Vox Romanica
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Francke Verlag Tübingen
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Kristol De StefaniSophie Albert, «Ensemble ou par pieces». Guiron le Courtois (XIIIe-XVe siècles): la cohérence en question, Paris (Champion) 2010, 642 p.
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Peter Wunderli
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Botero García propone uno studio innovativo ed importante in merito al Tristan en prose perché riesce a mettere in luce un aspetto che fino ad ora non era stato analizzato in modo così approfondito e dettagliato: lo studio della figura del roi e del suo ruolo nei confronti della cavalleria e del cavaliere evidenzia la forte compenetrazione tra le due sfere ed una chiara dipendenza dei due ambiti, sia a livello narrativo sia in merito alle funzioni che ricoprono i rappresentanti. Sicuramente le caratterizzazioni dei re Marco e Artù sono strutturate in modo tale da fornire un quadro completo e complesso delle due figure. Nei capitoli rispettivi vengono evidenziati molti aspetti dei due protagonisti, in parte già noti, in parte invece meno conosciuti. Essi sono interessanti sia per gli studiosi del settore, sia per chi decida di affrontare un nuovo argomento di studio. I capitoli nei quali vengono trattati i personaggi minori non sono meno interessanti di quelli in cui lo studioso tratteggia Artù e Marco, perché ci permettono comunque di capire il mondo in cui sono nati e si sono sviluppati questi romans e i suoi protagonisti. Lisa Pericoli ★ Sophie Albert, «Ensemble ou par pieces». Guiron le Courtois (XIII e -XV e siècles): la cohérence en question, Paris (Champion) 2010, 642 p. Guiron le Courtois ist ein alt- und mittelfranzösischer Prosaroman, eine Art roman fleuve wie der Tristan en prose oder der Lancelot-Graal-Zyklus. Es existiert eine Fülle von Manuskripten, von denen jedoch keines mit irgend einem andern identisch ist 1 . Es gibt auch keine Gesamtausgabe des Textes, weder von der kritischen Sorte noch als Abdruck eines einzigen Manuskripts. Eine kritische Ausgabe wäre bei der gegebenen Überlieferungslage mit variablem Kern und unterschiedlichen Vortexten (Enfances) und Fortsetzungen ein Ding der Unmöglichkeit. Immerhin sind wir nicht ganz ohne gedruckte Texte: die Anthologie von Richard Trachsler kann als eine Art von Ersatzvornahme gelten 2 . Ziel der Studie von Sophie Albert ist es, die Einheit oder Vielheit, die Homogenität oder Heterogenität des Textes zu untersuchen, nachzuweisen und darzustellen: «Je voudrais interroger la cohérence des textes réunis sous le titre de Guiron le Courtois, afin de déterminer dans quelle mesure ils ont pu être lus, copiés ou composés ‹ensemble ou par pieces›». In der Introduction (9 s.) diskutiert Albert zuerst einmal die außerordentlich komplizierte und schwierige Manuskriptsituation, die Dokumente von 1235/ 40 bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts umfasst. Die Namengebung für den Text ist widersprüchlich: Bald heißt er Palamedes, bald Meliadus de Leonois, bald Guiron le Courtois; dominant ist jedoch die letzte dieser Bezeichnungen. Inhaltlich gehört Guiron le Courtois eindeutig zur matière de Bretagne, doch stehen hier Personen im Vordergrund, die in andern Texten kaum eine Rolle spielen oder überhaupt nicht vorkommen; die wichtigsten sind Guiron le Courtois, Meliadus de Leonois und der Bon Chevalier sans Peur. Die Handlung spielt vor der Herrschaft von König Artus, d. h. wir haben es mit der Zeit der Väter der eigentlichen Artushelden zu tun. Für die Darstellung des Stoffes folgt Albert der Paragraphengliederung von Roger Lathuillère in dessen richtungsweisenden Untersuchung aus den 60er Jahren 3 . Wie dieser 334 Besprechungen - Comptes rendus 1 Cf. hierzu Albert 2010: 553 s., 577 s., 633-35. 2 R. Trachsler (ed.) 2004: «Guiron le Courtois». Une anthologie, Alexandria. 3 R. Lathuillère 1966, «Guiron le Courtois». Étude de la tradition manuscrite et analyse critique, Genève. betrachtet auch sie die Handschrift B.N. fr. 350 als Basismanuskript, das (gestützt durch einige andere Handschriften) im Rahmen der heutigen Überlieferungssituation als (theoretischer) Ausgangspunkt der Zykluskonstitution angesehen darf. Der Text des Basismanuskripts zerfällt in zwei voneinander relativ unabhängige Teile: Die §1-51 umfassen den Roman de Meliadus, die §52-132 den Roman de Guiron. Nach Lathuillère haben an dem Manuskript mindestens drei verschiedene Kopisten in verschiedenen Skriptorien gearbeitet. Die Studie will neben der Handschriftenüberlieferung v. a. die fiktionalen Welten der Texte aufarbeiten, deren Struktur in hohem Maße von den ideologischen Vorgaben bzw. vom Erwartungshorizont abhängig ist. Die Untersuchung der Faktenlage (Teil 1) wird deshalb ergänzt durch eine Analyse der Normen und Modelle, die im Text zum Ausdruck kommen (der sakrale Bereich, die Liebe und die sozialen Bindungen; Teil 2) und eine Darstellung der Erkenntnisse, die mit Hilfe der juristischen Anthropologie gewonnen werden können (Teil 3). Im 1. Teil der Untersuchung sollen die Beziehungen zwischen dem Roman de Meliadus und dem Roman de Guiron aufgedeckt, die Beziehungen zwischen den Basistexten, den Vorläufertexten und den Fortsetzungen analysiert und die Frage beantwortet werden, ob der Guiron eine Fortsetzung des Meliadus ist. Hierzu werden zuerst einmal die zeitlichen Gegebenheiten aufgearbeitet. Guiron le Courtois soll angeblich das Werk eines (fiktiven) Autors namens Helie de Boron sein, der eine lateinische Vorlage im Auftrag von König Heinrich II. übersetzt und damit eine translatio studii vornimmt; der von Heinrich gewählte Titel für das Werk wäre Palamedes (32 s.). Die Zeit der Handlung ist die Zeit der arthurischen Prosaromane, zu deren Legitimierung zahlreiche Anleihen bei der Religionsgeschichte und der politischen Geschichte gemacht werden (36 s.). Den gleichen Zweck verfolgen die Rückgriffe auf die Chroniken, die eine translatio studii et imperii dokumentieren sollen, die von Babylon über Rom nach Britannien (und später nach Gallien) führt (40 s.). Was die intertextuellen Zeitrelationen angeht, so wäre Guiron le Courtois mehr oder weniger gleichzeitig mit der Handlung im Lancelot en prose anzusetzen, würde aber vor derjenigen des Tristan en prose liegen und wäre somit der «Zeit der Väter» zuzuordnen. Gleichzeitig schließt der Text zwei Lücken des Prosa-Lancelot: Er liefert die Kriege von Artus nach seiner Krönung nach und erzählt die Kindheit des Sohnes von Meliadus. Was den Roman de Guiron angeht, führt er z. T. neue, bisher in der Artusliteratur unbekannte Helden ein, die in einer neuen fiktionalen Welt agieren (54 s.); andere Figuren werden aus dem Meliadus oder andern Prosaromanen übernommen. Der wichtigste der neuen Helden ist Guiron, ein Ritter scheinbar ohne Vergangenheit. Dies verhindert allerdings nicht, dass der Roman de Guiron im wesentlichen vergangenheitsorientiert ist (während der Roman de Meliadus zukunftsorientiert war); die Vergangenheit wird aber nur häppchenweise und bruchstückhaft geliefert, wo es gerade nötig ist (so z. B. die Geschichten von Hector le Brun, Galehaut le Brun und Febus, dem Urgroßvater von Guiron). All dies hat zur Folge, dass der Roman de Guiron als eine Art geklammerter Text angesehen werden muss. Seine Bindung an die andern Prosaromane ist schwach und schwammig, die Personen haben ein offenes, nicht abgeschlossenes Schicksal, und die Vergangenheit kann nicht als autonom angesehen werden, sondern dient nur als Krücke für die Gegenwart. Die Vergangenheit ist überdies rein weltlich konzipiert und entbehrt jeglichen Rekurses auf die Bibel; überdies gibt es keine Quellen und auch keine stofflichen Autorisierungsversuche. Eine wichtige Rolle spielen in beiden Texten die Einschübe, Rückblenden etc. (85 s.). Sie sind sowohl im Meliadus wie im Guiron von ähnlicher Häufigkeit, gleichwohl aber sehr unterschiedlicher Natur. Im Meliadus haben sie anekdotischen Charakter, sind aber trotzdem oft zeitlich untereinander verbunden; sie schließen oft Lücken im Lancelot. Im Guiron gibt es keine Kohärenz unter den Einschüben, sie sind nie kausal motiviert oder zeitlich bedingt. 335 Besprechungen - Comptes rendus Da es keine Verbindung zwischen ihnen gibt, haben sie weitgehend autonomen Charakter und führen zu einer starken Fragmentierung des Textes. Das 2. Kapitel des 1. Teils ist mit Le temps du cycle überschrieben (105 s.). Hier werden nun die Übergänge und Verbindungen zwischen den beiden Teilen untersucht. Und da der fragmentarische Charakter des Roman de Guiron geradezu nach Ergänzungen ruft, werden jetzt auch die erweiterten bzw. zyklischen Manuskripte miteinbezogen. Dabei können die Ergänzungen sowohl zwischen dem Meliadus und dem Guiron eingebracht werden als auch dem Meliadus vorangehen oder an den Guiron anschließen. In der Basisversion werden zwei weitgehend heterogene Teile einfach nebeneinander gestellt. In den zyklischen Versionen dagegen wird versucht, eine Einheit zu stiften. Drei verschiedene Verfahren (z. T. miteinander kombiniert) gelangen zur Anwendung: 1. Das Ende des Meliadus wird unterdrückt. 2. Die Lücken im Guiron werden geschlossen. 3. Es wird versucht, eine Art «Identitätskarte» für Guiron zu erstellen. Dies führt allerdings verschiedentlich zu Wiederholungen und zu neuen Inkohärenzen und Widersprüchen. Das wichtigste Element ist zweifellos die Einfügung der Enfances de Guiron, die entweder in den Übergang zwischen den beiden Texten eingebracht oder aber dem Meliadus vorangestellt werden. Das zweite große Problem liefert das Ende des Guiron, das ja offenen Charakter hat: das Schicksal der Helden ist vertagt und harrt seiner Regelung. Hier finden sich nun ganz unterschiedliche Lösungen (168 s.). Die Basisversion von B.N. fr. 350 mündet nach der Wiederaufnahme des Meliadus in die Prophéties de Merlin; die Kompilation von Rustichello da Pisa geht über in den Tristan en prose; und die Handschrift B.N. fr. 362 bemächtigt sich des Lancelot en prose. Diese Anschlüsse sind je nachdem genealogisch oder biographisch basiert. Wie die Handschrift B.N. fr. 112 zeigt, sind damit aber noch keineswegs alle Möglichkeiten ausgeschöpft (182 s.). Im 2. Teil der Studie, der dem Ordre des valeurs gewidmet ist (191 s.), geht es darum, die unterschiedlichen ideologischen Determinationen der Texte herauszuarbeiten, wobei sich Verf. auf den Roman de Meliadus und den Roman de Guiron der Basisversion beschränkt. Die für die Würde und die Identität des Adels relevanten Parameter sind seit dem 12. Jh.: 1. der religiös-sakrale Bereich; 2. die sozialen Beziehungen bzw. Bindungen; und 3. die höfische Liebe (193 s.). Da sich die Kirche zu einer Art Graalshüterin des Sakralen aufgeschwungen hat, kommt es zu einem Spannungsverhältnis zwischen dem sakralen und dem profanen Bereich, denn der erstere ist nur durch die Vermittlung des Klerus erreichbar. Das Rittertum versucht sich nun von dem klerikalen Mittlertum zu befreien. König und Rittertum einerseits, der Klerus andererseits treten zueinander in Konkurrenz. Das Streben des Adels nach direktem Zugang zum Sakralen schlägt sich u. a. in den Graalsromanen nieder. Sowohl der Meliadus als auch der Guiron sind nun aber eindeutig keine Graalsromane; das Sakrale spielt in ihnen überhaupt keine Rolle. Was die sozialen Beziehungen angeht, so stehen hier drei Typen zu einander in Konkurrenz: die Blutsverwandschaft, die Verwandtschaft aufgrund von Heirat, und die «künstlichen» Verwandschaften wie Vassallentum, Freundschaft, Kameradschaft usw. Im Bereich der Liebe stehen Ehe und fin amor zueinander in Konkurrenz. In Kapitel 3 wird dann die Situation im Meliadus bezüglich der Rolle der Helden und der Modelle analysiert (201 s.). Im Vorspann zum Meliadus, in dem es um die translatio imperii (heidnischer Orient → christlicher Okzident) geht, stehen Esclabor und Palmedes für eine rein diesseitige Weltsicht. Galaad und Perceval dagegen repräsentieren ein sakrales Ideal, Tristan dasjenige der fin amor. Palamedes erscheint so fast als eine Figur der chanson de geste. Die Esclabor-Episode am Anfang des Meliadus kann als eine Antwort auf den Tristan und die Graalsromane gelesen werden. Sowohl die Liebe als auch das Sakrale habe in ihr keinen Platz; das vertretene Leitbild ist vielmehr dasjenige der Tapferkeit (prouesse) im Rahmen einer friedlichen Koexistenz und Kooperation von Königtum und Rittertum. 336 Besprechungen - Comptes rendus Dieses kriegerische und feudale Ideal geht auf die chanson de geste zurück, was auch dadurch dokumentiert wird, dass Karl Meliadus noch post mortem krönt (246 s.). Meliadus wird dadurch Karl ebenbürtig und - da er Artus rettet - v. a. diesem übergeordnet. Von zentraler Bedeutung ist auch die Tatsache, dass die Krönung von Meliadus nicht aufgrund eines ererbten Anspruchs erfolgt, sondern dieser von Karl auserwählt wird: Die entscheidende Größe ist somit die Wahlerwandtschaft, nicht die Blutsverwandtschaft (254). Allerdings ist Meliadus nicht makellos: Seine Affäre mit der Königin von Schottland führt zum Krieg mit Artus; Meliadus spielt hier eine ähnliche Rolle wie Paris im Trojaroman. Fazit dieses Untersuchungsteils: Der Meliadus verarbeitet verschiedene Modelle, die in der Regel umfunktioniert werden; er stellt eine romanhafte Umsetzung der Rebellenepen dar, wobei die Handlung mit der Liebesgeschichte unterfüttert wird (271). Eine ähnliche Analyse wird in Kapitel 4 für den Guiron vorgelegt (273 s.). Hier liegt in erster Linie ein Spiegel der Vergangenheit vor, der über eingebettete Erzählungen realisiert wird. Das zweite zentrale Thema ist die Schlechtigkeit der Frauen, das in einen eigentlich misogynen Diskurs mündet. Zudem werden alle sozialen Bindungen in Frage gestellt außer den Männerfreundschaften. Die Sicht der Frauen und der höfischen Liebe im Guiron wird aufgrund einer langen Liste von Beispielen biblischer und nicht-biblischer Provenienz illustriert (316 s.): Die Weiber sind prinzipiell böse, die Helden immer die Betrogenen. Die Misogynie bekommt hier ein Gewicht wie z. B. im Roman des Sept Sages. Detailliert untersucht werden die Fälle des Morholt d’Irlande, von Pharamond und von Meliadus; sie können als negative Exempla gelten, die die Frau regelmässig als die geborene Lügnerin erscheinen lassen. Die im Meliadus noch verschleierte Kritik an der Liebe wird so im Guiron zu einer generellen Kritik an der Frau. Ein weiteres zentrales Thema ist die Nicht-Anerkennung der Leistung des Helden nach seinen Abenteuern durch den König und den Hof (344 s.), die sich dadurch regelmässig selbst abwerten. Die Beziehung zwischen König und Hof einerseits, den Helden andererseits erweist sich somit als grundsätzlich gestört; die Hierarchie funktioniert nicht mehr. Damit sind nicht nur die Liebesbande, sondern auch die sozial-hierarchischen Bindungen in Frage gestellt. Demgegenüber werden Freundschaft und Kameradschaft (compagnonnage) idealisiert: Die Männerfreundschaft steht über der Liebe, die Wahlverwandtschaft über der Blutsverwandtschaft und den dynastischen Gegebenheiten (399 s.). Der 2. Teil der Untersuchung schließt mit einem ausführlichen Resümee (401 s.). Im Meliadus steht das Scheitern der Liebesbeziehung im Zentrum, im Guiron dagegen der misogyne Diskurs. Im Meliadus geht es um vertikale soziale Bindungen, sowohl um das Verhältnis Vater/ Sohn 4 als auch um das Verhältnis König/ Ritter; im Guiron stehen horizontale Beziehungen wie Freundschaft und Kameradschaft im Vordergrund. In beiden Texten werden diese Bande auch problematisiert: im Falle des Meliadus v. a. die Beziehung Artus/ Meliadus, im Guiron das Verhältnis Guiron/ Danain. Im Meliadus geht es v. a. um König und Hof, d. h. das Zentrum der Gesellschaft, im Guiron dagegen um den gesellschaftlichen Randbereich der fahrenden Ritter. Beiden Texten gemeinsam ist, dass sie eine essentiell irdische Welt zur Darstellung bringen, in der der Stand der Krieger das Sagen hat. Der mystische Bereich (Graalsromane) und die passion d’amour entfallen ganz oder werden zumindest marginalisiert. Der dritte Teil der Untersuchung ist dem Ordre des guerriers gewidmet (403 s.) bzw. der Darstellung des Ritterstandes im Guiron le Courtois. Dieser wird immer wieder von internen als auch externen Krisen erschüttert, die aber das positive Ergebnis erbringen, dass eine 337 Besprechungen - Comptes rendus 4 Wobei der Sohn in allem immer noch um einen Schlag besser ist als der Vater. Im Guiron hat dagegen diese teleologische Sicht der Generationenabfolge keine Gültigkeit mehr. Neudefinition möglich wird nach dem Schema ordre initial → perturbation/ péripétie → nouvel ordre 5 . Die Krisen schlagen sich in einer langen Folge von Kämpfen nieder, die einerseits zur Kategorie der Rache gehören, andererseits zu derjenigen der mauvaises coutumes. Albert will zuerst einmal das Rachesystem im Guiron le Courtois mithilfe der juristischen Anthropologie aufarbeiten. Nach deren Erkenntnissen ist die Rache auch in primitiven Gesellschaften keineswegs chaotisch, sondern streng kodifiziert; sie kennen kein zentralisiertes Rechtswesen, und dies gilt genauso für die mittelalterliche Gesellschaft. Auch hier muss es also Grenzen der Rache geben, und diese Grenzen sind durch die Verpflichtung von Kirche und König zur Friedenserhaltung gegeben. Für die Darstellung der Rache im Guiron le Courtois läßt Albert die vengeance immédiate unberücksichtigt und konzentriert sich auf die vengeance déférée. Sie beginnt mit einer eher dürftigen lexikalischen Untersuchung der Racheterminologie 6 (416 s.). Die weitere Untersuchung ergibt, dass die Rache oft an die Erfüllung bestimmter Bedingungen geknüpft ist, dass es hinsichtlich der Rache nur geringe Unterschiede zwischen dem Roman de Meliadus und dem Roman de Guiron gibt, und dass die Vergebung im Racheritual eine wichtige Rolle spielt und als legitime Methode der Konfliktlösung zu gelten hat. Diese ist allerdings nie kirchlich-religiös motiviert und erfolgt auch nicht aufgrund einer königlichen Intervention; in der Regel reichen die mahnenden Worte eines andern Ritters aus, um die Situation zu bereinigen. Verf. sieht darin (wohl zu Recht) eine Reaktion des Rittertums gegen das von den Königen angestrebte zentralisierte Rechtswesen; das Rechtsverständnis wäre im Guiron le Courtois reaktionär und anachronistisch. Rache unter Rittern ist äußerst selten durch Mord, Totschlag usw. bedingt, sondern in aller Regel durch Ehebruch oder Frauenraub, die dem Rächer zur Schande gereicht haben. Der Konflikt endet aber regelmäßig mit einem Gnadenakt. Der Unterschied zwischen dem Meliadus und dem Guiron besteht darin, dass im ersten Fall die betroffene gesellschaftliche Beziehung in der Regel vertikaler, im zweiten dagegen horizontaler Natur ist (450 s.). Es gibt aber Rache nicht nur innerhalb des Adels, sondern auch zwischen einem Vertreter des Adels und einem außerhalb dieser Klasse Stehenden. Da wären zuerst einmal die Riesen und Heiden, deren Vergehen aber regelmäßig Mord und nicht eine auf Ehebruch beruhende Ehrabschneidung ist. Obwohl die Riesen keine Gesellschaft bilden, verhalten sie sich im Rahmen des Racheprozesses in der Regel ritterlich; die fahrenden Ritter sind ihnen aber ontologisch überlegen und gehen deshalb als Sieger aus dem Konflikt hervor (451 s.). Weiter spielen bei den Rachegeschichten fremde (heidnische) Ritter eine wichtige Rolle. Die Gegebenheiten entsprechen im wesentlichen denjenigen bei den Riesen, doch werden die fremden Ritter durchwegs positiver dargestellt. Zusammenfassend kann bezüglich der Rache eine deutliche Konvergenz des Roman de Meliadus und des Roman de Guiron festgestellt werden: Der gute Ritter ist überlegen und zur Vergebung fähig, eine Eigenschaft, die den «Andern» abgeht. Zwischen den beiden Texten gibt es insofern einen Unterschied, als im ersten Fall der König als ein Teil des Rittertums gesehen wird, im zweiten dagegen außerhalb desselben steht. In beiden Teilen ist der Diskurs rückwärtsgewandt, dezidiert reaktionär. Bleibt noch der Bereich der bösartigen Institutionen (mauvaises coutumes), d. h. der Prüfungen, die den fahrenden Rittern bei Brücken, Toren, Burgen usw. auferlegt werden 338 Besprechungen - Comptes rendus 5 Cf. hierzu auch P. Wunderli 2010: «Krise und Krisenbewältigung als ein Grundmuster der altfranzösischen Epik», in: E. Schafroth/ C. Schwarzer/ D. Conte (ed.), Krise als Chance aus historischer und aktueller Perspektiv/ Crisi e possibilità. Prospettive storiche e attuali, Oberhausen: 15-45. 6 Als Kontrollinstanz wird einzig der Godefroy herangezogen; T-L, DEAF, TLF, DMF usw. bleiben unberücksichtigt. (481 s.). Die Grenzen zur Rache sind oft unscharf; generell gilt aber, dass sich die Rache zwischen den Polen Vergehen und Vergeltung abspielt, bei den mauvaises coutumes dagegen die Pole Institutionalisierung und Aufhebung den Rahmen abgeben. Die ausgedehnte Untersuchung führt zu dem Ergebnis, das im Lancelot, im Tristan und im Meliadus die mauvaises coutumes ein Fehlverhalten von Uterpandragon oder Artus sühnen, im Guiron dagegen an eine der Heldentaten von Galehaut le Brun erinnern. Galehaut ist allerdings ein neuer Heldentyp, charakterisiert durch Hybris und Maßlosigkeit, was zur Einrichtung von Institutionen von extremer Schädlichkeit führt. Gleichwohl wird er im Guiron hierfür nie kritisiert. Die continuateurs dagegen versuchen diese Exzesse abzumildern und das alte Wertsystem wieder herzustellen, indem sie in Zusatzepisoden den Störfaktor Galehaut neutralisieren (535). In einer Conclusion fasst dann Verf. die Ergebnisse ihrer Untersuchung nochmals zusammen (537-43). Ich verzichte hier darauf, bereits erwähnte Teilergebnisse nochmals aufzuführen und beschränke mich auf das Wesentliche. Der Guiron le Courtois stellt keine Einheit dar, es handelt sich vielmehr um eine Art Kompilation par pieces, die ideologisch uneinheitlich ist. Zwar sind der Roman de Meliadus und der Roman de Guiron in sich selbst jeweils kohärent, nicht aber untereinander. Die wichtigsten Unterschiede betreffen das Verhältnis von König und Ritterstand einerseits und die Sicht der Frau und des amour courtois andererseits. Im Meliadus ist der König Teil des Ritterstandes und definiert sich über sein Verhältnis zu den Helden; im Guiron steht er dagegen außerhalb des Ritterstands (und damit des sozialen Gefüges) und ist somit letztlich überflüssig. Die Ritter regeln im Guiron ihre Konflikte selbst, und sie «beerben» den König auch als Begründer von coutumes. Was die höfische Liebe angeht, so wird sie im Meliadus als Störfaktor der sozialen Ordnung und als zum Scheitern verurteilt gesehen; dies führt aber nicht zu einer misogynen Grundhaltung, denn für die Liebesleidenschaft ist der Mann verantwortlich. Im Guiron dagegen ist der Grundtenor radikal misogyn: die Frau ist der Ursprung allen Übels. Aber die beiden Teile der Basisversion sind nicht nur ideologisch, sondern auch erzähltechnisch sehr verschieden. Im Meliadus haben wir es mit einer einzigen großen Krise zu tun, im Guiron mit einer Vielzahl von Anekdoten zu einem Thema, was zu einem exemplarischen Stil nach klerikalem Muster führt. Die remanieurs versuchen nun diese Unterschiede zu glätten indem sie die Texte der Basisversion modifizieren, ihnen die enfances des Titelhelden vorschalten und das offene Ende des Guiron zum Abschluss bringen. Die Ambiguität der Person von Galehaut le Brun wird im positiven oder negativen Sinn vereinheitlicht. Sowohl die beiden Teile der Basisversion als auch jede der Bearbeitungen haben aber ihren eigenen Stellenwert und sind gekennzeichnet durch eine eigene ideologische und erzählerische Position; sie stehen jeweils für einen eigenständigen Diskurs innerhalb eines Netzes von Diskursen. Die durch den Titel suggerierte Einheit löst sich so in jeder Hinsicht in eine Vielheit auf. Gleichwohl gibt es ein Band, das sie zusammenhält: Es ist die Tatsache, dass sie ein rein weltliches und ritterliches Wertesystem propagieren, das sowohl mit der theologisch-sakralen Fiktion der Graalsromane als auch mit der monarchistischen Fiktion des Lancelot en prose bricht (und, müsste man hinzufügen, auch mit der Fiktion der höfischen Liebe des Tristan). Guiron le Courtois ist in allen seinen Ausgestaltungen dezidiert ritterlich und in seiner Distanznahme zu der Entwicklung der zeitgenössischen kapetingischen Monarchie betont konservativ, ja ich würde sogar sagen: auf fundamentalistische Weise reaktionär. Er steht für ein Rittertum, das auf jegliche Transzendenz verzichtet, er steht für die «descente des valeurs du ciel sur la terre» (Le Goff). Was die Bewertung der Studie von Sophie Albert angeht, so kann sie ohne Einschränkung als außerordentlich sorgfältig und solide bezeichnet werden; ihre Resultate sind inhaltlich überzeugend und erlauben erstmals eine systematische Positionierung des Textes 339 Besprechungen - Comptes rendus innerhalb der Fülle von alt- und mittelfranzösischen Prosaromanen. Weniger überzeugend ist dagegen die Arbeit von ihrer Form her. Einmal ist sie von einer für französische thèses typischen und oft geradezu nervenden Langfädigkeit. Sie wimmelt von Wiederholungen und besteht fast zur Hälfte aus Zitaten und Zusammenfassungen; die Resultate hätten auch auf maximal zwei Dritteln der rund 640 Seiten erbracht werden können. Dann ist die Lektüre der Studie auch außerordentlich mühsam. Der Leser verliert oft den Überblick, weiß nicht mehr, auf welches Manuskript, welche Version, welchen Text sich Verf. gerade bezieht und muss aufwendig im Text selbst oder im sechsseitigen Inhaltsverzeichnis nachschlagen. Dieses macht auf den ersten Blick übrigens einen wohlgeordneten Eindruck, erweist sich bei der textuellen Umsetzung aber als wenig brauchbar. Mir ist und bleibt schleierhaft, weshalb Mediävisten und Literaturwissenschaftler sich so verbissen einer Dezimalgliederung verweigern. Und dann ist da noch die Bibliographie (577-620), die zwar als ausführlich und solide bezeichnet werden kann, für den Leser aber weitgehend unbrauchbar bleibt: Die Einträge sind nach einem komplizierten, keineswegs immer durchsichtigen System thematisch geordnet; wer einen Titel sucht, findet ihn mit Garantie nicht auf Anhieb. Eine rein alphabetische Ordnung wäre für den Bereich der Studien, Aufsätze, Handbücher usw. weit nützlicher gewesen. Gleichwohl: eine wertvolle, beachtenswerte Arbeit! Peter Wunderli ★ Frédéric Duval, Dire Rome en français. Dictionnaire onomasiologique des institutions, Genève (Droz) 2012, 469 p. (Publications Romanes et Françaises cclvii) Cet ouvrage est le produit d’une recherche que Frédéric Duval mène depuis plusieurs années sur les textes médiévaux - des traductions, mais non seulement - afin de cerner le lexique relatif aux realia de la Rome antique; sont présentés ici les résultats relatifs à un domaine particulier, rattaché aux institutions romaines, entendues comme «l’ensemble des structures politiques et sociales établies par la loi ou la coutume et qui régissent un État donné» (24). Il est introduit par une quarantaine de pages éclairantes qui font le point sur l’objet («Pourquoi ce dictionnaire? », 9-20), et sur le recueil des données et leur traitement («Méthode suivie», 21-42). Une réflexion théorique préliminaire s’impose en effet, l’étude du lexique médiéval sur la Rome ancienne exigeant la prise en compte d’une double dimension chronologique: la distance qui séparait les auteurs du Moyen Âge des «anciens» Romains, et celle qui nous sépare, nous lecteurs du XXI e siècle, du monde latin d’un côté, du Moyen Âge français de l’autre; ces écarts ne peuvent qu’influer sur notre approche du lexique - latin ou français - et des concepts que ces mots sont censés véhiculer: ils exigent aussi, de la part de l’auteur d’un tel vocabulaire, des compétences et une sensibilité linguistique rares. Quant aux mots retenus, F. Duval a dû s’imposer une sélection dont il rend compte également dans les pages liminaires: la délimitation porte sur la chronologie du lexique considéré (institutions des origines de Rome jusqu’à la seconde moitié du VI e siècle), sur le corpus des textes français dépouillés (traductions et œuvres originales allant du début du XIII e siècle à ca 1500, énumérées aux p. 26-30, auxquelles s’ajoutent des bases textuelles: DMF et Corpus de littérature médiévale, Garnier électronique), ainsi que sur les concepts traités (183 au total: liste aux p. 461-63); ceux-ci sont organisés en quatre grandes sections: I. Exercice suprême du pouvoir, II. Organes de gouvernement, III. Peuple romain, IV. Statut des terres et de leurs habitants. La macrostructure comprend donc des concepts, suivis des «possibles lexicaux» permettant de les exprimer en français (35); la microstructure introduit d’abord l’entrée en latin 340 Besprechungen - Comptes rendus
