Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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2012
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Kristol De StefaniFerdinand de Saussure, Science du langage. De la double essence du langage, édition des Écrits de linguistique générale établie par René Amacker, Genève (Droz) 2011, 354 p. (Publications du Cercle Ferdinand de Saussure VII)
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Peter Wunderli
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Besprechungen - Comptes rendus Philologie et linguistique générales - Allgemeine Philologie und Sprachwissenschaft Ferdinand de Saussure, Science du langage. De la double essence du langage, édition des Écrits de linguistique générale établie par René Amacker, Genève (Droz) 2011, 354 p. (Publications du Cercle Ferdinand de Saussure VII) Gegenstand der vorliegenden Publikation sind die sogenannten Orangerie-Manuskripte Ferdinand de Saussures, die 1996 in der Orangerie des Stadthauses der Familie De Saussure entdeckt wurden. René Amacker schildert p. 9-11 auf eindrückliche Weise die Geschichte der Wiederentdeckung dieser wertvollen Texte, sowie die Rolle Rudolf Englers bei ihrer Sichtung und Inventarisierung. Allerdings stellt sich hier gleich die Frage: Wozu diese Neuausgabe? Denn das gleiche Material ist im Wesentlichen von Bouquet/ Engler erstmals 2002 publiziert worden 1 . Und es gibt weiter ein deutsche Übersetzung mit substantieller Einleitung von Ludwig Jäger 2 , eine entsprechende italienische Ausgabe von Tullio de Mauro 3 sowie ein englisches Pendant von Carol Sanders 4 . Die Begründung hierfür ist im wesentlichen von Jäger vorbereitet und von Amacker aufgenommen und erweitert worden: Engler wollte ursprünglich eine kritische Ausgabe der neu gefunden Texte vorlegen und hat hierfür auch eine Art Muster publiziert 5 . Die Gallimard-Ausgabe ist nun aber alles andere als kritisch (Amacker 2011: 10s.): sie ist glattgebügelt, für ein breiteres Publikum zurechtgemacht, soll einfach möglichst leicht lesbar sein - und alle Details, die den Spezialisten hinsichtlich der Manuskriptblätter zusätzlich interessieren könnten, werden unter den Tisch gekehrt. Wessen Schuld? Nimmt man die Formulierung von Amacker 2011: 10s. ernst, läge die Verantwortung beim Verlag. Oder vielleicht doch eher bei Bouquet, der die von Engler begonnene Edition angesichts von dessen Altersbeschwerden letztlich durchgezogen hat? Es kann nicht übersehen werden, dass Amacker es tunlichst vermeidet, den Namen von Bouquet auch nur zu erwähnen 6 : es ist vielmehr immer von der édition Gallimard die Rede! Wie bereits erwähnt, hatte schon Ludwig Jäger auf erhebliche Mängel der französischen Ausgabe hingewiesen. Zuerst ist einmal der Titel problematisch, der leicht zu Verwechslungen mit dem Cours de linguistique générale verleitet 7 . Dann handelt es sich bei den Orange- 1 Cf. F. de Saussure, Écrits de linguistique générale, établis et édités par S. Bouquet et R. Engler, avec la collaboration d’A. Weil, Paris (Gallimard) 2002. 2 F. de Saussure, Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlaß. Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von L. Jäger. Übersetzt und textkritisch bearbeitet von E. Birk und M. Buss, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2003. 3 F. de Saussure, Scritti inediti di linguistica generale. Introduzione, traduzione e commento di T. de Mauro, Roma/ Bari (Laterza) 2005. 4 F. de Saussure, Writings in General Linguistics. Edited by S. Bouquet, R. Engler, C. Sanders and M. Pires, Oxford (OUP) 2006. 5 R. Engler, «De l’essence double du langage», CFS 50 (1997): 201-05. 6 Er findet sich ein einziges Mal p. 10 N1 in der bibliographischen Angabe zu Bouquet/ Engler 2002. 7 Amacker folgt deshalb in seiner Titelwahl auch im wesentlichen Jäger. Science du langage wird überdies von Saussure selbst gestützt, der einen Manuskriptumschlag so beschriftet hat. rie-Manuskripten auch keineswegs um Manuskriptteile für ein Buch über Allgemeine Sprachwissenschaft, sondern um verstreute Notizen, die sich allerdings mit Problemen der Allgemeinen Sprachwissenschaft befassen. Und schließlich ist der Text gekennzeichnet durch zahlreiche Verlesungen, Transkriptionsfehler, Fehlinterpretation, usw. (Amacker 2011: 12s.). Amacker will mit seiner Ausgabe die Fehler der Erstausgabe korrigieren - und wie wir sehen werden, tut er dies auch in überzeugender Manier. Dabei beschränkt er sich auf die linguistisch relevanten Texte in der Dokumentenfülle der Orangerie; bereits von Engler in der Édition critique berücksichtigte 8 , anderweitig erhaltene Texte werden nicht (wie in der Gallimard-Ausgabe) wieder aufgenommen. Dafür berücksichtigt Amacker eine Reihe von Texten, die von Rudolf Engler entweder aussortiert oder erst später entdeckt bzw. als relevant erkannt wurden. Viel bedeutender als die (letztlich eher marginalen) Veränderungen in der Textauswahl ist aber die radikale Neuorganisation des Stoffes. Während die Gallimard- Ausgabe die (heutige, z. T. sicher von Engler zu verantwortende 9 ) Ordnung der Manuskriptblätter im Korpus Arch. de Saussure 372 der BGE im wesentlichen übernimmt, strebt Amacker eine konsequente inhaltliche Progression an und organisiert deshalb das ganze Material neu: inhaltlich Zusammengehöriges wird zusammengestellt, argumentativ aufeinander Aufbauendes wird nicht auseinandergerissen - eine Sisyphus-Aufgabe, die er mit Bravour löst. Dies rechtfertigt auch das Adjektiv raisonné im Untertitel des Bandes. Neben der Korrektur von Lese- und Verständnisfehlern ist v. a. die peinlichst genaue Berücksichtigung von Streichungen, Korrekturen, Hinzufügungen und deren Kennzeichnung als solche von größter Bedeutung, erlaubt dies doch in hohem Maße, die Genese der Texte nachzuvollziehen. Dagegen gibt Amacker keinen neuen Kommentar zu den Texten und verweist hierfür auf Jäger und De Mauro. Überdies wird auf die in der Gallimard-Ausgabe von den Herausgebern hinzugefügten Titel zu den einzelnen Texten verzichtet, da diese ihre Interpretation präjudiziert. In der «Introduction» (17s.) beschreibt Amacker zuerst einmal peinlichst genau die 12 Umschläge, auf die sich die 274 Manuskriptblätter verteilen (17s.), dann jedes einzelne Blatt (19-26). Inhaltlich sind sie zwei Hauptthemen gewidmet, der double essence und der sémiologie, doch ist eine genaue und definitive Zuweisung zu den beiden Blöcken nicht möglich. Amacker gliedert deshalb rein formal und ganz anders: Die Einheiten 1-254 umfassen die Manuskripte, die von Bouquet/ Engler als Écrits de linguistique générale publiziert wurden, die Einheiten 255-74 dagegen die später aus der Masse der übrigen Orangerie- Dokumente extrahierten Texte. Wichtig ist dabei zu beachten, dass Engler nicht die Folien, sondern die einzelnen Seiten nummeriert hat, wobei nur die beschrieben Seiten gezählt wurden. Dieses kodikologisch/ philologisch vollkommen unübliche Verfahren ist dazu angetan, laufend Verwirrung zu stiften. In einem dritten Teil der Einleitung werden dann die Editionsprinzipien vorgestellt; vorab findet sich aber (endlich! ) noch eine Auflösung der verwendeten Abkürzungen (16s.); dies ist umso dringender nötig, als der Band über keine Bibliographie verfügt. Was die Editionsprinzipien selbst angeht, so folgt Amacker (wie schon in seiner Ausgabe der Notizen zur litauischen Intonation 10 ) im Wesentlichen dem Verfahren, das Maria Pia Marchese bei der Publikation der Harvard-Manuskripte entwickelt hatte 11 . Ziel dieses Verfahrens ist es, 230 Besprechungen - Comptes rendus 8 F. de Saussure, Cours de linguistique générale. Édition critique par R. Engler, vol. 1, Wiesbaden 1968, und: F. de Saussure, Cours de linguistique générale. Édition critique par R. Engler, fasc. 4, Wiesbaden 1974. 9 Cf. Amacker 2011: 18. 10 R. Amacker (ed.): F. de Saussure, «Deux fragments méthodologiques à propos de l’intonation lituanienne», CFS 61 (2008): 159-73. 11 M. Pia Marchese (ed.): F. de Saussure, Phonétique. Il manoscritto di Harvard Houghton Library bMs Fr 266 (8), Padova 1995: xxiv-xxvi. einerseits einen möglichst lesbaren Fließtext zu liefern, und andererseits mithilfe von Symbolen und v. a. Fußnoten die weitestgehende Rekonstruktion des Manuskriptzustands zu ermöglichen. Liest man die diesbezüglichen Ausführungen (27-31) zum ersten Mal, kommt einen das unglaublich kompliziert und überfrachtet vor; hat man sich aber einmal auf die Text-Lektüre eingelassen, kommt man damit recht gut zu Rande und muss nur ganz selten auf die Präsentation der Prinzipien zurückgreifen. Auf die Editionsprinzipien folgen dann zwei Seiten «Considérations sur le texte» (31s.). Saussures Plan scheint es gewesen zu sein, auf einen «Avant-propos» einen analytischen und synthetischen Hauptteil folgen zu lassen und mit einem Index zu schließen. Wie Amacker feststellen muss (32), lässt sich dieser Plan bei der gegenwärtigen Dokumentenlage nicht realisieren. Er geht deshalb ganz anders vor. Den Anfang der Ausgabe machen die nicht in der kritischen Ausgabe enthaltenen Notes ITEM . Anschließend wird das ganze übrige Material in einer einzigen Sequenz präsentiert, wobei nicht zwischen notes préparatoires und réflexions de travail einerseits und analytischen bzw. synthetischen Ausarbeitungen oder Ausarbeitungsversuchen unterschieden wird. Unter Zuhilfenahme von einigen spärlichen Hinweisen von Saussure selbst entwickelt Amacker vielmehr ein progressives thematisches Raster, dem dann die einzelnen Fragmente zugeordnet werden. Und die Lektüre der Texte zeigt es: Dieses Wagnis ist geglückt! Die daran anschließende «table de concordance» (33-38) assoziiert in drei Spalten die Textnummer in der Ausgabe von Amacker, die Einordnung im Korpus Arch. de Saussure 372 der BGE sowie Seiten- und Zeilennummer der Gallimard-Ausgabe; Ordnungsprinzip ist dabei die Bibliotheksklassifikation. Daran schließt eine Liste der divergences zwischen der Gallimard-Ausgabe und derjenigen von Amacker an (38-52). Nach der Zählung von Amacker handelt es sich insgesamt um über 390 Abweichungen, von denen mindestens 190 als gravierend angesehen werden müssen. Es folgt dann die eigentliche Textausgabe. Unter dem Titel De la double essence du langage werden zuerst die Nouvelles notes ITEM präsentiert (55-61, Texte 1-16), gefolgt von der eigentlichen Double essence (63-237, Texte 17-139). Um dem Leser einen Eindruck von der Textgestaltung zu vermitteln, gebe ich hier den Text «être» bei Bouquet/ Engler 2002: 81 und Amacker 2011: 235 (inkl. Anmerkungen) wieder: être. Rien n’est, du moins rien n’est absolument (dans le domaine linguistique). Aucun terme, en le supposant parfaitement juste, n’est applicable hors d’une sphère déterminée. La forme élémentaire du jugement : « ceci est cela » ouvre la porte aussitôt à mille contestations, parce qu’il faut dire au nom de quoi on distingue et délimite « ceci » ou « cela », aucun objet n’étant naturellement délimité ou donné, aucun objet n’étant avec évidence. On sort du doute général en posant les quatre formes d’existence de la langue. 136. [4.168] (ELG p. 81) ÊTRE. — Rien n’est, 6 du moins rien n’est absolument 7 (dans le domaine linguistique). 8 Aucun terme, en le supposant parfaitement juste, n’est applicable hors 9 d’une sphère déterminée. — La forme élémentaire du jugement : « ceci est cela » 10 ouvre la porte 11 aussitôt à mille 12 contestations, parce qu’il faut dire au nom de quoi on distingue et délimite « ceci » ou « cela », aucun objet n’étant natu- 231 Besprechungen - Comptes rendus rellement délimité ou donné, aucun objet n’étant avec évidence. — On sort du doute général en posant les quatre formes d’existence de la langue (§§ ). 13 6 [c’est-à-dire] → \du moins/ \rien/ 7 La parenthèse ouvrante surcharge un point. 8 [Il suit de là qu’] + aucun → Aucun (par surcharge). 9 [de la ] → \d’une/ 10 [reste en linguistique | ] 11 [en linguistique] + [à + [toute espèce de] → de graves] ⇒ \aussitôt à/ \mille/ 12 [objections] → \contestati~s/ 13 J’ajoute le point. Unter dem Sammeltitel «Autres ébauches» folgen dann 13 Texte, die sich innerhalb der Double essence nicht einordnen lassen (241-73, Texte 140-52), und diese Sektion wird gefolgt von einer Sammlung von Vorlesungsnotizen (Préparations de cours universitaires, 77- 325, Texte 153-72) sowie einer Art «Mülleimer» Varia (329-35, Texte 173-76). Der Band schließt mit einem Namenindex (339) sowie einem «Index sélectif des matières» (340-51). Was René Amacker hier vorgelegt hat, ist eine philologisch hochwertige, gleichwohl aber lesbare Ausgabe der linguistisch relevanten Orangerie-Texte Ferdinand de Saussures.Allerdings ist die jeweilige Rekonstruktion des Manuskriptzustands nicht ganz einfach, aber durchaus machbar; sie ist schließlich auch nur für den Spezialisten gedacht. Inhaltlich bringen diese Texte kaum Neues gegenüber den schon früher bekannten Autographen und Vorlesungsmitschriften; aber sie unterstützen, stärken und nuancieren zahlreiche bekannte Aussagen. René Amacker hat sich mit dieser Ausgabe ein großes Kompliment verdient. Peter Wunderli ★ Federico Bravo, Anagrammes. Sur une hypothèse de Ferdinand de Saussure, Limoges (Lambert-Lucas) 2011, 276 p. Ferdinand de Saussures spät wiederentdeckte Versuche zum saturnischen Vers und den von ihm in den lateinischen, mittellateinischen und neulateinischen Texten vermuteten Anagrammen haben eine erste Blüte in den Studien der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts erlebt, die v. a. durch die Publikationen von Jean Starobinski ausgelöst wurde. Dann ist das Interesse an diesen Versuchen deutlich abgeflaut. Nach der Jahrtausendwende ist aber ein neuer Interessenschub festzustellen, wie die Bibliographie bei Bravo 2011: 261-74 zeigt. Die gleiche Bibliographie macht aber auch deutlich, dass sich inzwischen der Interessenschwerpunkt massiv verschoben hat: Waren es im 20. Jh. vor allem die Linguistik und die Literaturwissenschaft, die sich für diesen Aspekt von Saussures Versuchen interessiert haben, so sind es im 21. Jh. (neben diesen Disziplinen) dominant die Neurowissenschaften, die Physiologie, die kognitive Psychologie und die Psychoanalyse. Bravos Buch trägt dieser Entwicklung nicht nur Rechnung, es macht sie zum Thema. Wie der Autor in der Introduction (11-13) ausführt, ist für ihn Saussures Projekt transdisziplinärer Natur und verdient deshalb (obwohl das Phänomen des Anagramms/ Hypogramms/ Paragramms/ Kryptogramms usw. statistisch und probabilistisch nicht fassbar ist) eine vertiefte Analyse. 232 Besprechungen - Comptes rendus