Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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2013
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Kristol De StefaniGallus in Tuggen
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2013
Gerold Hilty
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Vox Romanica 72 (2013): 170-178 Gallus in Tuggen Résumé: L’auteur défend son explication étymologique du nom de Tuggen (publiée in VRom. 1985), contre les critiques avancées par le Schwyzer Namenbuch (2012). Il persiste à croire que c’étaient les Alamans qui fondèrent le village et lui donnèrent le nom de Tuggen. La base de ce nom serait le mot tug ‘tuf’. Le tuf était très apprécié comme matériau de construction et il a été employé dans les fondements de l’église de Tuggen. Pour ce qui est de l’explication du nom de Tuggen proposée par le Schwyzer Namenbuch, elle présuppose des racines romaines pour le village de Tuggen et fait remonter son nom à doga, mot attesté en latin tardif avec la signification de ‘douve’. L’auteur mentionne plusieurs points faibles de cette explication, qui l’empêchent de l’accepter. Schlüsselwörter: Ortsnamenforschung, Alpinlombardisches Substrat in der Innerschweiz, Etymologie des Namens Tuggen, Benennungsmotiv, römische oder alamannische Wurzeln des Dorfes, Religion der Heiden von Tuggen, Romanen und Alamannen in der March 1. Ausgangslage Vor fast dreissig Jahren habe ich, unter dem gleichen Titel, in dieser Zeitschrift die Tuggen-Episode der Gallus-Viten analysiert und interpretiert (Hilty 1985). Die Ergebnisse dieser Studie sind auch in mein Buch Gallus und die Sprachgeschichte der Nordostschweiz eingegangen (Hilty 2001: 32-52). In den letzten Jahren sind nun aber die geschichtlichen, religionsgeschichtlichen und namenkundlichen Resultate meiner Studie zum Teil in Frage gestellt worden, und zwar in zwei wichtigen Werken (Schär 2011; Weibel 2012). Ich erlaube mir deshalb, auf die Problematik zurückzukommen. Hier der Rahmen der Tuggen-Episode: Nach seiner Ausweisung aus Luxeuil und dem missglückten Versuch einer Rückkehr nach Irland wollte Columban mit seinen Jüngern nach Italien ziehen. In Metz bat er König Theudebert II. , der damals über das Elsass und die bereits alamannisierten Teile der Schweiz herrschte, um Begleitschutz für diese Reise. Der König willigte ein unter der Bedingung, dass Columban auf seiner Reise eine Zeitlang in der alta Germania (wie Wetti schreibt), in der Alamannia (wie sich Walahfrid ausdrückt) missioniere. Columban sagte zu und zog mit seinen Jüngern Richtung Süden, dem Lauf des Rheins, der Aare und der Limmat folgend, bis nach Zürich. Auf der Weiterreise entlang des Zürichsees machte er in Tuggen Station, offenbar um sein Missionsversprechen einzulösen. Warum ausgerechnet in Tuggen? Weil Tuggen kurz vor der Grenze zum christlichen Churrätien lag. Wollte Columban sein Missionsversprechen einlösen, bot der Raum von Tuggen die letzte Gelegenheit. Die Missionierung der heidnischen Bevölkerung von Tuggen, bei der sich Gallus hervortat, verlief nicht nach Wunsch. Gallus ging zu aggressiv vor, setzte die Gallus in Tuggen 171 Heiligtümer der Heiden in Brand und versenkte die den Götzen dargebrachten Opfergaben in den See, den Tuggenersee, einen Arm des Zürichsees, der damals bis in die Linthebene hinein reichte. Darüber empört, wollten die Tuggener Gallus umbringen, was die Flucht von Columban und seinen Jüngern aus Tuggen bewirkte. 2. Herkunft und Religion der Heiden von Tuggen Waren die Heiden von Tuggen eingewanderte Alamannen, die noch ihrem ursprünglichen Heidentum anhingen, oder waren es nur oberflächlich christianisierte Keltoromanen, die wieder ins Heidentum zurückgefallen waren? Aus dem kurz zusammengefassten Zusammenhang heraus, der von Missionstätigkeit in der alta Germania, beziehungsweise der Alamannia spricht, liegt die erste Alternative näher. In meinen Studien habe ich sie denn auch vertreten (Hilty 1985: 144-47; Hilty 2001: 45-50). Sehr entschieden zu Gunsten der zweiten Alternative spricht sich hingegen Max Schär in seinem kürzlich erschienenen Gallus- Buch aus (Schär 2011: 143-51). Ich fasse hier kurz die Argumente zu Gunsten meiner Auffassung zusammen: - Für die Annahme, das Dorf Tuggen habe (spät)antike Wurzeln, gibt es keine gesicherten Indizien, geschweige denn Beweise. Archäologisch gesehen ist die Gegend von Tuggen frei von römischen Spuren, mit Ausnahme einer Sigillatascherbe, die in der Burg Mülenen gut zwei Kilometer südlich von Tuggen gefunden wurde, ein Einzelfund, der über Tuggen kaum etwas aussagt (Hilty 2001: 34-35) 1 . Wenn aber Tuggen keine römischen Wurzeln hatte, werden dort um 600 kaum (kelto)romanische Heiden gelebt haben. - Der Versuch einer Missionierung von alamannischen Heiden in Tuggen lässt sich absolut stimmig einbetten in den Bericht der Columban-Reise nach Italien und des Missionsversprechens, das Columban Theudebert II. gegeben hatte 2 . 1 Der Fund römischer Münzen in Tuggen, den Schär, gestützt auf L. Kilger, erwähnt (Schär 2011: 144), ist offenbar ein Phantom, mindestens in Bezug auf Tuggen. 2 Diese Einbettung liest sich bei M. Schär fast wie ein Abschnitt aus einem historischen Roman: «Im Unterschied zu Bregenz hat es in der Umgebung von Tuggen zur Zeit Columbans allem Anschein nach kaum Alemannen gegeben. Aber woher sollte der irische Abt dies wissen? Zunächst war Tuggen ein ‹sicherer Hort›, der gefiel. Er bot sich - wie Bregenz - als günstiger Stützpunkt für die Alemannenmission an. Die Alemannen mussten hier irgendwo leben. Man würde sie schon finden. Man musste sie finden, wenn man dem König gegenüber nicht wortbrüchig werden wollte. Dies war die letzte Chance zu missionieren - vor dem Grenzübertritt und der Weiterreise nach Italien. - Dann aber entdeckten die ortsunkundigen Mönche zu ihrem Entsetzen, dass die für christlich gehaltenen Tuggener selber Götzendienst trieben. Sie mussten sich also zuerst mit den Tuggenern beschäftigen. Das taten sie, indem sie ihre Kultstätte zerstörten. Daraufhin mussten sie fliehen» (Schär 2011: 151). Gerold Hilty 172 - Bis zum Ende des 6. Jahrhunderts war das Gebiet der Alamannen, die vor allem den Flussläufen und Seeufern entlang vorstiessen, noch nicht christianisiert (cf. Behr 1975: 123). Die Annahme ist daher legitim, die Alamannen haben den Raum von Tuggen gegen Ende des 6. Jahrhunderts als Heiden besiedelt. - Um die Mitte des 7. Jahrhunderts wurde in Tuggen eine christliche Saalkirche gebaut. Drei im Mittelschiff gefundene Gräber erlauben, dank Grabbeigaben, eine ziemlich sichere Datierung. Die drei begrabenen Männer waren weder Alamannen noch Keltoromanen, sondern wohl Angehörige der Stifterfamilie, einer «im Gebiet der heutigen Deutschschweiz verankerten, einheimischen Familie» (Windler 2004: 25) 3 . Dies schliesst nicht aus, dass ein paar Jahrzehnte früher heidnische Alamannen in Tuggen lebten. So sagt Renata Windler: «Ob Columban und Gallus zu Beginn des 7. Jahrhunderts in Tuggen noch Heiden angetroffen haben, wie dies Wetti und Walahfrid Strabo in ihren Gallus-Viten schildern, bleibt aus archäologischer Sicht . . . offen» (Windler 2004: 25). 3. Tuggen *tug-j ō Auf der Grundlage meiner Überzeugung, dass die Existenz einer alamannischheidnischen Bevölkerung im Raum Tuggen zu Beginn des 7. Jahrhunderts möglich oder sogar wahrscheinlich ist, habe ich den Namen Tuggen zu deuten versucht, und zwar von einer Basis tug ‘Tuffstein’ aus (Hilty 1985: 138-42, cf. auch Hilty 2001: 37-45). Die Bezeichnung des Tuffsteins basiert im Alamannischen auf dem lateinischen Wort tofus. Dieses ist von den Alamannen in zwei Varianten rezipiert worden: tuf und tug. Die zweite Form steht wohl in Zusammenhang mit der oberitalienischen Lautung togo und gehört zu den lateinisch-romanischen Entlehnungen, welche Übereinstimmungen zwischen dem lombardischen Alpensüdhang und der vordeutschen Namenschicht der Innerschweiz belegen. Nach Weibel kommt die Form Tug im Bezirk Schwyz vor, Tugstein im gesamten Raum Ausserschwyz (Weibel 2012: 154). Meine Erklärung des Namens Tuggen besteht nun darin, dass ich eine j ō -Ableitung von tug annehme. Solche Ableitungen bezeichnen im Allgemeinen die Zugehörigkeit. Die Bedeutung wäre demnach ‘Ort oder Gegend wo Tuffstein vor- 3 M. Schär nimmt an, von den drei bestatteten Männern sei einer Keltoromane bzw. Kelte gewesen, die andern beiden Alamannen (Schär 2011: 146-49). Ich ziehe die Deutung der erfahrenen Archäologin vor. Dementsprechend glaube ich nicht an folgende Konstruktion, welche die doch recht unwahrscheinliche Christianisierung von Romanen durch Alamannen impliziert: Die von Schär angenommenen zwei Alamannen-Gräber stünden in Zusammenhang mit der Errichtung einer alamannischen Herrschaft in Tuggen um die Mitte des 7. Jahrhunderts, einer Herrschaft, die zu der gewaltsamen Christianisierung der (kelto)romanischen Heiden führte, die Columban in einem Verwünschungsgebet beim Verlassen von Tuggen prophezeit hatte. Gallus in Tuggen 173 kommt’. Die lautlichen Schritte, die zur Form Tuggen führen, sind im Sinne der historischen Lautlehre absolut regelmässig. Das kann in meinen früheren Studien nachgelesen werden. Was das Benennungsmotiv betrifft, kann erwähnt werden, dass am Buechberg bei Tuggen an mehreren Stellen sogenannte Kalktuffe auftreten. Man kann sich allerdings fragen, ob dies als Benennungsmotiv für die Siedlung ausreichte. Freilich ist es nicht ausgeschlossen, dass früher in der Gegend in grösserem Umfang Tuffstein auftrat und dieser heute nicht mehr sichtbar ist, weil er abgebaut wurde. Solche Eingriffe lassen sich in anderen Gegenden nachweisen. Tuffstein war als Baumaterial sehr beliebt. Unter diesem Gesichtswinkel ist folgende Beobachtung von Bedeutung: Bei den Ausgrabungen in der Kirche von Tuggen wurden im Bereich der Fundamente des frühmittelalterlichen Altars und des gotischen Kreuzaltars grössere Brocken Tuffstein gefunden (Hilty 2001: 45) 4 . 4. Kritik an meiner Deutung von Tuggen Viktor Weibel, Autor des Schwyzer Namenbuchs, lehnt meine Deutung des Namens Tuggen ab, und zwar mit Argumenten, die ich im Folgenden erwähne und kommentiere (Weibel 2012: 5, 152-55). - Zu der Verbindung, die ich zwischen oberitalienischem togo und alamannischem tug herstelle, wird gesagt: «Erklärungsbedürftig ist auch, wie denn ein Wort aus dem oberitalienischen Raum so isoliert in den Raum Ausserschwyz kommen konnte» (154-55). Hier liegt ein bedauerliches Missverständnis vor. Nach meiner Formulierung geht es doch um die aus dem oberitalienischen Raum stammende Form togo im Rahmen der «Übereinstimmungen zwischen dem lombardischen Südhang und der vordeutschen Namenschicht der Innerschweiz» (Hilty 1985: 139; 2001: 39). Die Rede ist also von einem romanischen togo, welches die Alamannen nördlich der Alpen übernommen und als Variante neben tuf weit verbreitet haben. Die Alamannen, die nach meiner Meinung Tuggen besiedelt haben, besassen tug als romanisches Reliktwort, nachdem sie - möglicherweise sogar erst in der March - mit der erwähnten romanischen Sprachschicht in Kontakt gekommen waren. - Dass die Erklärung von Tuggen von dem Simplex tug aus geschehen soll, stimmt V. Weibel «nachdenklich», da «im älteren Deutsch [Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch] eigentlich nur die Kombination mit -stein bekannt» ist (154). Das 4 Zur Frage des Vorkommens von Tuffstein in der Gegend von Tuggen, schrieb mir Conrad Schindler, der beste Kenner der Geologie des Linthgebiets (cf. Schindler 2004) am 22. Januar 2002: «Wie Sie richtig schreiben, können Tuffsteinvorkommen in der Gegend von Tuggen gelegentlich durchaus möglich sein, Bedingung sind dauernd fliessende Quellen und kalkhaltiges Wasser, was hangaufwärts im N und NW, in kleinerem Masse auch nahe der Kirche, möglich ist. Bedeutende Mengen sah ich dort allerdings nirgends, doch könnten sie in der Vergangenheit bereits ausgebeutet worden sein». Gerold Hilty 174 Simplex muss ja aber auf jeden Fall vor dem Kompositum bestanden haben, und ich habe auch ausdrücklich darauf hingewiesen (was leider nicht berücksichtigt wurde), dass vom Simplex tuf die gleiche j ō -Ableitung in mehreren Schweizer Toffen-Namen belegt ist (Hilty 1985: 140 N2). - «Dass man Kalktuffe am Buechberg findet, heisst nicht, dass sich deswegen an seinem Fuss ein davon abgeleiteter ON gebildet haben muss», sagt das Namenbuch (155). Das Vorkommen von Tuffstein in den Fundamenten von zwei Altären der Kirche von Tuggen wird leider nicht berücksichtigt. 5. Die March als romanisch-alamannisches Grenzland In einer besonderen Studie wirft mir der Autor des Schwyzer Namenbuchs vor, ich habe den Charakter der March als Grenzland zwischen der Romania und der Alamannia nicht berücksichtigt und deshalb die Möglichkeit ausgeschlossen, dass Tuggen in einem von den Rätoromanen geprägten Raum liege (Weibel 2011). Ich habe durchaus mit der Existenz eines romanischen Substrats in der March gerechnet. Sonst hätte ich nicht die Auffassung von Heinrich Schmid zitiert, dass die Germanisierung der Linthebene in der March und vor allem im Wägital mit einer gewissen Verzögerung erfolgt sei (Hilty 1985: 141; 2001: 44). Ich habe nur die Versuche kritisiert, dieses Substrat mit untauglichen Mitteln, zum Beispiel mit der fragwürdigen Deutung von Flurnamen, beweisen zu wollen, und habe ausdrücklich gesagt, dass man auf eine wissenschaftlich seriöse Namendeutung in der March warten müsse, um eine allfällige Einbettung des Namens von Tuggen in eine romanische Namenstruktur beurteilen zu können. Diese Voraussetzung ist nun durch die Publikation des Schwyzer Namenbuchs erfüllt. In der erwähnten Studie über die March als altes Grenzland zur Rätoromania bespricht Viktor Weibel 19 Namen, für die er eine romanische oder eine vorromanische, durch das Romanische vermittelte, Grundlage annimmt. Vier der Deutungen kennzeichnet er selbst als unsicher. Ich schliesse diese Namen aus den folgenden Überlegungen aus. Hingegen berücksichtige ich durchaus die ausgestorbenen, historisch aber noch fassbaren Namen, so dass es um 15 Namen und ihre Deutungen geht, darunter Tuggen. Ich brauche hier diese Deutungen nicht im Einzelnen zu besprechen. Im Allgemeinen sind sie durchaus einleuchtend. Nur dies: Dass die Deutung von Galgenen ( calcaneum) einen teilweise hypothetischen Charakter hat, weiss der Autor (Weibel 2011: 283-84; 2012: 2, 367-69). Bei den beiden Namen Tschabäni (Weibel 2011: 278-79; 2012: 5, 142) und (Zi)bölgen (Weibel 2011: 279; 2012: 1, 524-25) sucht man vergebens nach einer Erklärung dafür, weshalb ihr Anlaut verschieden ist, obwohl sie von lateinischen Grundlagen hergeleitet werden, deren Anlaut sich hätte identisch entwickeln müssen (*cipp Ī na, cepulla). Doch das sind Details. Interessanter ist die Feststellung, dass ein Drittel der Namen Örtlichkeiten bezeichnet, die am Südhang der March und im Wägital, auf Meereshöhen zwischen 690 und 1345 m über Meer liegen. Dass sich in diesen Räumen Gallus in Tuggen 175 romanische Namen besonders gut erhalten haben, steht ausser Zweifel (cf. schon Hilty 1985: 141; 2001: 44). Es bleiben, abgesehen von Tuggen, neun Namen in der Ebene, die allenfalls für den Namen Tuggen die Einbettung in einen von der Romania geprägten Raum wahrscheinlich machen könnten. Die romanischen Relikte beweisen jedoch nur, dass eine romanische Grundlage des Namens Tuggen möglich ist, und sind kein Beweis dafür, dass eine romanische Grundlage wahrscheinlicher ist als eine alamannische. Rein statistisch ist die Wahrscheinlichkeit eines romanischen Namens ohnehin sehr gering. Den 19 romanischen Namen steht im Bezirk March ein Total von 4632 5 lebendigen und abgegangenen Namen gegenüber, d. h. die romanischen Namen machen nicht einmal ein halbes Prozent aus 6 . Das entbindet einen Namenforscher selbstverständlich nicht der Pflicht, eine vorgeschlagene romanische Deutung des Namens Tuggen sorgfältig zu prüfen. 6. Tuggen *dogione Weibel nimmt an, die Alamannen haben den Namen von den Romanen in der Form dog-ione übernommen. Ich folge ihm durchaus in der Annahme, dass unter dieser Voraussetzung der Name alamannisch ab dem 8./ 9. Jahrhundert Tuggun gelautet hätte. Zwei Fragen müssen aber zu dieser Konstruktion gestellt werden: Wann erfolgte die Benennung der Örtlichkeit als dogione? Und: Lässt sich eine bündnerromanische Form *dogione rechtfertigen? Zur ersten Frage: Viktor Weibel spricht nur vage von der «Zeit der Namengebung vor der alemannischen Besiedlung» (Weibel 2011: 283; 2012: V 155a). Von der Sprachgeschichte her musste das spätestens im 4. Jahrhundert sein, als sich das Proto-Bündnerromanische im Raum der Raetia Prima konstituiert hatte (Hilty 2008: 219). Zur zweiten Frage: Bei *dogione soll es sich um eine Ableitung von spätlateinisch doga ‘Fass, (Fass)daube’ handeln. Das Wort existiert im heutigen Bündnerromanischen in den gebräuchlichen Formen dua im Engadin, duva in der Surselva. Das DRG (5, 456-57) verzeichnet ferner im Domleschg ein halbes Dutzend Fälle einer Form duga. Die gleiche Form findet sich auch in Bonaduz und in Domat/ Ems und, vollkommen isoliert, in Lumbrein. Im Allgemeinen nimmt man an, das -gdieser Form sei nicht primär, sondern sekundär, das heisst, es handle sich nicht um das erhaltene lateinische -g-, sondern um einen Laut, der sich auf der Stufe dua entwickelt habe, um den Hiat zu tilgen. Es ist natürlich nicht auszuschliessen, dass duga auch in der romanischen Sprache des Grenzraums der Raetia Prima im Linthgebiet lebendig war. Die Deutung von V. Weibel geht auf jeden Fall von einer Form mit -gaus. Ob dieses -gprimär oder sekundär war, spielt keine Rolle. 5 Diese Zahl verdanke ich einer freundlichen Mitteilung von Viktor Weibel. 6 Zum Vergleich hier die Prozentzahlen von romanischen Namen im Bezirk Werdenberg: Hirschensprung bis Gams 6-7%, Grabs-Buchs 8%, Sevelen 15%, Wartau 25% (Hilty 2000: 34, 39). Gerold Hilty 176 Die Form duga wäre nun durch ein Suffix erweitert worden. Eine Ableitung auf -one ist für bündnerromanisch dua/ duva/ duga nicht belegt, grundsätzlich aber denkbar. Das Gleiche gilt jedoch nicht für -ione. Diese Bildung ist kein selbständiges Suffix 7 und entsteht nur, wenn die vorangehende Lautung ein -i- oder einen palatalisierten Laut enthält. Im vorliegenden Fall kann man nicht etwa argumentieren, das palatale Element stamme aus einer palatalen Entwicklung des -gvon doga, denn, ob das -gnun primär oder sekundär ist, es musste velar sein, damit es in der germanischen Entwicklung zur angenommenen Geminierung kommen konnte. Der Romanist muss daher an einer Form *dog-ione als Grundlage des Namens Tuggen zweifeln. Es bleibt noch ein Problem. In der gesamten Gallus-Überlieferung wird Tuggen immer mit T-Anlaut geschrieben. Nun weist V. Weibel mit Recht darauf hin, dass durch die germanische Medienverschiebung ab dem 8. Jahrhundert anlautendes dim Alamannischen zu twurde. Das würde genügen, um den T-Anlaut der ältesten erhaltenen Tuggen-Belege zu erklären (ab ca. 820, cf. Hilty 1983: 133; 2001: 40 8 ). Der Gallus-Forscher wird aber gewisse Zweifel anmelden. Die Wurzeln der ältesten Lebensbeschreibung des Heiligen, der Vita vetustissima, reichen ins 7. Jahrhundert zurück. Leider ist die Tuggen-Episode im einzigen Manuskript nicht erhalten. Im ersten Drittel des 9. Jahrhunderts wurde diese Vita von zwei Reichenauer Mönchen, Wetti und Walahfrid Strabo, bearbeitet, um sie in ein klassischeres Latein zu bringen. Beide Autoren hatten den Text der Vetustissima vor sich, Walahfrid dazu den Text seines Lehrers Wetti. In der Gallus-Philologie gilt nun folgender Grundsatz: Wenn die beiden Überarbeitungen übereinstimmen, drängt sich die Annahme auf, dass Inhalte und Formen aus der Vetustissima stammen. Nun schreiben Wetti und Walahfrid beide den Namen Tuggen mit einem T-Anlaut. Deshalb ist es wahrscheinlich, dass schon die Vetustissima diesen Anlaut aufwies. Dann aber könnte der Name im 7. Jahrhundert nicht einen D-Anlaut aufgewiesen haben, wie dies die Deutung von Viktor Weibel voraussetzt. Noch ein Wort zum Benennungsmotiv: Dass man einen Uferverlauf mit einer Fassdaube vergleicht, liegt nicht gerade auf der Hand. A. Schorta registriert in Graubünden (Flem und Ftan) zwei toponomastische Verwendungen von dua, die sich beide auf Felsformen beziehen (Schorta 1964: 127). Der Vergleich ist aber nicht auszuschliessen, und der entsprechende Uferverlauf war seit 1000 vor Christus praktisch konstant (Schindler 2004: 122). Einen Reflex von lateinisch doga kenne ich allerdings sonst nicht unter den romanischen Namen der Raetoromania submersa. 7 Weibels Verweis auf -ione im Suffixregister des zweiten Bandes von A. Schortas Rätischem Namenbuch (Schorta 1964: 1032) ist insofern nicht stichhaltig, als Schorta -ione ohne Stellenangaben nur erwähnt, um auf die Behandlung von -one zu verweisen. 8 Die Form Duebon des Geografen von Ravenna, die Weibel als ältesten Beleg zitiert, hat nach meiner Überzeugung nichts mit Tuggen zu tun, cf. Hilty 1985: 131-32: 2001: 34-35. Gallus in Tuggen 177 7. Bilanz Um Viktor Weibels Deutung des Namens Tuggen endgültig zu beurteilen, stelle ich die Voraussetzungen zusammen, die für Weibels Deutung erfüllt sein müssten: 1. Der Raum Tuggen müsste spätestens im 4. Jahrhundert durch eine romanischsprachige Bevölkerung besiedelt sein. 2. In der Sprache dieser Bevölkerung existierte das Wort duga mit der Bedeutung ‘Fassdaube’. 3. Von diesem Wort bestand eine Ableitung auf -ione. 4. Die Bewohner von Tuggen verwendeten die Form der Daube als Motiv für die Benennung der Bucht bei ihrer Siedlung oder auch für die weite Bucht am Fusse des Buechbergs bis zu seiner Nase gegen Osten (‘Ort bei der Bucht’ bzw. ‘Gegend um eine Bucht’). 5. Da der T-Anlaut des Namens sich erst im 8. Jahrhundert herausbildete, müsste in der ältesten Fassung der Gallus-Vita die Form *Duggun gestanden haben. Zu diesen Voraussetzungen mein Kommentar: Die erste Voraussetzung widerspricht meiner Auffassung, Tuggen habe keine (spät)römischen Wurzeln. Die von V. Weibel besprochenen romanischen Reliktnamen zeigen, dass in der March noch gewisse romanische Zellen vorhanden waren. Das muss allerdings nicht unbedingt heissen, Tuggen sei eine solche Zelle gewesen. Die Alamannen konnten ja Tuggen besiedeln und benennen, auch wenn in der Nähe noch Romanen lebten, deren Siedlungsnamen sie dann später als Relikte übernahmen. Wenn man die erste Voraussetzung als erfüllt betrachtet, ist gegen die zweite nichts einzuwenden. Auch wenn duga, soweit ich sehe, in den Reliktnamen nördlich von Chur nicht belegt ist, kann es in der Sprache der Raetia Prima bis in die Linthebene gelebt haben. Die dritte Voraussetzung ist schwer zu erfüllen. Wie oben dargelegt, ist die Existenz eines Suffixes -ione kaum zu rechtfertigen. Das Bild der Rundung einer Fassdaube als Benennungsmotiv für eine kleinere oder grössere Seebucht drängt sich nicht gerade auf, aber vielleicht kann man sogar als entfernte Parallele auf die Bildung Meerbusen hinweisen. Die fünfte Voraussetzung ist kaum zu erfüllen und würde der gesamten Gallus- Tradition widersprechen. Diese Analyse erklärt, warum ich - vorläufig wenigstens - *dog-ione nicht als Grundlage des Namens Tuggen ansehen kann. Oberrieden Gerold Hilty Bibliografie Beck, B. 1975: Das alemannische Herzogtum bis 750, Bern-Frankfurt/ M. Hilty, G. 1985: «Gallus in Tuggen. Zur Frage der deutsch-romanischen Sprachgrenze im Linthgebiet vom 6. bis zum 9. Jahrhundert», VRom. 44: 125-55 Hilty, G. 2000: «Das Zurückweichen des Rätoromanischen vom Bodensee bis Sargans (7.- 14. Jahrhundert)», AnSR 113: 29-42 Hilty, G. 2001: Gallus und die Sprachgeschichte der Nordostschweiz, St. Gallen Hilty, G. 2008: «Wann wurde Graubünden wirklich romanisiert? », in: G. Blaikner-Hohenwart et al., Ladinometria. Festschrift für Hans Goebl zum 65. Geburtstag, Salzburg/ Bozen, vol. 1: 215-28 Schär, M. 2012: Gallus. Der Heilige in seiner Zeit, Basel Schindler, C. 2004: Zum Quartär des Linthgebiets zwischen Luchsingen, dem Walensee und dem Zürcher Obersee, Textband + Profiltafeln und Karten, Beiträge zur Geologischen Karte der Schweiz, Lieferung 169 Schorta, A. 1964: Rätisches Namenbuch, Band 2: Etymologien, Bern Weibel, V. 2011: «Die March als altes Grenzland zur Rätoromania - Mikrotoponomastik im Schwyzer Namenbuch», in: E. Meineke/ H. Tiefenbach (ed. ), Mikrotoponyme. Jenaer Symposion 1. und 2. Oktober 2009, Heidelberg: 277-88 Weibel, V. 2012: Schwyzer Namenbuch. Die Orts- und Flurnamen des Kantons, 6 Bände, Schwyz Windler, R. 2004: «Schmuck als Zeichen der Herrschaft. Grablegen des 7. Jahrhunderts in der ältesten Kirche von Tuggen», in: M. Kiek/ M. Bamert (ed.), Meisterwerke im Kanton Schwyz, Band 1: Von der Frühzeit bis zur Gegenreformation, Wabern/ Bern, 22-25 178 Gerold Hilty
