Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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2010
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Kristol De StefaniLuciano Rossi (ed.): Cercamon, OEuvre poétique. Édition critique bilingue avec introduction, notes et glossaire par L.R., Paris (Champion) 2009, 367 p. (CFMA 161)
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Peter Wunderli
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-ailler (bousculailler, chicailler, dormailler, gigailler, lavailler, lutailler, mâchailler, marquailler, querelailler, etc), sur lesquels une vedette de renvoi -ailler aurait permis d’attirer l’attention; concernant la sémantique, la richesse synonymique: s. lâcher II.2, un renvoi à débaucher eût été bienvenu, et vice versa (encore que cette lacune soit en partie comblée par l’index anglais-français, qui à cet égard se révèle très utile, comme le montre l’exemple de look, cité plus haut). Le format de l’ouvrage et sa présentation typographique permettent une lecture agréable et confortable (même si parfois le logiciel utilisé maltraite les coupes des mots français en fin de ligne: léth-argie s. léthargie; suiv-ait s. leur, gal-erie s. licher, bia-isait s. ligne, etc.). Au total, ce dictionnaire est une mine de données qui ne demandent qu’à être exploitées et qui réjouiront les chercheurs comme les simples curieux. La ténacité et la diplomatie dont a fait preuve A. Valdman pour mener à bien ce travail, la qualité de la rédaction dont K. J. Rottet a été la cheville ouvrière, la coopération active, à divers titres, de toute l’équipe, ont abouti à un résultat magnifique. Au-delà d’une réalisation scientifique originale qui honore tous ses collaborateurs et marque d’une pierre blanche la lexicographie du français, le Dictionary Louisiana French témoigne aussi du profond humanisme de son initiateur qui, à travers les différentes langues qu’il a étudiées, a toujours eu le plus grand respect de ceux qui les parlent. Pierre Rézeau ★ Luciano Rossi (ed.): Cercamon, Œuvre poétique. Édition critique bilingue avec introduction, notes et glossaire par L.R., Paris (Champion) 2009, 367 p. (CFMA 161) Es ist ein erfreuliches Ereignis, das Erscheinen einer neuen Ausgabe der überlieferten Gedichte des Troubadours Cercamon anzeigen zu dürfen. Sie wird wohl definitiv die älteren Ausgaben von Dejeanne (1905), Jeanroy (1922), Tortoreto (1981) und Wolf 1983) 1 ersetzen: Nicht nur erarbeitet sie erstmals seit Dejeanne eine eigenständige, neue Textbasis, sie analysiert auch Leben, soziale Befindlichkeit und Werk des der ersten Troubadourgeneration zuzurechnenden Dichters sowohl in der Breite als auch in der Tiefe in vollkommen neuen Dimensionen. Schon rein quantitativ sind 367 Seiten für 9 Gedichte (6 Kanzonen, 1 Tenzone, 1 Planh-Sirventes und 1 Canso-Sirventes) beeindruckend, und die Qualität steht der Quantität nicht nach. Die Ausgabe beginnt mit einer umfangreichen Introduction (7-103), in der Rossi zuerst einmal die Angaben der vida unter die Lupe nimmt, nach der Cercamon ein einfacher joglar aus der Gascogne wäre, der vers und pastoretas a la usanza antiga verfasst hätte (die letzteren sind nicht überliefert und wären wohl weniger Cercamon als eher Marcabru zuzuweisen). Cercamon wäre ein «Weltenbummler» gewesen; Marcabru wäre sein Schüler. Rossi äußert nun berechtigte Zweifel an der Richtigkeit dieser Angaben. Wie er im folgenden zeigen wird, ist Cercamon nicht ein einfacher joglar oder menestrel, er ist vielmehr ein höfischer Sänger von Rang und ein edler Vasall des Grafen von Poitou. Was den Namen angeht, so deutet die vida Cercamon als cercar lo mon ‘qui parcourt le monde’ - eine recht vordergründige und platte Interpretation. Schon etwas besser wäre die Lesart ‘courir les montagnes’, v. a. wegen des Doppelsinns hinsichtlich des mons Veneris. Die Rossi am besten zusagende Interpretation des Pseudonyms aber segmentiert in cerc amont und interpretiert dies als ‘viser (bzw. je vise) le haut’, was sehr gut zu Cercamons Liebesdoktrin und Dichtungskonzeption passen würde. 341 Besprechungen - Comptes rendus 1 Für die bibliographischen Angaben cf. Rossi 2009: 107. Anschließend untersucht Rossi dann die intertextuellen Relationen von Cercamon zu seinen (relativen) Zeitgenossen Wilhelm IX., Marcabru, Jaufre Rudel, Bernart Marti und Bernart de Ventadorn (19s.). In einer Reihe von subtilen Analysen zeigt er, dass Cercamons Liebes- und Dichtungskonzeptionen von adeligem Zuschnitt sind, während er in deutlicher Opposition (sowohl in theologischer als auch in ästhetischer Hinsicht) zu Marcabru steht. Am nächsten scheint Cercamon den (nur indirekt überlieferten) Auffassungen von Eble II de Ventadorn zu stehen, dem «Troubadour der verlorenen Lieder» 2 . Diese auffällige Nähe lässt Rossi vermuten, Cercamon könnte nur ein Tarnname (oder zweiter Name) für Eble sein: Der poète sans identité und der troubadour sans poésie 3 wären somit ein und dieselbe Person, die damit ihr vollständiges Profil gewinnt. Damit werden aber die Aussagen der vida definitiv unglaubwürdig: Cercamon ist kein joglar, sondern ein Adeliger, und er ist nicht aus der Gascogne, sondern aus dem Limousin. Anschließend analysiert Rossi dann das dichterische Werk von Cercamen (52s.), das sich bezüglich Sprache, Versifikation, Liebes- und Dichtungskonzeption als außerordentlich homogen erweist. Der Herausgeber diskutiert nacheinander jedes der neun Lieder und arbeitet die für die Charakterisierung des Dichters wesentlichen Züge heraus: 1. Car vey fenir a tot dia, die sog. Tenzone mit Guilhalmi, ist ein Austausch von Coblas zwischen zwei Dichtern, der meist als Wettstreit zwischen zwei joglars angesehen wurde, der aber weit eher an die burlesken disputationes der scholastischen Tradition des Mittelalters anknüpft und die Liebe der Dirne der Liebe der edlen Dame gegenüberstellt. Dieses aufgrund einer Anspielung auf Ludwig VII. und seine bevorstehende Vermählung mit der jungen Comtesse du Poitou exakt datierbare Gedicht ist v. a. deshalb von Bedeutung, weil der Dichter bereits 1137 seinen Schwanengesang ankündigt und das Dichten lassen will. 2. Lo plaing comenz iradamen, der Planh-Sirventes für Wilhelm X. von Aquitanien, muss nach dem Todestag des Grafen (9. 4. 1137) entstanden sein. In ihm greift Cercamen Schemata und Themen des lateinischen Planctus auf, wobei Rossi glaubt, v. a. einen deutlichen Einfluss von Ovid ausmachen zu können. Auf jeden Fall erweist sich Cercamon als gebildeter, in der klassischen Tradition verwurzelter Autor, was nicht verhindert, dass er die epische Klage durch eine moralische und soziale Kritik seiner Zeit ersetzt. Überdies zeigt er sich dabei außerordentlich gut informiert über den Adel des Südens und verfügt über Kenntnisse, die einem einfachen joglar nicht zugänglich wären: er ist eindeutig ein Insider. Abschließend schickt der Dichter den Planh auch noch an Eble II. und macht diesen zum Testamentsvollstrecker - ein raffiniertes Spiel mit der Heteronymie. 3. Per fin’Amor m’esbaudira ist eine Kanzone, in der Cercamon auf Distanz zu Wilhelm IX. geht und geradezu die Konfrontation mit Marcabru sucht. Er plädiert für die Unterwerfung unter Amor zu allen Jahreszeiten im Rahmen einer adeligen Liebeskonzeption, die auf Erhöhung und Überhöhung abzielt. Erneut spricht der Text dagegen, dass es sich bei dem Verfasser um einen einfachen menestrel handele. Interessanterweise ist dieser Text von J. Mouzat und U. Mölk (ebenso wie die Nr. 9) Eble II. zugewiesen worden 4 . 4. Quant la douss’aura s’amarzis ist ein weiteres Plädoyer für die fin’amor und bewegt sich inhaltlich in einem ähnlichen Rahmen wie die vorhergehende Kanzone. 5. Assatz es or’oimais q’eu chant ist eine Hymne an die profane Liebe, die als Quelle aller Werte gesehen wird. Die Emotionen bzw. die Sinnlichkeit gehen hier eine Verbindung 342 Besprechungen - Comptes rendus 2 Zeugnisse über Eble II. gibt es zwischen 1090 und ca. 1148; indirekte Zeugnisse über seine dichterischen Aktivitäten liefern v. a. Marcabru und Bernart de Ventadorn (cf. Rossi 2009: 43s.). 3 Cf. Rossi 2009: 42. 4 Cf. Rossi 2009: 70s. und N141. mit der Liebe zum Herrn ein, woraus eine neue Liebe resultiert, die zur Liebe in der Ehe tendiert. Diese neue Liebe ist verschieden vom amour naturel bei Marcabru; die Befriedigung ist nicht rein körperlicher Natur, ja das Herz bleibt sogar dominant. Man kann so von einer Loslösung von der weltlichen Konditionierung sprechen, wenn auch die Sinnlichkeit weiterhin eine wichtige Rolle spielt. 6. Ab lo temps qe·s fai refreschar kann ebenfalls zum cantum novum gezählt werden, bleibt aber doch traditioneller als die vorhergehende Kanzone. Der Dichter sucht hier eine Synthese zwischen neuer Stil- und Liebeskonzeption und der elegischen lateinischen Tradition, die sich letztlich als sinnliche Begierde für ein engelhaftes Wesen präsentiert. 7. Ab lo pascor - m’es bel q’eu chant ist eine canso-sirventes, in der sich Cercamon mit Jaufre Rudel auseinandersetzt. Inhaltlich liegt eine Art umgekehrte canso de lonh vor: der Sänger befindet sich in der Fremde und möchte zu seiner Dame zurückkehren. Diese Konstellation führt in v. 38 zu einer Anspielung auf die Situation von Tristan, was Rossi zu einem extrem langen Exkurs verleitet, dessen Ertrag für die Interpration des Textes eher bescheiden ist. 8. Puois nostre temps comens’a brunezir ist ein sich auf den 2. Kreuzzug beziehendes Lied, das nach Rossi (94) vor dem 12. 6. 1147 (Aufbruch von Ludwig VII. ins Heilige Land) nach zehnjähriger Dichtungspause entstanden sein muss. Der Eingang stellt eine Art verkehrten Frühlingseingang dar: die Zeiten sind schlecht, die Fakten traurig. Trotzdem verspürt der Dichter den Drang zum Singen und zum Preisen der Liebe. Die Weltsicht ist wiederum eindeutig die eines Adeligen. 9. Ges per lo greg temps no m’irais nimmt das zentrale Thema aus Nr. 3 und 8 wieder auf: Der Dichter muss in den schlechten Jahreszeiten und unter unerfreulichen Bedingungen die Liebe besingen - das Lob der Liebe ist unabhängig von den Jahreszeiten und den äußeren Bedingungen. Diese Grundhaltung führt erneut zu ironischen Hieben gegen Jaufre Rudel und zu harscher Kritik an allen, die nur im Frühling singen wollen. Diese Analysen führen dann zurück zu den vidas von Cercamon und Marcabru: Alles in der vida von Cercamon ist zweifelhaft und würde eigentlich eher zu Marcabru passen; und nicht weniger zweifelhaft ist der Wahrheitsgehalt der vida von Marcabru. Beide erweisen sich somit als weitgehend nutzlos. Dieses ausgedehnte Kapitel führt Rossi zu folgenden Schlüssen (102s.): Cercamon ist ganz sicher kein einfacher joglar, sondern vielmehr ein Dichter, der in der Welt des Adels verwurzelt ist; nichts spricht für eine gascognische Herkunft, er ist vielmehr dem Poitou eng verbunden. Cercamon ist ein echter cantaire, dessen Werk sich (bei aller Variation) durch eine tiefe Kohärenz auszeichnet; er ist maßgeblich an der Schaffung des höfischen Kanons beteiligt und definiert die konstitutiven Topoi der fin’amor - und dies immer als erklärter Antipode von Marcabru. Schon 1137 betrachtet er sich als «alt» und nimmt erst nach einer zehnjährigen Pause 1147/ 48 seine dichterische Aktivität nochmals auf. Die Zusammenfassung schließt mit einem gerafften Überblick über die positiven und negativen Relationen mit seinen Zeitgenossen. Etwas überraschen muss, dass in diesem Zusammenhang nicht mehr die Rede ist von einer möglichen Identifikation von Cercamon mit Eble II 5 . Das nächste Hauptkapitel ist mit Établissement du texte überschrieben (105s.); dieser Titel ist allerdings irreführend, denn der Leser erfährt hier so gut wie nichts über Editionsprinzipien wie: Behandlung von i/ j, u/ v, Groß- und Kleinschreibung, Interpunktion, Auflösung von Abkürzungen (und deren Kennzeichnung bzw. Nichtkennzeichnung) usw. - es wird so getan, als sei dies alles problemlos und es herrsche hundertprozentiger Konsens 343 Besprechungen - Comptes rendus 5 Dieses Thema wird aber p. 243 wieder aufgenommen wo, von einem «Cercamon(/ Eble)» die Rede ist. über das Vorgehen. Vielmehr liefert das Kapitel vorerst einen Überblick über die relevanten Manuskripte, ihre Herkunft, Lokalisierung und Datierung. Darauf folgt ein Verzeichnis der bisherigen Ausgaben (Gesamtausgaben, Teilausgaben und diplomatische Ausgaben), an das sich sogenannte Notes textuelles anschließen: Sie enthalten Angaben über das Manuskript/ die Manuskripte, in denen ein Gedicht überliefert ist 6 , die Ausgaben des jeweiligen Textes, die nicht beibehaltenen Lesungen des Manuskripts/ der Manuskripte, sowie (bei Mehrfachüberliefung) die Varianten. Im Zusammenhang mit Quant la douz’aura s’amarzis betont Rossi, dass die Erstellung eines eigentlichen Stemmas nicht möglich bzw. nicht sinnvoll sei und es deshalb auch keine stemmatische Rekonstruktion im engeren Sinne geben könne. Gleichwohl drängt sich so etwas wie eine Familienbildung auf, die dann die Rekonstruktion eines (hypothetischen) Archetypen aufgrund von Lücken und Fehlern in der Versifikation ermöglichen soll. An die Besprechung der neun Gedichte schließen sich dann (als Anhänge) noch entsprechende Informationen zum lat. Planctus Dux Aquitanorum Willelmus morte suprema und zur Tenzone Tostems enseing e mostri al mieu dan zwischen Miraval und Villelmin an. Etwas überaschend werden auch die Observations sur la langue (126s.) und die Observations sur la versification (128) hierhergestellt. Während die Letzteren nur die Notes critiques zusammenfassen 7 , sind die Bemerkungen zur Sprache etwas ausführlicher. Rossi unterstreicht die Schwierigkeiten, die aus der Überlagerung der Sprache des Autors durch diejenige des Anthologieautors und/ oder der Kopisten entstehen; letztlich sind so nur wenige auktoriale Züge aufgrund von Reim und Versmaß mit einiger Sicherheit fassbar. Die Texte scheinen keinen einzigen gesicherten Gascognismus zu enthalten, und die von Tortoreto behaupteten gascognischen Züge sind von Max Pfister längst als unzutreffend erwiesen worden 8 . Die Sprache Cercamons erweist sich so als durchaus kompatibel mit den sprachlichen Gegebenheiten im Limousin und Périgord, was aber noch kein Beweis für eine entsprechende Herkunft Cercamons ist. Den Kern der Publikation machen die 9 Texte Cercamons aus, die jeweils auf der linken Seite abgedruckt sind und denen auf der rechten Seite eine Übersetzung beigegeben ist (130s.). Ergänzt wird diese Ausgabe durch die vidas von Cercamon und Marcabru sowie durch zwei Anhänge, die den lat. Planctus Dux Aquitanorum Wilhelmus morte suprema und die Tenzone zwischen Miraval und Villelmin Tostems enseing e mostr’al mieu dan enthalten; diese Beigaben erscheinen in der gleichen Form wie die Cercamon-Texte. Wir werden auf diesen Teil weiter unten zurückkommen. Es folgen dann die Notes critiques zu jedem dieser Texte (195s.), in denen jeweils zuerst die inhaltliche und die metrische Struktur analysiert werden und auf einschlägige Sekundärliteratur verwiesen wird; daran schließt ein ausführlicher Kommentar an, in dem sowohl inhaltliche als auch poetische und sprachliche Probleme diskutiert werden. Die Ausgabe schließt mit einer ausführlichen, gegliederten Bibliographie (253s.), deren letzter Teil (Références littéraires) sich als besonders wertvoll erweist, liefert er doch die Ausgaben zu sämtlichen angesprochenen intertextuellen Beziehungen. Es folgen noch ein Namenindex (307s.) sowie ein ausführliches Glossar (311s.), auf das wir gesondert eingehen werden. Fassen wir unseren Eindruck von Luciano Rossis Leistung kurz zusammen. Er legt uns hier eine Ausgabe vor, die alle früheren Ausgaben weit hinter sich lässt. Sie glänzt vor allem in der Einleitung und in den Kommentaren durch ein breite, solide abgestützte Kenntnis der Troubadourproblematik im allgemeinen und der Cercamonproblematik im beson- 344 Besprechungen - Comptes rendus 6 5 der Gedichte von Cercamon sind nur in einem einzigen Manuskript auf uns gekommen, 4 sind mehrfach überliefert. 7 Cf. unten. 8 Cf. Pfister, ZRPh. 99 (1983): 223-26. deren. Die Textgestaltung macht einen ausgezeichneten Eindruck, wenn auch hier die ersten Vorbehalte anzubringen sind, die allerdings nicht spezifisch das Vorgehen von Rossi betreffen, sondern praktisch für alle Troubadourausgaben gelten. Die Probleme der Worttrennung und der Interpunktion werden überhaupt nicht angesprochen. Weit gravierender ist, dass Abkürzungen in der Vorlage einfach stillschweigend aufgelöst werden und diese auch in keinster Weise eine Kennzeichnung erfahren - und dies wäre v. a. bei singulär überlieferten Texten (immerhin 5 von 9) von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ebenso fehlen Informationen darüber, wie bei Abkürzungen vorgegangen wird, die mehrere Auflösungen zulassen (die dann im Text auch noch durch Vollschreibungen dokumentiert sind). Problematisch auch der Anspruch, einen Archetypus rekonstruieren zu wollen. Bei den singulär überlieferten Texten ist dieser Terminus wohl im vornherein unangemessen: es können allerhöchstens evidente Versifikationsfehler korrigiert werden. Bei Mehrfachüberlieferung dagegen besteht die Gefahr, dass ein Text generiert wird, den es so vermutlich nie gegeben hat; dies gilt insbesondere dann, wenn man auch noch den Graphien Rechnung trägt. Die einzige vertretbare Lösung scheint mir die folgende zu sein: Man gründet die Ausgabe auf ein einziges Manuskript, behält seine Graphien bei und kennzeichnet die aufgelösten Abkürzungen; Korrekturen werden nur bei Verstößen gegen das Versmaß und das Reimschema vorgenommen. Abweichungen zwischen den Manuskripten bei Mehrfachüberlieferung finden einzig Eingang in den kritischen Apparat, wo auch der Ort für die Diskussion um lectiones difficiliores ist. Was die Übersetzung ins Neufranzösische angeht, so ist sie im allgemeinen flüssig und elegant - störend sind höchstens die zahlreichen zwischen Gedankenstriche gesetzten Einschübe (Links- und Rechtsverschiebungen), die sich nur in einigen wenigen Fällen durch die Struktur der okzitanischen Vorlage rechtfertigen lassen. Zudem muss gesagt werden, dass die Übersetzung oft zugunsten der Eleganz die Präzision etwas vernachlässigt und dann unnötig frei wird. Hier einige Beispiele für derartige unnötige Eingriffe aus Text I (Car vey fenir a tot dia): - I/ 8 conort ‘ressource’: warum nicht ‘réconfort’? - I/ 15 guazalha ‘alliance’: warum nicht ‘compagnie’? - I/ 25 la lor merce ‘la bienveillance’: warum nicht ‘grâce, merci’? - I/ 30-31 vostra vanasa non crei ‘votre hâblerie je n’en crois pas un traître mot’ ist zu stark: warum nicht ‘votre vanterie, je ne la crois pas’? - I/ 37-38 n’ajatz coratge d’efan ‘n’ayez pas le coeur léger tel un enfant’: warum nicht ‘n’ayez pas un coeur d’enfant’? - I/ 43 per sufertar ‘grâce à leur capacité de supporter’: warum nicht ‘pour avoir enduré’? Und hier noch einige Beispiele aus II (Lo plaing comenz iradamen): - II/ 7 Remazut son li prez e·il lau ‘Épuisées les belles actions . . .’: warum nicht ‘prix/ rémunération’? - II/ 24 q’aqest segles nos escharnis ‘nous pervertit’: warum nicht ‘outrage, insulte’? - II/ 25 Aqest segle teing per enic ‘je le trouve haïssable’: warum nicht ‘injuste’? - II/ 33 fer vos deu esser et esqiu ‘quelle cruauté ce doit être pour vous’: esqiu ist nicht übersetzt; warum nicht ‘cruel et douloureux’? - II/ 36 . . . q’a Joi conqis ‘qui a mérité la Joie’: warum nicht ‘conquis, gagné’? etc. Es muss aber gesagt werden, dass uns keine eigentlichen Sinnentstellungen begegnet sind. Und noch ein letzter Punkt - auch dies wieder eher ein Schönheitsfehler als eine eigentliche Schwäche: Die Ausgabe ist etwas mühsam zu benutzen, v. a. wenn man die Informationen zu einem einzelnen Gedicht zusammentragen will. Letztlich muss man hierfür an vier verschiedenen Orten nachschlagen: unter Œuvre poétique de Cercamon (52-97), in den 345 Besprechungen - Comptes rendus Notes textuelles (110-25), in Textes et traductions (130-81) und in den Notes critiques (195- 245). Diese Aufsplitterung der Gesamtinformation führt auch verschiedentlich zu unnötigen Wiederholungen 9 . Bleibt noch das Glossar (311-63), für das Hans-Rudolf Nüesch verantwortlich zeichnet; in dieser Hinsicht ist die Titelei der Ausgabe irreführend, da Nüesch nicht erwähnt wird und Rossi auch Autor das Glossars zu sein scheint. Um es vorwegzunehmen: ein Glossar von außerordentlicher Qualität und exemplarischer Zuverlässigkeit. Es werden alle Substantive, Verben, Adverbien und Adjektive berücksichtigt, Partikeln und Funktionswörter dagegen finden keine Aufnahme. Flektierte Verbformen werden unter dem Infinitiv zusammengeführt, doch findet sich unter der Einzelform jeweils ein Querverweis in der Liste Lemmata; entsprechendes gilt auch für alle übrigen Formen, bei denen eine abweichend Form bzw. Graphie unter einem anderen Lemma erfasst wird. Dieses methodisch untadelige Verfahren hat allerdings den Nachteil, dass es zu einer erheblichen Aufblähung des Glossars führt, das so rund ein Sechstel der Gesamtpublikation ausmacht. Beträchtliche Einsparungen hätten erzielt werden können, wenn der Querverweis morphologisch oder graphisch stärker abweichenden Formen vorbehalten geblieben wäre, die in der alphabetischen Liste nicht ohne weiteres eruiert oder zugeordnet werden können; ein derartiges Vorgehen impliziert allerdings eine gewisse Subjektivität und Willkür der Entscheidungen. Trotz der herausragenden Qualitäten zeigt das Glossar auch gewisse Schwächen. An erster Stelle wäre hier zu erwähnen, dass die Einleitung (311) etwas zu knapp geraten und deshalb in verschiedenerlei Hinsicht ungenau ist. So liest man z. B. zur Form der Lemmata: «En général, les entrées des mots apparaissent sous la forme du texte. En cas de polygraphie, on renvoie à celle qui est lemmatisée par Emil Levy . . .» Das stimmt so nicht mit dem tatsächlichen Verfahren überein und von renvois kann überhaupt keine Rede sein. Bei abweichenden Graphien wird vielmehr die Form bei Levy als Lemma genommen und diese in eckige Klammern gesetzt, wenn sie als solche bei Cercamon nicht vorkommt. Eine ähnliche Diskrepanz zwischen Anspruch und Praxis findet sich auch bezüglich der Verwendung der eckigen Klammern. So heißt es in der Einleitung diesbezüglich: «Toutes les formes verbales sont lemmatisées et par un renvoi regroupées sous l’infinitif, qui figure entre crochets quand il n’est pas attesté dans les poèmes de Cercamon». In Wirklichkeit gilt dies nicht nur 346 Besprechungen - Comptes rendus 9 Hier noch einige kleinere Korrekturen (wobei keineswegs Vollständigkeit angestrebt ist): 204 denier dernier; 210 légérement légèrement; 218 manuscrit manuscrits; 218 amor/ , amor,/ ; 220 commetre commettre; 220 beck back; 221 enganno . . . erimus enganno . . . erimus; 225 construction formation; 232 CHAMBERS Chambers; 235 INCURRERE incurrere; 232 DOM DOM; 244 CROPP Cropp. Die Markierung einer Versgrenze im fortlaufenden Text wird über einen Schrägstrich angezeigt, doch ist dessen Position zu den Zwischenräumen reichlich willkürlich; es finden sich die Typen xxx/ xxx, xxx / xxx und xxx / xxx ohne jegliche Systematik. Die angemessene Lösung wäre einzig xxx / xxx. Zur Bibliographie: 255 COM: es fehlt der Hinweis, dass es sich bei der Publikation von 2001 um Teil 1 (Troubadours) des vierteiligen Gesamtprojekts handelt; GRMLA: Die Angaben sind unvollständig und z. T. irreführend (es kann sich nur um vol. 2 [Les genres lyriques] handeln, für das die Jahrzahlen 1980-1990 so aber nicht zutreffen); DOM: unvollständige Angaben (Rossi können nur die Fasz. 1-5 und das bibliographische Beiheft vorgelegen haben); 256 LRL: unvollständige Angaben (welche Bände? Der letzte Band ist nicht 2004, sondern 2005 erschienen). Bei den Überschriften zu den einzelnen Gedichten steht normalerweise das Kürzel BdT (Bibliographie des Troubadours), doch fehlt dieses bei den Gedichten 3 und 4. Bei den Gedichtüberschriften in den verschiedenen Teilen finden sich Ungereimtheiten wie 148 douz’aura, 217 douss’aura; 70 fin’amor, 142 (v. 1) fin’Amor. Solche Nachlässigkeiten sind ärgerlich, sie schmälern den Wert der Ausgabe aber nicht. für die Infinitive, sondern auch für alle andern lemmatisierten Wortformen, die als solche bei Cercamon nicht vorkommen. Cf. hierfür z. B. [bruch], [caitiu], [calha], [cambiairitz], [can], [caut], [cinhe], [coinde], [consiros], [conven], [dereire], [dich] etc. Ein Problem scheinen mir auch die gewählten Abkürzungen für die Funktionsdefinitionen darzustellen, die nur allzu oft vom gängigen Gebrauch abweichen: CRP = cas régime pluriel, CRS = cas régime singulier, CSP = cas sujet pluriel, CSS = cas sujet singulier, F = futur (sonst fut.), F-an = participe présent/ gérondif (sonst p.pr.), IP = indicatif présent (sonst. ind.prés.), SP = subjonctif présent (sonst subj.prés.), usw. Und wieso imp. für imparfait, das sonst impf. abgekürzt wird, während imp. für impératif steht? Und dann aber Simparf. für subjonctif imparfait (sonst subj.impf.)! Usw. Solche (unnötigen) Abweichungen von der Tradition bringen bestenfalls eine minimale Platzersparnis, sie erschweren dafür die Lektüre des Benutzers erheblich - um sich davon zu überzeugen genügt ein kurzer Blick auf den Eintrag aver. Und ähnlich gewöhnungsbedürftig ist auch die Auszeichnung innerhalb der einzelnen Artikel: die Beleg- und Verweisformen erscheinen recte, die Funktions- und Bedeutungsangaben dagegen kursiv. Eine Notwenigkeit für die Umkehrung der üblichen Zuordnung vermag ich nicht zu sehen. Und schließlich noch zur Beibehaltung von eckigen und spitzen Klammern des Textes im Glossar, z. B. do[l]s, faig<s> usw. Ich halte dies für überflüssig; es reicht, wenn diese Markierungen im Text selbst und im Apparat vorhanden sind. Im Glossar stellen sie nur eine zusätzliche Komplikation und Fehlerquelle dar wie z. B. im Falle von longa[s], wo die Klammer im Lemma steht, nicht aber in der Belegform a longas II,10 (obwohl im Text vorhanden); zudem findet sich unter diesem Lemma auch der Beleg a lonjas II,16, wo der Text selbst keine Klammer zeigt. An Kleinigkeiten sind mir noch aufgefallen: - Warum wird unter [badar] als Bedeutungsangabe das p.pr. verwendet und nicht wie sonst der Inf.? - ben et bel: warum steht diese Redewendung unter dem Lemma bel und nicht unter ben, wo übrigens die gleiche Stelle nochmals erwähnt wird ohne Hinweis auf die Wendung? Die sinnvolle Lösung wäre wohl, bel et ben (loc.adv.) als eigenes Lemma zu führen. - [esmerar] wird als v. t. geführt obwohl die einzige belegte Form esmerade ‘pur’ in adj. Funktion ist. - Unter faillida wird auf falhida verwiesen, doch fehlt bei diesem Lemma ein Beleg für faillida. Halten wir aber fest: Das hier vorgelegte Glossar ist von hervorragender Qualität und die kleinen Meckereien schmälern seinen Wert in keinster Weise. Der Hauptkritikpunkt ist letztlich der gleiche wie beim Teil Rossis: Die Darstellung ist nicht sonderlich benutzerfreundlich und erschwert die Arbeit manchmal unnötig. Gesamthaft darf man dieser Ausgabe aber ein hervorragendes Zeugnis ausstellen. Sie lässt die früheren Editionen weit hinter sich und setzt neue Maßstäbe. Peter Wunderli ★ 347 Besprechungen - Comptes rendus
