historiker, Literatur- und Kulturwissenschaftler, Politologen und Soziologen über Sprach- und Kulturkontakte im flächenmäßig zweitgrößten Staat der Erde, aber auch über Modelle zu ihrer wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Erfassung reflektieren. Für den Sprachwissenschaftler sind zunächst die beiden Beiträge von Lothar Wolf («Quebec und Paris. Sprachliche Varietäten im ideologischen Konflikt», 21-43) und Elmar Schafroth («Die französische Standardsprache in Quebec», 45-72) von Interesse. Wolf verbindet Überlegungen zur Entstehung der kanadischen Varietät des Französischen mit solchen zur Genese der frankokanadischen Frankreichideologie, zunächst am Beispiel von drei markanten Ereignisse, dem Pariser Frieden von 1763, bei welchem Frankreich seine kanadischen Kolonien an England abtrat, der Ereignisse um die Französische Revolution in den Jahren 1789-94 sowie der antikirchlichen Politik der III. Republik Ende des 19. Jahrhunderts, um schließlich den Bogen über die Révolution tranquille bis zum - für die Quebecer viel zu oberflächlichen - Kurzbesuch von Sarkozy im Jahre 2008 zu schlagen. Im Zentrum steht der Quebecer Sprachdiskurs im Spannungsfeld zwischen einerseits der insécurité linguistique angesichts der Pariser Varietät als Orientierungsnorm und andererseits wachsendem Stolz gegenüber einer die lokale Identität markierenden eigenen Varietät, im Bestreben, «sich als spürbares Gegengewicht gegen die zentralistische Konzeption in die Internationalität des Französischen einzubringen» (38), eine endogene Norm zu entwickeln, wogegen die exogene Pariser Norm als «Fremdmodell» empfunden wird (34s.). Diesen Faden der Kontroverse um eine eigene «Standardvarietät» nimmt der Beitrag von Schafroth auf, mit einem Fokus auf dem Dictionnaire FRANQUS («Le dictionnaire usuel du français standard en usage au Québec»). Kann es, soll es einen von Frankreich unabhängigen Standard, ein français standard d’ici (58) geben, ja gibt es diesen Standard allenfalls bereits (cf. p. 49 zur Skepsis des Verf.)? Oder könnte es sein, dass «bevor die Quebecer Standardsprache . . . überhaupt beschrieben und kodifiziert ist», das programmatische Operieren mit diesem Begriff die entsprechende Wirklichkeit schafft (51)? Der Verf. wendet in der Folge die von Ulrich Ammon postulierten fünf Kriterien für eine Standardvarietät (staatliche Institution mit normsetzendem Mandat, autoritative Nachschlagewerke, modellhaft angesehene Sprecher, Normkontrollinstanzen und Sprachexperten) auf das français québécois an und stellt empfindliche Defizite fest, namentlich was die Existenz von Nachschlagewerken, Normvorbildern und Sprachnormautoritäten anbelangt. Der Schluss des Verf. scheint zu sein, dass, nach dem Pöllschen Modell (2005), (noch) kein eigentlicher Plurizentrismus vorliegt (58) (interessanterweise erscheint das Standardwerk dazu, Clyne 1982, nicht in der Bibliographie), sondern das «Modell der sektoriellen Normen (Regionalisierung der zentralistischen Norm)» (56). 336 Besprechungen - Comptes rendus Das Projekt eines français standard d’ici kranke aber auch und vor allem daran, dass diese «Leitvarietät» «auffällig a-sozial» werde: «Wer sonst als Sprecher eines gewissen soziokulturellen Niveaus und Teile der Medien könnten diese Aufgabe erfüllen», d. h. sie in der Kommunikation anwenden (59)? Es ist dies der Jahrhunderte alte Konflikt zwischen den Anhängern des «usage» der breiten Bevölkerung (Pierre de la Ramée, Malherbe) und des «bon usage» einer kleinen Elite (von Vaugelas über Dauzat bis Grevisse und Wolf), der schließlich allerdings laut Schafroth von den Promotoren des FRANQUS teils implizit, teils explizit zugunsten eines «bon usage» entschieden wurde, wie ein Zitat von Martel belegt: «c’est la nouvelle élite qui a nommé, élaboré et pratiqué le Bon usage du Québec» (62). Einige Detailanalysen des Verf. deuten an, dass die empirische Basis dieses normativen Wörterbuchs wohl noch ungenügend ist («. . ., dass dem Etikett bon usage d’ici womöglich doch keine ausreichende sprachliche Substanz zugrunde liegt», 69); er wertet es denn auch mehr als «symbolischen Akt, der endlich die Eigenständigkeit Quebecs in sprachlichen Belangen zum Ausdruck bringen soll» (ibid.), als Schritt in Richtung Plurizentrismus, der «früher oder später» kommen werde (ibid.). Während sich Schafroth auf die Korpusplanung konzentriert, bezieht Wolf den größeren (sprach-)historischen Kontext mit ein, der im Sinne der Statusplanung zur Rehabilitierung des Französischen in Kanada geführt hat (beide Begriffe nach Einar Haugen). Dass ein Antagonismus Englisch vs. Französisch dabei allerdings zu kurz greift - und dass es keineswegs nur um «Sprache» geht -, legen die beiden Beiträge zum kanadischen Multikulturalisms von Rainer-Olaf Schulze («Mosaik und Multikulturalismus: kulturelle Integration ‹made in Canada›», 75-89) und Elke Winter («Quebecs Rolle in der kanadischen Multikulturalismus-Diskussion: Vorgänger, Gegenspieler oder Gegenbild», 91-108) nahe. Mit sehr nützlichen demographischen Daten unterfüttert, weist Schulze auf die kulturelle Vielfalt des Einwanderungslands Kanada hin. Vor diesem Hintergrund zielt die Multikulturalismuspolitik der Bundesregierung «auf die Bewahrung der ethnokulturellen Identität der ethnischen Gruppen - also auf die Bewahrung von Sprache, Konfession, Traditionen, Vereinen etc.», lehne aber weitergehende Ansprüche auf politische Autonomie und/ oder auf nationale Selbstbestimmung ab (83). Im Gegensatz dazu verstünden sich die Quebecer als société distincte, gingen von je gemeinsamen Wertehorizonten und shared understandings der beiden Gründernationen aus - zu denen man laut Verf. die Ureinwohner, die first nations hinzuzählen müsste -, und postulierten auf der Basis dieser deep diversity kollektive Grundrechte, wobei der französischen Sprache eine besondere identitätsstiftende Rolle zukomme (83s.). Folgerichtig weist Schulze auf die Spannung zwischen den Begriffen «Multikulturalismus» und «Binationalität» hin. Winter erweitert diese Diskussion noch und beschreibt drei unterschiedliche «Multikulturalismusinterpretationen», in welchen den Frankokanadiern bzw. Quebecern «unterschiedliche Rollen zugeschrieben» würden (104): - (1) «Multikulturalismus als Fortsetzung einer pluralistischen Tradition . . ., [wonach] die den Frankokanadiern zugestandenen Rechte wie ein Vorgängermodell [erschienen]»; - (2) «Implementierung der Multikulturalismuspolitik . . . als eine auf die Marginalisierung des Quebecer Nationalismus abzielende politische Strategie»; - (3) Quebec nicht als Gegenspieler, sondern «als ein von Anglokanadiern konstruiertes Gegenbild . . . [um] einerseits . . . weitere Zugeständnisse an Quebec als ungerechtfertigt erscheinen zu lassen, andererseits den dominanten mehr oder weniger ‹multikulturellen› pankanadischen Nationalismus moralisch aufzuwerten» (ibid.). Sie selber neigt offensichtlich zu dieser dritten Interpretation. Hans-Jürgen Lüsebrink («Je me souviens postmodern. Zur literarischen Verarbeitung von Geschichte in der Quebecer Literatur», 111-23) beobachtet aus der Perspektive des Literatur- und Kulturwissenschaftlers einen Wandel im Geschichtsbild Quebecs vom «Grand récit von heroischer Eroberung, von Unterdrückung, Widerstand und Befreiung» (121), der 337 Besprechungen - Comptes rendus Historiographie und Literatur seit der Mitte des 19. Jh. dominierte, in welchem einerseits die historische Erinnerung, andererseits die Distanznahme zu englischen, anglokanadischen, aber auch französischen Darstellungen im Vordergrund standen, in Richtung «postmoderner Konfigurationen», welche nicht nur den «nationalen Fokus auf Geschichte» hinterfragten, sondern darüber hinaus den Wahrheitsbegriff in Frage stellten - und damit «die Grenzen zwischen Fiktion und Geschichtsschreibung als fließend» betrachteten (116). Dies wird namentlich am Beispiel der Filmemacher Jacques Godbout und Robert Lepage illustriert, wobei letzterer «ein völlig neues Geschichts- und Identitätsbewusstsein» entwerfe, in welchem «auch die außereuropäische Immigration erstmals einen angemessenen Platz» einnehme (119). Ein damit kompatibles Bild der modernen littérature québécoise entwirft Hanspeter Plocher («Entwicklungslinien der littérature québécoise», 125-37), wenn er, mit Verweis auf Régine Robin, von der aktuellen ebenso wie von der zukünftigen Literatur Quebecs erwartet, dass sie sich «im Zeichen von Weltoffenheit, Vielstimmigkeit, Multikulturalität, Innovationslust, Grenzüberschreitung und Phantasie» definiere, wofür «das alte Konzept der Nationalliteratur . . . längst keine tragfähige Basis mehr [biete]» (135s.). Peter Klaus («Kanada versus Quebec: zwischen américanité, canadianité, francité und der Postmoderne» (139-53) geht in die gleiche Richtung; auch er greift auf den Begriff der Postmoderne zurück im Zusammenhang mit der «Neudefinition der eigenen Identität» Quebecs (149), wenn er von der «Entdeckung der américanité jeglicher Quebecer Identität» (146) spricht, aber auch von der Begegnung mit dem Anderen, welche Begriffen wie métissage, hybridité u. ä. «zu neuer Wertigkeit verhelfe» (149). Die sogenannten Néo-Québécois in der Literatur bedeuteten aber auch gleichzeitig die «Unterwanderung des Nationalen durch eine neue Pluralität», eine «neue Polyphonie der Einwandererliteraturen», und die «Ablehnung des ghettoisierenden Konzepts des Multikulturalismus» (ibid.). Gerade weil Klaus als einziger bisher der «in den letzten drei Jahrzehnten aufgeblühten, aber doch sehr fragilen Literaturlandschaft in der Akadie und im frankophonen Ontario» gedenkt (141), ist es umso störender, wenn auch bei ihm wie in den bisherigen Beiträgen pauschal den Anglokanadiern nur bloß die Quebecer gegenübergestellt werden. Die letzten vier Beiträge des Bandes gelten unterschiedlichen Facetten der Zweisprachigkeit, wobei vielleicht etwas zu oft unvermittelt zwischen territorialer, sozialer, institutioneller und individueller Zweisprachigkeit hin und her gewechselt wird. Auf dem Hintergrund von Stereotypen wie dem vom Lyriker Gaston Miron geäußerten Satz: «Dans un pays bilingue il y a toujours une langue de trop», der in krudester Weise monolinguale Sprachideologien des 18./ 19. Jh. reproduziert (144), verwendet die Herausgeberin Ursula Reutner zwei konkurrierende Metaphern, jene des «Duells» und jene des «Duetts» («Englisch und Französisch in Quebec: Duell oder Duett? » (157-84). Ihre Momentaufnahmen auf der Basis von Gesprächen mit Meinungsführern beiderseits kommen zum Schluss, «der alte ethnisch-kulturelle Antagonismus zwischen Englisch und Französisch [habe innerhalb Quebecs] . . . deutlich an Schärfe verloren» (171), werde aber durch das Gefühl einer «‹Bedrohung› der Frankoquebecer . . . durch Anglophone außerhalb Quebecs» abgelöst (ibid.), besonders durch das «Angloamerikanische» (181). Auch Wolfgang Helbich («400 Jahre Quebec - 200 Jahre Sprachkonflikt», 185-98), der den Sprachkonflikt, diesmal mit militärischen Metaphern, historisch nachzeichnet, meint in ähnlicher Weise: «Die heiße Phase dieses Sprachenkriegs ist seit der Jahrtausendwende vorüber, und während ein Friedensschluss noch aussteht und sicher noch lange auf sich warten lässt, ist es doch zu einer Art Waffenstillstand gekommen» (197). Interessant ist der folgende Beitrag von Sabine Schwarze («Sprachgrenzen und geographische Grenzen. Bilingualismus im Grenzgebiet zwischen Ontario und Quebec», 199-214) nicht zuletzt deshalb, weil anhand ihres Zahlenmaterials deutlich wird, dass die Grenzen zwischen den Provinzen Quebec und Ontario zwar unterschiedliche Vorstellungen von Sprachenpolitik voneinander abgrenzen, und dass das Ver- 338 Besprechungen - Comptes rendus hältnis zwischen Anglophonen und Frankophonen in den beiden Provinzen umgekehrt proportional ist (69,1 % Anglophone zu 4,2 % Frankophonen in Ontario, 79,6 % Frankophone zu 8,2 % Anglophonen in Quebec), aber die Provinz Quebec keineswegs für alle Frankokanadier steht. In Ottawa leben immerhin 17,2 % Frankophone, in Gatineau gar 79,2 %; darüber hinaus fehlt z. B. auch das offiziell zweisprachige New Brunswick in dieser Zusammenstellung, mit der einzigen französischsprachigen Universität in Kanada außerhalb Quebecs in Moncton. Diese Zahlen machen aber auch klar, dass die Provinz Quebec offensichtlich keineswegs homogen frankophon ist; es leben dort auch zahlreiche Allophone (2006 waren es 12,3 %); in der Metropolitanregion Montreal sind es gemäß dem Beitrag von Laur 33 %, nebst 18 % Englisch und ungefähr 50 % Französisch (215). Die im Bande immer wieder anzutreffende Gegenüberstellung «Quebecer» vs. «Anglokanadier» erinnert in diesem Sinne an die irreführenden Sprachkarten Europas, welche zum Beispiel Frankreich vollständig in der Farbe der Staatsprache Französisch einfärben und alle anderen langues de France, vom Elsässischen über das Baskische zum maghrebinischen Arabischen ignorieren. Wichtig ist der Beitrag von Schwarze aber auch deshalb, weil er nicht nur nach der «Muttersprache», sondern auch nach der Zweisprachigkeit und damit nach dem Sprachgebrauch fragt, welcher sehr viel differenzierter und pragmatischer ist, als sich dies viele Sprachpolitiker vorstellen, und - gerade auch in Montreal und in der Arbeitswelt - die offizielle Einsprachigkeitsideologie Lügen straft (211), was allerdings durchaus nicht erstaunlich ist, wenn man die Verhältnisse in anderen Gebieten der Welt (inklusive Deutschland und Frankreich) genauer anschaut. Dazu passen schließlich die Ergebnisse der Studie von Elke Laur («Sprachwahrnehmung in Montreal: Ergebnisse der matched-guise-Methode 1960 und 2004», 215-34), welche, allerdings mit einem wesentlich verbesserten methodischen und statistischen Apparat, die Pionierstudie von Lambert et al. (1960) wiederholt und die Ergebnisse vergleicht. Generell bestätigt sich auch 2004 die «insgesamt höher eingestufte englische Version beider Sprecher« (221). Aber es stellt sich auch heraus, dass die Sprachperzeption geschlechtsgebunden ist: «die männliche und die englisch sprechenden Stimmen [werden] mit mehr Status und Kompetenz assoziiert» (230). Zusammenfassend meint Laur: «In unserer Studie wird Englisch höher eingestuft, wenn ein Mann spricht, und eine Frau, wenn sie Französisch spricht» (231). Sie fordert weitere Studien, um diese Wahrnehmungsumkehr genauer zu erfassen, wie auch zur generelleren Hypothese, dass «diese Wahrnehmungsunterschiede . . . eine sozioökonomische und soziosymbolische Realität widerspiegeln» (230). Sammelbände, welche nicht von Beginn weg als solche geplant sind, sondern aus einem Mosaik von in anderen Zusammenhängen produzierten Vorträgen bestehen, bergen ein großes Heterogenitätsrisiko. Im vorliegenden Fall hat die Herausgeberin dieses Risiko mit einer klugen und vielseitigen Auswahl von Beiträgen problemlos umschifft; die vielen Stimmen, auch was die fachliche und methodologische Ausrichtung anbelangt, die von der Analyse historischer Dokumente und literarischer Texte bis zur experimentell-quantitativen matched-guise-Technik reicht, zeichnen ein faszinierendes, differenziertes Bild einer lebendigen Sprachwirklichkeit mit zahlreichen, durchaus auch widersprüchlichen Facetten, aber ohne je in billige Polemik zu verfallen, die geradezu Modellcharakter haben könnte. Georges Lüdi ★ 339 Besprechungen - Comptes rendus