Vox Romanica
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0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniFederico Bravo, Anagrammes. Sur une hypothèse de Ferdinand de Saussure, Limoges (Lambert-Lucas) 2011, 276 p.
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Peter Wunderli
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rellement délimité ou donné, aucun objet n’étant avec évidence. — On sort du doute général en posant les quatre formes d’existence de la langue (§§ ). 13 6 [c’est-à-dire] → \du moins/ \rien/ 7 La parenthèse ouvrante surcharge un point. 8 [Il suit de là qu’] + aucun → Aucun (par surcharge). 9 [de la ] → \d’une/ 10 [reste en linguistique | ] 11 [en linguistique] + [à + [toute espèce de] → de graves] ⇒ \aussitôt à/ \mille/ 12 [objections] → \contestati~s/ 13 J’ajoute le point. Unter dem Sammeltitel «Autres ébauches» folgen dann 13 Texte, die sich innerhalb der Double essence nicht einordnen lassen (241-73, Texte 140-52), und diese Sektion wird gefolgt von einer Sammlung von Vorlesungsnotizen (Préparations de cours universitaires, 77- 325, Texte 153-72) sowie einer Art «Mülleimer» Varia (329-35, Texte 173-76). Der Band schließt mit einem Namenindex (339) sowie einem «Index sélectif des matières» (340-51). Was René Amacker hier vorgelegt hat, ist eine philologisch hochwertige, gleichwohl aber lesbare Ausgabe der linguistisch relevanten Orangerie-Texte Ferdinand de Saussures.Allerdings ist die jeweilige Rekonstruktion des Manuskriptzustands nicht ganz einfach, aber durchaus machbar; sie ist schließlich auch nur für den Spezialisten gedacht. Inhaltlich bringen diese Texte kaum Neues gegenüber den schon früher bekannten Autographen und Vorlesungsmitschriften; aber sie unterstützen, stärken und nuancieren zahlreiche bekannte Aussagen. René Amacker hat sich mit dieser Ausgabe ein großes Kompliment verdient. Peter Wunderli ★ Federico Bravo, Anagrammes. Sur une hypothèse de Ferdinand de Saussure, Limoges (Lambert-Lucas) 2011, 276 p. Ferdinand de Saussures spät wiederentdeckte Versuche zum saturnischen Vers und den von ihm in den lateinischen, mittellateinischen und neulateinischen Texten vermuteten Anagrammen haben eine erste Blüte in den Studien der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts erlebt, die v. a. durch die Publikationen von Jean Starobinski ausgelöst wurde. Dann ist das Interesse an diesen Versuchen deutlich abgeflaut. Nach der Jahrtausendwende ist aber ein neuer Interessenschub festzustellen, wie die Bibliographie bei Bravo 2011: 261-74 zeigt. Die gleiche Bibliographie macht aber auch deutlich, dass sich inzwischen der Interessenschwerpunkt massiv verschoben hat: Waren es im 20. Jh. vor allem die Linguistik und die Literaturwissenschaft, die sich für diesen Aspekt von Saussures Versuchen interessiert haben, so sind es im 21. Jh. (neben diesen Disziplinen) dominant die Neurowissenschaften, die Physiologie, die kognitive Psychologie und die Psychoanalyse. Bravos Buch trägt dieser Entwicklung nicht nur Rechnung, es macht sie zum Thema. Wie der Autor in der Introduction (11-13) ausführt, ist für ihn Saussures Projekt transdisziplinärer Natur und verdient deshalb (obwohl das Phänomen des Anagramms/ Hypogramms/ Paragramms/ Kryptogramms usw. statistisch und probabilistisch nicht fassbar ist) eine vertiefte Analyse. 232 Besprechungen - Comptes rendus Neben der knappen Einleitung und einer ebenso konzisen Schlussbetrachtung (259s.) besteht die Arbeit aus 4 Teilen bzw. Hauptkapiteln. Das erste ist der Linguistik (15-80), das zweite den Neurowissenschaften (81-148), das dritte der Psychoanalyse (149-215) und das vierte der Semiologie bzw. Psychosemiotik (217-58) gewidmet. Die ausführlichen Diskussionen der neueren Arbeiten zur Anagrammproblematik eröffnen zahlreiche neue, zum Teil faszinierende Perspektiven, die allerdings auch oft verwirrenden Charakter haben. Gleichwohl sind die aufgezeigten Analogien, Affinitäten usw. dazu angetan, die Bemühungen Saussures vom Geruch der haltlosen, fast schon abartigen Verirrung zu befreien und ihren Ernsthaftigkeitsgrad nachhaltig zu steigern. Allerdings: Es handelt sich durchgängig um Hypothesen, die aber in der Regel nicht nur plausibel, sondern in hohem Maße attraktiv sind; wer aber schlüssige Beweise erwartet, wird enttäuscht werden, und es stellt sich überhaupt die Frage, ob es die je geben wird. Diese Feststellung darf nicht als Kritik an Bravo aufgefasst werden, sondern nur vor falschen Schlüssen warnen; die gleiche Haltung nimmt auch Bravo in seiner vorsichtig abwägenden Schlussbetrachtung ein. Das erste, der Linguistik (und Literaturwissenschaft) gewidmete Kapitel trägt den Titel Le dispositif: entre foi et loi und zeichnet Saussures Beschäftigung mit den Anagrammen vom Beginn im Jahre 1905 bis zum Abbruch im Jahre 1910 nach. Ausgangspunkt ist der geheimnisvolle saturnische Vers, dessen Geheimnis er endlich lüften möchte 1 . Saussures Hypothese ist, dass ein Leitwort (oder besser: ein Leitname) im Vers sein lautliches Echo findet, so z. B. FALERNI in FA cundi c AL ices haus ER e . . . AL t ERNI ; wir hätten es mit einer Art im Text verstreutem Reim oder mit einer «submorphematischen Etymologie» zu tun (31). Dabei stellt sich dann aber gleich die Frage, ob es sich um ein auktoriales Verfahren des Schreibens oder um eine Spekulation des Lesers handelt, ob der Effekt bewusst und gewollt oder unbewusst und ungewollt ist. Um dies in konsistenter und haltbarer Weise entscheiden zu können, benötigt man aber eine tragfähige Texttheorie bzw. eine entsprechende Theorie des Lesens (cf. unten). Um das Anagramm nicht als reines Zufallsprodukt erscheinen zu lassen, versucht es Saussure in ein enges und strenges Korsett von Regeln einzubinden. So würde es nicht einfach auf einem beliebigen Wort, sondern auf einem Eigennamen basieren; das Anagramm würde nicht auf einzelnen Buchstaben, sondern Buchstabengruppen (Diphonen, Triphonen usw.) aufbauen; es müsste einen locus princeps, das heißt einen privilegierten Ort im Text geben, wo es in gedrängter und ins Auge springender Form auftritt; es müsste ein sog. Mannequin existieren, d. h. ein Wort oder eine Wortgruppe, deren An- und Auslaut genau den entsprechenden Lauten des Themenwortes/ -namens entsprechen; erstrebenswert wäre überdies eine Paramorphie, d. h. ein Mannequin, das sämtliche für das Anagramm benötigte Bausteine einschließt. Auch in dieser streng regulierten Form fällt aber sofort auf, dass das Phänomen im Widerspruch zu den beiden Grundpfeilern von Saussures Zeichentheorie steht, nämlich dem Arbitraritäts- und dem Linearitätsprinzip (CLG 1931: 100-03; Bravo 2011: 29s.). Dieser Bruch in Saussures Denkgebäude lässt sich vorerst einmal mit dem Hinweis entschärfen, dass die beiden Prinzipien sich auf die «normale» Sprache beziehen, das Anagramm aber (zumindest anfänglich) ein Phänomen der poetischen Sprache sei. Aber im Laufe seiner Nachforschungen stößt Saussure immer häufiger auf anscheinend offensichtliche Anagramme, die seinen strengen Regeln nicht genügen. Dies führt dann zur Annahme von Ausnahmen und Lizenzen: ein Prinzip der «Anbindung», d. h. der letzte Buchstabe eines Wortes und der erste des folgenden Wortes können als Diphon gelten (43); ein Permutationsgesetz, d. h. die Reihenfolge der Elemente eines Diphons kann umgedreht 233 Besprechungen - Comptes rendus 1 Bravo 2011: 41 beschreibt ihn als eine Art vers libre, gesteht aber gleichzeitig ein, dass es bis heute nicht gelungen ist, eine treffende Definition zu finden (obwohl es hierfür über 700 verschiedene Versuche gibt). werden (43); ein Gesetz de Apophonie, nach dem zwischen die Konstituenten eines Diphons eingeschobene Buchstaben nicht berücksichtigt werden (45); ein Prinzip der Anaphonie, nach dem «ähnliche» Buchstaben/ Laute für einander eintreten können, z. B. Kurzvokal für Langvokal, l für r, stimmhafter für stimmlosen Konsonant usw. (46s.); ein Gesetz der Metanalyse (48); das Prinzip der Acrophonie, das es erlaubt, ein Diphon aufgrund des Anlautes zweier aufeinanderfolgender Wörter zu konstruieren (48), usw. Bravo versucht all diese Ausnahmeregelungen zu bündeln und führt sie auf zwei Grundprinzipien zurück (50): die mouvance textuelle, d. h. die Dislinearisierung des Textes, und die saillance textuelle, d. h. ein herausragendes Textelement, das die Anagrammfindung aufgrund seiner Auffälligkeit steuert. Aber es gibt nicht nur die Lizenzen, es gibt auch eine eigentliche «Rettungsstrategie» bei Saussure. Wenn die Kombinatorik auf der Textachse und die textuelle Relevanz gegeben sind, ist das Anagramm gesichert; ist eines der beiden Kriterien nicht erfüllt, wird sein Fehlen durch das Vorhandensein des andern kompensiert. Und Fehler in der Lautfolge können durch den Kontext korrigiert werden. Letztlich eine außerordentlich listige Argumentation: Wenn das Anagramm sich nicht ohne weiteres ergibt, muss es eben erzwungen werden (! ). Dabei helfen auch noch einige weitere Tricks. So wird z. B. zwischen guten und schlechten Bausteinen unterschieden, wobei die Bewertungen oft skalarer Natur sind. Es gibt schwache und starke Hypogramme; die ersten tendieren dazu, illusionär zu sein, de letzteren tendieren zur Banalität (56). Dazu kommt noch die Technik der argumentativen Proliferation (59): Wenn ein starkes Argument für ein bestimmtes Anagramm fehlt, führt Saussure an seiner Stelle eben eine Vielzahl von schwachen Argumenten an. Das macht alles einen nicht gerade überzeugenden Eindruck. Bravo hütet sich aber, daraus einen methodischen Vorwurf abzuleiten; es würde sich nicht um ein lexique de la ruse handeln, sondern wäre vielmehr Ausdruck der Unsicherheit und des vorsichtigen Sichvortastens (59s.). Ein weiteres gravierendes Problem für Saussure ist, dass sich die Tradition des Anagramms von Vergil, ja vielleicht seit der Zeit der indogermanischen Dichtung, bis zu Giovanni Pascoli mehr oder weniger unverändert erhalten hat, nirgends aber ein poetologisches Zeugnis über diese Technik zu finden ist (60s.). Kann man eine geheime, geradezu okkulte Tradition über Jahrtausende hinweg annehmen? Saussure entschließt sich, einen Zeitgenossen zu befragen, der das Anagramm ausgiebig zu pflegen scheint. Doch Giovanni Pascoli antwortet nicht auf Saussures konkrete Fragen. Dieser gibt deshalb 1910 seine Anagrammstudien enttäuscht auf. Saussure ist aber nicht der Einzige, der auf das Anagrammphänomen aufmerksam geworden ist. Bravo (67-75) weist darauf hin, dass es auch bei Tristan Tzara eine Anagrammtheorie gibt, die in Band 6 der Werkausgabe von Henri Béhar ausführlich dokumentiert ist 2 . Ausgehend von einer Entdeckung von Lucien Foulet, beginnt er im Werk von Villon nach Anagrammen zu suchen und findet dort auch eine Fülle von Beispielen, u.a. für Itiers Marchant und Catherine de Vaucelles; das Phänomen existiert sowohl im Testament als auch im Lais. Allerdings ist das Anagramm von Tzara anders aufgebaut als bei Saussure: Es ist symmetrischer Natur. Auch hat es nach seiner Ansicht keinen religiösen Ursprung, sondern dient der Verschleierung von Obszönitäten, Beleidigungen usw. Motiviert von dem berühmten Alcofribas Nasier dehnt er seine Untersuchungen auch auf Rabelais aus. Aber auch Tzara scheitert schließlich: Er findet keine Beweise. Nicht nur das Scheitern verbindet ihn aber mit Saussure; auch er schwankt zwischen einem auktorial-intentionalen Status des Anagramms, also einem Phänomen des Schreibens, und einem lektorial-interpretativen Status, also einem Phänomen des Lesens (79s.). Der zweite Teil von Bravos Buch (81-148) trägt den Titel Ferdinand de Saussure à l’épreuve des neurosciences. Hier tritt nun eindeutig der Lektüreaspekt in den Vordergrund. 234 Besprechungen - Comptes rendus 2 H. Béhar (ed.): Tristan Tzara, Œuvres complètes, vol. 6, Paris 1991: 531-62. Kultur ist nur vor dem Hintergrund der Biologie fassbar, Zerebrales nur vor dem Hintergrund des Umfeldes. Nach Bravo liegt die Lektüre nun genau an der Schnittstelle dieser Bereiche und erfordert gerade deshalb eine Wissenschaft des Lesens: Eine Anagrammtheorie setzt eine Theorie der Lektüre voraus. Diese hat er in der experimentell-kognitiven Psychologie und insbesondere in den Arbeiten von Stanislas Dehaene gefunden 3 , und er ist der Überzeugung, dass die Neurologie des Lesens eine empirische Rechtfertigung der Anagrammhypothese liefern kann. Ein erster Punkt betrifft die angebliche Linearität der Signifikanten, die im CLG bei Saussure neben der Arbitrarität das zweite Grundprinzip des sprachlichen Zeichens darstellt. Wenn er nun aber im Rahmen des Anagramms Metathesen innerhalb der Diphone und Buchstabenverschiebungen zulässt, verstößt er gerade gegen dieses Prinzip. Nun zeigt sich aber bei der Lektüreforschung, dass Lesen kein kontinuierlicher, sequentieller Prozess ist (84s.); die Lektüre erfolgt vielmehr selektiv, inferentiell und probabilistisch und ist durch ständige Rückgriffe auf den Vortext gekennzeichnet. Ein Text wird so also nicht linear, sondern tabular erfasst; die Anagrammtheorie findet so eine Stütze in der Archäologie der Lektüre, und Saussure erweist sich als ein cognitiviste avant la lettre. Ein zweiter Punkt betrifft Saussures Vorliebe für pflanzliche Metaphern und für Arboreszenzen (90s.). Nun ist die neuronale Darstellung des Wortes nach Dehaene gerade eine Arboreszenz, und diese Arboreszenz kann als Instrument für die Wiedererkennung des Wortes angesehen werden. Die neuronale Kodierung des Wortes ist somit nicht linear, sondern hierarchisch 4 . Der dritte Punkt betrifft die Frage, was denn eigentlich neuronal kodiert wird (94s.). Nach Dehaene sind es nicht enfach Buchstaben (oder Phoneme), auch keine Morpheme, Wörter o. ä., es sind vielmehr Zweiergruppen von Buchstaben, sog. neuronale Bigramme, womit eine Art Gleichgewicht zwischen Spezialisierung und Ökonomie bzw. Effizienz erreicht wird. Es springt in die Augen, dass das Bigramm in etwa dem Diphon Saussures entspricht, und es verhält sich auch im Text ähnlich wie dieses, duldet z. B. Metathesen oder Disjunktionen (z. B. ENtre/ cErNe usw.). Dazu kommen Ähnlichkeiten beim amorçage (der Evokation) des Zielwortes (96s.): Es müssen nicht unbedingt alle Buchstaben repräsentiert sein; Buchstabenvertauschungen stellen kein ernsthaftes Hindernis dar; Bigrammme können durch Einschübe aufgespalten werden, sofern diese nicht mehr als zwei Buchstaben umfassen; die Reihenfolge der Buchstaben ist so lange unwichtig, wie der erste und der letzte des Wortes repräsentiert sind und ihre Zahl stimmt (entspricht in etwa Saussures mannequin). All diese Ähnlichkeiten verleihen Bravos Hypothese, Saussures Anagrammtheorie bilde in gewisser Weise die bigrammatische Struktur des Lesens ab, einen beachtlichen Grad von Plausibilität. So wie das Anagramm eine Segmentalisierung eines Namens durch den Leser (oder Autor? ) im Text ist, wäre die Lektüre eine Entlinearisierung des Textes durch das Auge (102). Es stellt sich nun aber die Frage, ob das Anagramm auf der Graphie oder dem Phonem basiert, ob das Auge oder das Ohr die entscheidende Instanz ist (102s.). Im Premier cahier à lire préliminairement argumentiert Saussure vorerst einmal auf lautlicher Basis, um dann aber zunehmend in den graphischen Bereich hinüberzuwechseln 5 . Dies scheint insofern nicht besonders gravierend zu sein, als sowohl graphisches Zeichen als auch Laut/ Phonem primär einmal psychischer Natur sind und erst bei der Aktivierung in der parole physische Gestalt erhalten. Zudem legen die Neurowissenschaften die Annahme nahe, dass die Hirntätigkeit beim Lesen und beim Hören jeweils in den gleichen Repräsentationskanal mündet und so eine Darstellungsabfolge Graphem → Phonem → Sinn entsteht. Zudem würde 235 Besprechungen - Comptes rendus 3 Cf. v. a. S. Dehaene, Les neurones de la lecture, Paris 2007. 4 Cf. hierzu bereits 1981 (1972) Wunderli, Saussure-Studien, Tübingen 1981: 93s. 5 Für den vollständigen Text cf. Wunderli, ZFSL 82 (1972): 193-216. Bravo scheint meine Ausgabe nicht zu kennen und zitiert nur fragmentarisch nach Starobinski. der Gegensatz oral/ skriptural im wesentlichen durch den Rhythmus neutralisiert, der für beide Bereiche identisch wäre (105). Nach Bravo liegt Saussures Anagrammtheorie eine musikalische Sprachkonzeption zugrunde; das Anagramm wäre eine Art wiederkehrendes Motiv, ein Thema mit Variationen. Dazu passt recht gut, dass Johann Sebastian Bach offensichtlich eine Art Anagramm-Adept war, der - wie André Pirro schon 1907 nachgewiesen hat - z. B. in der Kunst der Fuge seinen eigenen Namen über die Tonfolge b - a - c - h als eine Art (wiederkehrende) musikalische Unterschrift eingebracht hat; auch sonst scheint er die Umsetzung von Wörtern in Tonfolgen ausgiebig praktiziert zu haben (107s.) 6 . Umgekehrt findet sich bei Saussure eine Fülle von musikalischen Metaphern (109); es gibt also so etwas wie ein osmotisches Prinzip zwischen den beiden Bereichen. Gemeinsam ist ihnen aber, dass beim Hören bzw. Lesen das Auftreten der relevanten Elemente/ Bausteine im Hirn dechronologisiert, d. h. das Linearitätsprinzip aufgehoben wird. Einen weiteren Problembereich stellt das sog. mentale Lexikon dar, das die Gesamtheit des inneren (gespeicherten) Vokabulars umfasst (111s.). Es ist nicht beobachtbar, sondern kann nur aufgrund von experimentellen Ergebnissen inferentiell erschlossen werden. Die Hypothese ist, dass die kognitiven Ressourcen im Langzeitgedächtnis verortet sind, wobei sie in ein Erfahrungsgedächtnis (episodisch-biographisch) und ein semantisches Gedächtnis (Verfahrenskenntnisse, Symbole, Konzepte, Definitionen usw. zerfallen). Es lässt sich über die Prototypensemantik abbilden, wobei die Assoziationen weitgehend auf semantischen Merkmalen gründen 7 . Bravo betont allerdings, dass nicht nur die Semantik bei den Assoziationsverläufen eine Rolle spielt, sondern dass die «Form» des Wortes (der Signifikant) ebenfalls von Bedeutung ist oder zumindest sein kann (114). Das mentale Lexikon ist eine Art neuronaler Dictionnaire, in dem die Seme als kognitive Basiseinheit funktionieren; die Komponentialität des Wortes hätte eine neurologische Basis und wäre eine psychologische Realität. Somit liegt hier eine neurowissenschaftliche Rechtfertigung der strukturellen Semantik vor, die die endlosen Attacken der kognitiven Semantik ad absurdum führt. Und die Wortbedeutung wäre nicht nur komponentiell aufgebaut, die Wörter wären im mentalen Lexikon (gerade über die semantischen Merkmale) untereinander vernetzt, und dies unabhängig von jeder Diskursrealisierung; als Musterbeispiel hierfür dient Saussures Darstellung des Assoziationsfeldes von enseignement 8 . Allerdings sind in den Angrammstudien für Saussure die formalen (ausdrucksseitigen) Elemente von herausragender Bedeutung; die Semantik bleibt in der Regel außen vor. Es geht ihm nur um das Aufspüren des mot thème, und seine Analyse bricht dort ab, wo die Interpretation 9 eigentlich beginnen würde (117s.). Anschließend kehrt Bravo nochmals zum Linearitätsproblem zurück, das für Saussure einen Pfeiler seiner Sprachtheorie darstellt, während für Bravo dieses Prinzip mehr als fraglich ist (118s.); dabei stützt er sich v. a. auf Xuan Hao 1985 10 . Die Linearität wäre schon im Zusammenspiel von Phonemen und Prosodemen aufgehoben, denn die Suprasegmentalia sind den Segmentalia in einer gewissermaßen eigenen Artikulationsebene überlagert 11 . Dazu kommt weiter, dass auch die Segmentalia (d. h. die Phoneme) in der Rede keine kon- 236 Besprechungen - Comptes rendus 6 Cf. A. Pirro, L’esthétique de Jean-Sébastien Bach, Paris 1907. 7 Cf. J.-F. Le Ny, Comment l’esprit produit du sens. Notions et résultats des sciences cognitives, Paris 2005. 8 Cf. CLG 1931: 175. 9 Mit Interpretation ist in diesem Falle eine (Re-)Semantisierung gemeint, wie sie auch die Psychoanalyse praktiziert. 10 Cf. C. Xuan Hao, Phonologie et linéarité. Réflexions critiques sur les postulats de la phonologie contemporaine, Paris 1985. 11 Cf. hierzu bereits 1978 Wunderli, Französische Intonationsforschung, Tübingen 1978, v. a. 385s. tinuierliche Abfolge bilden, sondern vielmehr «ineinandergreifen». Dies ginge schon daraus hervor, dass implosive und explosive bzw. finale und initiale Laute nicht identisch wären und in der Regel nicht einmal identifiziert werden könnten, wenn man sie isoliert zu Gehör bringe 12 . Die Laute einer Silbe würden nicht isoliert wahrgenommen; vielmehr würden die distinktiven Züge der Phoneme, die eine Silbe ausmachen, gewissermaßen im Paket artikuliert und auch holophon wahrgenommen (120s.). Und damit wären wir wieder bei den Diphonen des Anagramms, deren Sequentialität zuerst einmal wieder hergestellt werden muss. Das Wort, das Leitwort, das Anagramm usw. wären somit sowohl an die Zeitachse gebunden, existierten aber gleichzeitig außerhalb der Zeit, oder wie ich formulieren würde: Eine (relative) Bindung an die Zeitachse gibt es nur in der Rede, nicht aber im System bzw. Lexikon. Auch bei den p. 125s. diskutierten Phänomenen der jalonnante (an- oder auslautender Konsonant, der als Monophon am Anagramm partizipiert und das nachfolgende Diphon ankündigt) und der parathlipse (Metathese der ein Diphon ausmachenden Phoneme) wird bei der Restitution des Anagramms die Redeebene jeweils verlassen und auf Inventarebene operiert und damit eine Detemporalisierung erreicht. Der 2. Teil schließt mit einem Kapitel zu einer möglichen synästhetischen Veranlagung Saussures (131s.). Sein Genfer Kollege Théodore Flournoy publizierte 1893 eine Studie zum sog. colour-hearing, an der Saussure insofern beteiligt war, als er sich ausführlichst zu der zugrundeliegenden Befragung äußerte. Dabei fällt v. a. auf, dass Saussure nicht Farbeindrücke beschreibt, die die einzelnen Laute bei ihm hervorrufen, sondern die Eindrücke, die die Verbindungen Laut/ Graphie auslösen. Der Auslöser ist also eine Art zweiseitige Einheit, wobei das Phonem als «Inhalt» des Graphems erscheint. Trotz der postulierten Zweiseitigkeit kommt aber der Graphie so etwas wie ein Primat zu. Dehaene vertritt nun die Auffassung, jedes Individuum durchlaufe in seiner Entwicklung eine synästhetische Phase, wobei aber die Fähigkeit, Lautwahrnehmungen in Farben umzusetzen, im Laufe des Heranwachsens mehr oder weniger stark abnähme. Saussure hat mit Sicherheit eine differenzierte synästhetische Sensibilität; ihre Basierung auf einer zweiseitigen lautlich/ graphischen Einheit könnte erklären, warum er sich bei den Anagrammen nicht zwischen einer lautlichen und einer graphischen Grundlegung entscheiden kann. Der dritte Teil der Studie trägt den Titel «. . . là où Saussure attend Freud» (148-215). Für Saussure ist das Anagramm intentionaler Natur - aber er kennt das Unterbewusste noch nicht! Nun gehört aber gerade auch die Sprache zum unbzw. vorbewussten Wissen: Die Sprecher beherrschen sie zwar, aber sie sind normalerweise nicht in der Lage, ihre Regeln zu formulieren. Dies macht deutlich, dass eine Wissenschaft der Sprache eine Wissenschaft der Psyche vorausetzt, was ja auch von Saussure im Cours immer wieder herausgestellt wurde, indem er die Linguistik in die Psychologie eingebettet wissen will. Die Rolle des Unterbewussten wird aufgrund verschiedener Phänomene angegangen. Da wäre zuerst einmal das Phänomen des TOT (on the tip of the tongue), des Nichtfindens eines Namens, der einem «auf der Zunge liegt» (152s.). Das Phänomen wird dargestellt aufgrund einer Selbsterfahrung Freuds während einer Balkanreise, wobei das Anagramm als nichts anderes als eine Metapher des Zugangs zum mentalen Lexikon erscheint, als eine Formalisierung des Worterkennungsprozesses. Beim TOT würde die Aktivierung der gesuchten Einheit scheitern; das Anagramm wäre nichts anderes als eine künstlich geschaffene, inszenierte TOT-Situation, oder mit andern Worten: Das Hypogramm qua poetisches Verfahren würde sich in seinem Funktionieren am Verfahren der Wortfindung orientieren. Dass dem so ist, würde auch durch formale Parallelen zwischen Wortfindung und Anagramm bestätigt: der Rolle eines mannequins, der Bedeutung der Silbenzahl, des Platzes des 237 Besprechungen - Comptes rendus 12 Es muss allerdings erstaunen, dass Bravo hier nirgends Saussures Silbentheorie erwähnt, die ausführlichst auf dem Gegensatz von Explosion und Implosion aufbaut (CLG 1931: 77s.). Akzents, usw. Der Unterschied zwischen Saussure und Freud würde nur darin bestehen, dass für Saussure das Anagramm gewollt ist, während Freud das TOT-Phänomen im Unterbewussten ansiedelt. Eine zweite Parallele zwischen Saussure und Freud ist die Tatsache, dass es sowohl bei den Anagrammen wie in der Psychopathologie des Alltagslebens (zumindest primär) um Namen geht (168s.). Bei Freud ist der Name im Unterbewussten vergraben, bei Saussure ist er im Text verstreut. Gemeinsam ist ihnen, dass die Konstituenten Paare bilden, dass die Konsekutivität bzw. Linearität der Konstituenten aufgehoben ist, dass die Findung des Leitwortes/ -namens eines «Aufhängers» bedarf (1. Phonem/ 1. Phonemgruppe eines Wortes/ Stammes o. ä.); cf. z. B. bei Saussure das Anagramm von Politianus, bei Freud die Metanalyse von Kleopatra/ Klapperschlange usw.). Aber warum die Fokussierung auf Eigennamen? Nach Bravo (176) weil sie inhaltlich leer, ohne denotative Kraft wären. In einem weiteren Abschnitt (177s.) setzt sich Bravo mit dem volitiven Charakter des Anagramms auseinander, und hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen Saussure und Freud. Für Saussure ist das Anagramm gewollt, die Psychoanalyse ist hier mehr als skeptisch. Nach Bravo gilt: «. . . le poème sait ce que le poète ne sait pas» (180), oder mit anderen Worten: Der Text würde das Hypogramm generieren, ja «l’inconscient du texte» könnte gleichzeitig mehrere Hypogramme produzieren. Solche Formulierungen rufen bei mir nun allerdings heftige Protestreaktionen hervor: Der Text selbst tut gar nichts, aktiv ist einzig der Leser/ Hörer, der im Text vorhandene Stimuli aufgreift und verarbeitet. Im folgenden Abschnitt (Quand la langue glisse, 189s.) sieht Bravo dagegen wieder deutliche Parallelen zwischen Saussure und Freud. Es geht hier um den Lapsus, der nichts Anderes als einen Einbruch des Unterbewussten in den Diskurs darstellen würde. Bei Saussure ginge es um sprachliche Arbitrarität, bei Freud dagegen um psychische Arbitrarität, beim einen um das unmotivierte sprachliche Zeichen, beim andern um (scheinbar) unmotivierte Handlungen. Ich fürchte allerdings, dass Bravo hier Opfer seines (sprachlichen) Spieltriebs wird und Äpfel mit Birnen vergleicht: Saussures Arbitrarität ist ein institutionelles Phänomen auf der Ebene der langue, Freuds Arbitrarität eine akzidentelle Erscheinung auf Handlungsebene. Nicht zu leugnen ist dagegen, dass man sowohl im Anagramm wie im Lapsus ein «mot sous le mot» sehen kann, allerdings beide Male auf Diskursbzw. Handlungsebene! Unter dem Titel «Lecture flottante» (198s.) wird dann das Vorhergehende im wesentlichen resümiert. Nach Bravo ist das Anagramm nicht gewollt; es würde vielmehr eine andere Art zu lesen darstellen: Es ginge nicht darum zu hören, was gesagt wird, sondern was im Gesagten geredet wird. So weit, so gut. Aber dann verfällt Bravo wieder in seine animistische Textkonzeption: Man müsse «entendre la parole qui parle dans le poème», man müsse nicht hören «ce qui est dit», sondern «ce que ça dit», usw. Richtig ist aber, dass sowohl bei Saussure als auch bei Freud die Temporalität der Rede aufgehoben und die Lektüre entautomatisiert wird. Richtig auch, dass das Anagramm nicht an Eigennamen gebunden ist, sondern auch Appellativa, Satzbruchstücke usw. «anagrammatisiert» werden können (203). Die Lektüre wäre somit eine doppelte Aktivität: eine aktive Sinnsuche, und eine passive Resonanz des Textes aufgrund von Erinnerungen, Affekten, Erfahrungen. Allerdings bezweifle ich, dass diese «Resonanz» wirklich die Bezeichnung passiv verdient; ich halte sie für eine (bewusste oder unbewusste) Aktivität des Rezipienten. Dieser dritte Teil schließt mit einem hochspekulativen Kapitel mit dem Titel «Saussure sussure» (206s.). Für Saussure wäre die Linguistik eine Domäne des Unsagbaren, was ihn schließlich zur Aufgabe seiner Nachforschungen veranlasst hätte. Sowohl seine linguistischen wie auch seine anagrammatischen Projekte würden unfertig bleiben, und dieser Hang zum Unfertigen wäre eine verbreitete «Krankheit» in der Familie seiner Mutter, den De Pourtalès. Sein früher Tod würde sich aus einem Zustand der totalen geistigen Erschöpfung 238 Besprechungen - Comptes rendus aufgrund der «Unsagbarkeit» der Linguistik erklären (214). Auch wenn diese Hypothese von Olivier Flournoy in die Welt gesetzt wurde, ist sie wohl kaum überzeugender als alle andern bisher vorgetragenen . . . 13 . Der vierte, der Semiologie gewidmete Teil trägt den Titel «Pour une sémiologie des figures sonores» (217s.). Ausgangspunkt ist ein Statement von Jean-Claude Milner, der die Anagramme keineswegs für ein Hirngespinst hält. Allerdings sind Wiederholungen und anagrammähnliche Konstellationen bei dem begrenzten Inventar von Phonemen und Phonemkombinationen unausweichlich - aber nicht jede Wiederholung ist (hypogrammatisch) signifikant. Hier stellt sich nun die Frage, was den Unterschied zwischen poetischer Sprache und Alltagssprache ausmacht. Überdies: Ist die Alltagssprache eine Sprache ohne (rhetorische) Figuren? Ist die Paranomasie ein poetisches Verfahren? In einem ersten Unterkapitel geht Bravo der Poétique de l’ordinaire nach (219s.). Er findet z. B. rhetorische Effekte und Figuren wie Alliteration, Assonanz usw., rhythmische und prosodische Effekte z. B. zuhauf in Kochbüchern, wo sie sicher ungewollt sind (im Gegensatz zu den poetischen Texten); wir haben also eine vergleichbare Situation wie bei den Anagrammen (? ). Auch die Werbetexte sind voll von Alliterationen, Apophonien, Reimen, Anaphern und auch Anagrammen. Und wie steht es hier mit der Intentionalität? Nach Bravo läge nicht eine Intention des Autors, sondern erneut eine solche des Textes vor. Aber auch hier behaupte ich: Der Texte will gar nichts, er liefert nur (potentielle) Stimuli, die der Rezipient verarbeiten kann und manchmal auch verarbeitet. Richtig ist dagegen, dass Ambiguitäten, Mehrfachinterpretationen usw. in der Regel nur für den Rezipienten, nicht aber für den Autor bestehen, und richtig ist auch, dass sowohl der Sprechakt als auch der Interpretationsakt subjektiv sind (227s.). Die Schnittstelle von vouloir dire und vouloir entendre wäre die littéralité, und Missverständnisse würden auf einer Diskrepanz zwischen dem Gesagten und dem Gehörten bzw. Erwarteten gründen (227s.). Ein zweites Unterkapitel trägt den Titel «Aux frontières du subliminal» (230s.). Zum subliminalen Bereich gehört jeder unbewusst perzipierte Stimulus, d. h. es gibt so etwas wie ein kognitives Unterbewusstsein. Die Art des Zugriffes auf subliminale Daten wäre die gleiche wie beim Hypogramm: er könnte operativ oder resultativ sein, die Kodierung oder die Dekodierung betreffen, eine bewusste oder eine unbewusste Verarbeitung darstellen. Auch hier stünden sich «Laborsituation» und «Alltagssituation» gegenüber: Auf der einen Seite der Dichter und der Wille, auf der anderen der Rezipient und der Zufall. Das Anagramm wäre nach Bravo ein subliminales Phänomen, das auf Stimuli beruht, die man aufnehmen oder verwerfen kann; es wäre letztlich eine Metapher für das subliminale Funktionieren von Sprache. Illustriert wird die ganze Argumentation mit der Geschichte von Salvador Dalís Reaktion vor dem Angélus von Jean-François Millet, der aufgrund der Bildkompositon unter dem Früchtekorb einen Kindersarg sieht - und die radiographische Untersuchung des Bildes zeigt, dass in der ursprünglichen Version dort auch tatsächlich ein Kindersarg war (237s.). Es gibt also nicht nur einen texte sous le texte, einen discours sous le discours, sondern auch ein tableau sous le tableau. In einem weiteren Unterkapitel (241s.) wird das Phänomen der sociation psychologique diskutiert. Da das Anagramm nicht nur auf die Poesie beschränkt ist, nicht nur religiös motiviert ist, sondern ebenso in der Prosa und in Alltagstexten vorkommt, kann es als panchronisch und universell angesehen werden; es ist nicht mehr eine Figur, sondern eine Struktur, ein Denkautomatismus, ein Redemotor. Und diese «Entgrenzung» würde die sociation psychologique nach sich ziehen: Das Anagramm würde das Individuum mit der Gemeinschaft verbinden, die subjectivité mit der socialité. Und dies würde sich u.a. darin niederschlagen, dass gewisse Namen immer wieder (d. h. bei den verschiedensten Autoren, 239 Besprechungen - Comptes rendus 13 Cf. hierzu auch Ludwig Jäger, Ferdinand de Saussure zur Einführung, Hamburg 2010: 218s. an den unterschiedlichsten Orten, zu beliebigen Zeitpunkten) mit den gleichen Wörtern hypogrammatisiert werden: Xerxes mit exercitus, Spitamenes mit tamen usw., aber auch Lorca mit calor, Unamuno mit unánime, Descartes mit écarter, nuclear mit unclear, etc. Es gäbe so etwas wie eine Solidarität zwischen den Paarkonstituenten, eine gegenseitige Bindung nicht subjektiver, sondern intersubjektiver Natur. Und dies in einem Rahmen, der die ursprüngliche Beschränkung auf die Poesie, die Bindung an ein bewusstes Wollen und die Zentriertheit auf Eigennamen aufhebt. In einem als Bilanz ausgewiesenen letzten Unterkapitel geht dann Bravo nochmals auf einen Typ von Lapsus und Wortspielen ein, die als hypogrammatisch fundiert gelten können (249s.). Um dann sein (abzulehnendes) Glaubensbekenntnis zu wiederholen: «Ce n’est pas le locuteur qui joue avec les mots: . . . ce sont plutôt les mots qui se jouent du locuteur . . .» (252). Etwas weniger problematisch ist seine Unterscheidung von Alltagsdiskurs, «[qui] laisse voir l’iconicité», und poetischem Diskurs, «[qui] donne à voir l’iconicité»; im ersten Fall hätten wir es mit einer monstration agie, im zweiten dagegegen mit einer monstration montrée zu tun. Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass auch im poetischen Diskurs das Anagramm keineswegs die postulierte Charakteristik haben muss, sondern sie bestenfalls haben kann. Es folgt dann noch eine Ehrenrettung der vielgeschmähten Grands Rhétoriqueurs, die mit den modernen Rapeurs verglichen werden (252s.). Das Kapitel schließt mit einigen Reflexionen zur Frage, wie es zur anagrammatischen Traditionsbildung habe kommen können: aufgrund eines verbalisierbaren poetischen Codes (Saussure), auf der Basis der Intertextualität in Verbindung mit Bildung (Bachtin), oder aufgrund einer unbewussten Transmission zwischen Instanzen des Unterbewussten. Da es aber kein Gedächtnis ohne Vergessen gibt, kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die gleichen Bedingungen und Gegebenheiten auch immer wieder zur «Neuerfindung» der Anagrammtechnik führen. In einem kurzen Schlusswort (259s.) bilanziert Bravo dann, dass seine Untersuchungen mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gebracht hätten, seine Überlegungen seien ständig und in hohem Maße spekulativ. Und letztlich bleiben zentrale Probleme wie die Fragen bewusst oder unbewusst, Schrift oder Laut, Autor/ Text oder Rezipient, Interpretation oder illusorische Projektion, bedeutsam oder nicht bedeutsam, usw. ohne definitive Antwort; für Bravo ist das ganze Unternehmen eine Gratwanderung entlang einer nicht definierten Grenze. Meine eigene Bilanz: Ein interessantes, oft aufregendes Buch! Vor allem das Kapitel zu den Neurowissenschaften ist außerordentlich anregend und zeigt, dass Saussures Anagrammtheorie nicht einfach abartig und irgendwie verrückt ist. Aber auch hier, ebenso wie im Kapitel zur Psychoanalyse, gibt es keine eindeutigen Beweise, es bleibt alles im Bereich der Hypothesen und Analogien. Überdies gibt es auch gewisse Ärgernisse. Dazu gehört z. B., dass deutschsprachige Literatur zum Thema mehr oder weniger systematisch vernachlässigt wird. Vernachlässigt wird auch Saussures Silbentheorie und seine Unterscheidung von implosiven und explosiven Lauten, die hervorragend zu Bravos Argumentation gepasst hätte. Ein großes Ärgernis ist aber v. a. die ständige Personifizierung oder Animierung des Textes, auf die wir des öfteren hingewiesen haben. Und schließlich wird auch der Tatsache nicht Rechnung getragen, dass die Linearität bzw. Temporalität des Zeichens in der langue ohnhin aufgehoben ist; und hier stellt sich v.a. die Frage, inwieweit das Anagramm ein reines Diskursphänomen ist - handelt es sich nicht vielmehr um einen vom Diskurs ausgehenden Zugriff auf die langue/ das System, also das, was Saussure der activité de classement zugeordnet hat? 14 Peter Wunderli ★ 240 Besprechungen - Comptes rendus 14 Cf. Wunderli 1981: 55s.
