Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2013
721
Kristol De StefaniJean Lemaire de Belges, Lettres missives et épîtres dédicatoires. Édition critique par Anne Schoysman, Bruxelles (Académie Royale de Belgique) 2012, 310 p. (Anciens auteurs belges 17)
121
2013
Arnold Arens
vox7210346
Die Actes ermöglichen dem Leser einen hochinteressanten, kaleidoskopartigen Blick in die Welt der «Bücher und Bibliotheken» 7 aus den dreihundert Jahren vor dem 19. Jahrhundert. Es wird deutlich, dass die französische Romantik das Mittelalter keineswegs einer jahrhundertelangen Phase der Vergessenheit entreißen und von Grund auf neu «erfinden» musste. Vielmehr präsentierte sich schon damals dieser Zeitraum als ein objet patiemment construit, de la fin du XV e à la fin du XVIII e siècle, au croisement de l’enquête érudite sur les origines de la monarchie et les débuts de la langue française, de l’intérêt mondain pour la vie et les mœurs des chevaliers et de la curiosité pour une époque tantôt représentée comme un âge ténébreux et barbare, tantôt associée à la nostalgie d’un «bon vieux temps» (4. Umschlagseite). Eine bis heute immer wieder noch anzutreffende literar- und kulturhistorische Lehrmeinung ist also gehörig zu revidieren. Wie schon angedeutet wurde, ist das professionelle Niveau der gesamten Publikation durchgängig hoch. Man kann sich gut vorstellen, dass Kenner sie als willkommene Information über den state of the art ihres Arbeitsgebiets nutzen werden. Nicht-Spezialisten müssen bei der - bereichernden - Lektüre einige Hürden nehmen, wobei ihnen die ausgezeichnete Einleitung der Herausgeberinnen (7-31) den Weg weisen kann. Natürlich gibt es auch bei einer gelungenen Arbeit hier und da Anlass zur Kritik. Auffällig sind z. B. einige terminologische Unklarheiten (warum wird eigentlich der terminus a quo im Titel als «fin du Moyen Âge» bezeichnet? ) und Ungereimtheiten (weshalb werden das 17. und das 18. Jahrhundert als «âge classique» (Table des matières, 548) zusammengefasst? ), auch hätte man sich über eine Erklärung zur ungleichen Zahl der Beiträge zu den einzelnen Jahrhunderten gefreut (hat die Tatsache, dass das 17. Jahrhundert am schwächsten vertreten ist, nur «technischorganisatorische» Gründe? ). Aufzählungen dieser Art ließen sich zwar fortsetzen, würden aber am positiven Gesamteindruck nichts ändern. Trotz der unübersehbaren Fülle von Untersuchungen gerade zum Zeitraum des 16. bis 18. Jahrhunderts gibt es dort immer noch wenig beachtete Forschungsfelder - von nicht geringen Dimensionen -, die genauer zu erkunden es sich lohnt. Dies eindrucksvoll vor Augen zu führen, ist nicht das geringste Verdienst der Publikation von Michèle Guéret-Laferté und Claudine Poulouin. Egbert Kaiser ★ Jean Lemaire de Belges, Lettres missives et épîtres dédicatoires. Édition critique par Anne Schoysman, Bruxelles (Académie Royale de Belgique) 2012, 310 p. (Anciens auteurs belges 17) Jean Lemaire de Belges, der 1473 in Bavay im Hennegau 1 geboren wird und nach 1518 in Paris stirbt, ist ein bekannter Humanist der Frührenaissance. Er ist einerseits Dichter, bekleidet andererseits aber auch wichtige Ämter im Dienst verschiedener Fürsten. In die Dichtkunst wird er durch seinen Onkel Jean Molinet eingewiesen, der Bibliothekar des Herzogs von Burgund ist. Er beginnt als Lyriker im Stil der «grands rhétoriqueurs». Sein Name ist vor allem verbunden mit dem seinerzeit viel gelesenen, in drei Büchern erschie- 346 Besprechungen - Comptes rendus 7 Cf. den klassischen Titel von Richard Mummendey, Von Büchern und Bibliotheken, 1. Aufl. Bonn 1950, 5. Aufl. Darmstadt 1987. 1 Oder, nach anderen Quellen, in Hargnies oder in Belges, ebenfalls im Hennegau. nenen Werk Les illustrations de Gaule et singularités de Troye (1511-13). Mit seinen «épîtres» bereitet er Clément Marot und Pierre de Ronsard vor. Seine diplomatische Karriere beginnt Lemaire 1498 als «clerc de finances» im Dienst von Peter II. von Bourbon. 1504 tritt er in den Dienst der Herzogin von Savoyen und Gräfin von Burgund, Margarete von Habsburg, der Tochter Kaiser Maximilians und der Maria von Burgund. Nachdem deren Ehemann, Herzog Philibert der Schöne von Savoyen, am 10.9.1504 gestorben war, beschließt sie noch 1505, «d’ériger un monastère et une nouvelle église avec deux tombeaux, ceux du duc Philibert et de sa mère, Marguerite de Bourbon» (18) in dem nahe bei Bourg-en- Bresse gelegenen Brou (Savoyen). Dieses Projekt wird erst 1532, zwei Jahre nach Margaretes Tod, fertiggestellt; es ist «un des plus beaux monuments du début du XVI e siècle» (14). Margarete aber «[n’a jamais vu] l’avancement de la restauration du monastère, ni la construction de la nouvelle église [à Brou]» (18). Denn nach dem Tod ihres Bruders Philipp des Schönen (25. 9. 1506), König von Kastilien und Herr der burgundischen Niederlande, wird Margarete 1507 von ihrem Vater Maximilian als Regentin der Niederlande bestellt, da Philipps Sohn, der zukünftige Karl V, zu diesem Zeitpunkt erst sechs Jahre alt ist. Margarete verlegt sofort ihre Residenz von Savoyen nach Malines (Mechelen) und übt die Regentschaft über die Niederlande bis zu ihrem Tod aus. Die von den Regierungsgeschäften in den Niederlanden voll in Anspruch genommene Regentin kann das Projekt in Brou nicht selbst beaufsichtigen. Da ihr aber sehr an dessen Realisierung gelegen ist, bedarf sie für die Überwachung des Bauvorhabens einer zuverlässigen Person und diese findet sie in Lemaire. Dieser hat sich schon 1504 dem Haus der Margarete von Habsburg angeschlossen und übernimmt 1508, ein Jahr nach dem Tod seines Onkels Jean Molinet, von diesem «la charge d’indiciaire et historiographe de Bourgogne» (13). 1512 tritt Lemaire dann in den Dienst der französischen Königin Anne de Bretagne und wird 1513 Historiograph des Königs Ludwig XII. «Lemaire se sent mieux accueilli en France et en Bourgogne que dans les Pays- Bas bourguignons, où il est au centre de conflits» (15). Eine so einflussreiche Persönlichkeit wie Lemaire steht natürlich in Verbindung mit den bedeutenden Personen des literarischen, politischen und künstlerischen Lebens seiner Zeit und korrespondiert mit diesen. Und die Edition dieser Korrespondenz ist nun auch die Aufgabe der hier anzuzeigenden Publikation. Für diese Arbeit ist die Herausgeberin Anne Schoysman, Professorin an der Universität Siena, geradezu prädestiniert. Sie ist eine ausgewiesene Spezialistin auf dem Gebiet der Sprache und Literatur des Mittelfranzösischen und der Renaissance; mit Jean Lemaire und seinem Werk hat sie sich bereits seit langem intensiv beschäftigt und dazu schon mehrere Veröffentlichungen vorgelegt (cf. «Bibliographie» 300). Außerdem hat sie bereits textkritische Editionen von Lemaires Werken La légende des Vénitiens (1509) und Chronique de 1507 2 erstellt. Wie Schoysman sagt, ist es Pierre Jodogne, «qui m’a fait découvrir cette source de la grande prose française (= la correspondance de Jean Lemaire)» und der ihr ein Dossier zur Verfügung gestellt hat, «où l’inventaire et la transcription de nombreuses lettres étaient déjà bien avancées» (12). Dabei ist allerdings festzuhalten, dass die ersten Editionen von Briefen Lemaires bereits auf das 19. Jahrhundert zurückgehen (A. Le Glay, J. Stecher) und dass die Untersuchungen des 20. Jahrhunderts «ont apporté d’utiles mises au point sur la correspandance» (24-25). Da die Briefe «rassemblées dans ce volume sont de différentes natures» (9) und sich «deux types de lettres bien différents, sur le plan formel et sur le plan substantiel» (10) unterscheiden lassen, setzt sich die Textausgabe, wie es auch schon deren Titel anzeigt, aus zwei 347 Besprechungen - Comptes rendus 2 Erschienen in der von der Académie Royale de Belgique in Brüssel herausgegebenen Reihe «Anciens auteurs belges». Das erstgenannte Werk erschien als Nummer 9, das zweitgenannte als Nummer 10 der Reihe. Teilen zusammen, denen noch ein kurzer Annex folgt. In dem ersten Teil (49-147) werden insgesamt 25 «lettres missives» ediert. Es sind dies Briefe «envoyées et non destinées à l’impression» (10), die man als Korrespondenz im heutigen Sinn des Wortes bezeichnen kann. 12 dieser Briefe, ausnahmslos von Lemaire geschrieben, basieren auf autographen Manuskripten und bieten damit «une des premières correspondances autographes d’écrivain» (14). Inhaltlich lassen sich die 25 «lettres missives» in zwei Gruppen gliedern. Zum einen handelt es sich um acht Briefe 3 , die Lemaire und der deutsche Mediziner und Philosoph Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486 in Köln geboren, 1535 in Grenoble gestorben), den Lemaire 1509 in Dole kennenlernt, im Jahre 1509 austauschen 4 . Diese Briefe enthalten Elogen über die rednerischen Fähigkeiten und die Weite der Kenntnisse des jeweiligen Adressaten. Die hier vorgelegte Edition dieser Briefe basiert auf einer aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stammenden Textausgabe. Zum anderen sind es 17 Briefe, die «reflètent les relations de Lemaire avec Marguerite d’Autriche et l’administration bourgignonne» (37). Es werden hier nicht nur Briefe Lemaires, sondern auch drei Briefe der Margarete an ihn ediert. Die Briefe Lemaires sind einerseits an Margarete von Habsburg, andererseits aber auch an hohe Funktionsträger ihres Hofes gerichtet 5 . Diese 17 Briefe enthalten zum einen Lemaires Bemühen, seine eigenen Werke anzupreisen (M 1, 6, 13, 16 u. a.). In M 3 bittet er Margarete darum, seinen Wohnsitz nach Dole verlegen zu dürfen «a cause de l’estude et université» (61), um dort «quelque lieu solitaire» (63) zu finden. Zum anderen befassen sich die Briefe der Jahre 1510, 1511 und 1512 (M 14-25) nahezu ausschließlich mit dem Bauprojekt in Brou. Hier erlaubt sich «l’indiciaire un ton de confidence qui transforme les communications exigées par sa charge en pages très personnelles» (15). So fordert er wiederholt seine Bezahlung (M 14, 15, 16, 19 u. a.) oder eine bessere Behandlung ein (M 15). Und mit größter Virulenz reagiert er in dem längsten hier edierten Brief (M 15) auf den Vorwurf Margaretes, nicht den richtigen Alabaster für die zwei Gräber in Brou ausgewählt zu haben. Zum literarischen Wert der «lettres missives» ist festzustellen, dass «Lemaire nous offre un des tout premiers exemples de la lettre moderne, affranchie du modèle épistolaire médieval» (16) und dass er sich mit ihnen als wahrer Schriftsteller präsentiert. Editionstechnisch geht Schoysman so vor, dass sie jedem edierten Brief die Angabe des Manuskripts und/ oder der Edition(en) sowie der Untersuchungen über den betreffenden Brief voranstellt. Jeder Brief ist mit einer Vielzahl von Anmerkungen versehen, in denen etliche sprachwissenschaftliche und insbesondere biographische sowie historische Kommentare zu den im Text erwähnten Personen gemacht werden. Gerade die Anmerkungen mit ihrer nahezu überbrodelnden Fülle an Informationen machen den besonderen Wert der Edition aus. Sie zeigen überdeutlich, dass hier eine ausgewiesene und bestens informierte Kennerin der Materie am Werk war. Im zweiten Teil (149-233) werden 14 «épîtres dédicatoires» herausgegeben. Im Gegensatz zu den handschriftlich gefassten «lettres missives» sind dies gedruckte Widmungsschreiben «confiées à la diffusion imprimée des œuvres de l’écrivain» (10). In ihnen widmet nämlich Lemaire eines seiner Werke einer Person. Während die «lettres missives» Lemaires Beziehungen mit Margarete von Habsburg und der burgundischen Verwaltung wiederge- 348 Besprechungen - Comptes rendus 3 Es sind dies die Briefe M (= lettre missive) 4-5 und 7-12 der Edition. 4 Offenbar subtrahiert Schoysman diese acht Briefe von den insgesamt 25 hier edierten und sagt dann: «Nous en (= lettres missives) conservons une quinzaine» (9). Diese Feststellung ist ungenau. Denn auch die acht Briefe Lemaire - Agrippa gehören eindeutig zur Gruppe der «lettres missives». 5 Schoysman behauptet zwar, sie ediere auch Briefe, «que Marguerite et ses officiers lui (= à Lemaire) adressent» (13). Auch dies ist unrichtig. In der Edition findet sich kein einziger Brief eines «officier» an Lemaire. ben, «les lettres ou ‹épîtres› dédicatoires, imprimées, témoignent généralement de ses relations avec des Français» (37). In ihnen offenbart sich die intellektuelle Welt Lemaires. Die Widmungsschreiben werden gern in Latein abgefasst (fünf der 14 hier edierten Schreiben sind in Latein geschrieben), denn «le latin est préféré pour les lettres de dédicace adressées aux humanistes» (38). Und sie sind immer «partie intégrante du paratexte des éditions imprimées» (39). Es ist richtig, wenn Schoysman als Kriterium für die Aufnahme von Texten in diesen Editionsteil das Vorhandensein einer Adresse und eines Datums zugrunde legt. Und man kann ihr nur zustimmen, wenn sie sagt: «Les lettres imprimées en prose, avec adresse et datées, ne sont . . ., à côté des lettres manuscrites, que l’une des facettes de l’écriture épistolaire . . . au début du XVI e siècle» (40). Editionstechnisch verfährt die Herausgeberin in diesem zweiten Teil wie im ersten: Jedem edierten Brief werden bibliographische Angaben vorangestellt, hier noch ergänzt durch die sehr informative Rubrik «Circonstances de la publication». Und jeder Brief wird auch hier begleitet von ausführlichen und äußerst gehaltvollen Anmerkungen. Der Annex (235-44) enthält zwei in Latein geschriebene Briefe des aus Toulouse stammenden Humanisten Jean de Pins (1470-1537), den Lemaire wahrscheinlich im Jahre 1509 in Lyon kennen lernte. Diese Briefe sind an «Maior» adressiert, in dem Schoysman und andere mit gutem Grund Lemaire erkennen wollen. «Ce sont des lettres d’éloge rédigées dans un latin extrêmement ornatus, des officia, ces services que se rendent les humanistes en se citant et se célébrant les uns les autres» (11). Es handelt sich hier also um eine «fonction toute particulière (de l’)art épistolaire» (11). Der Textausgabe sind vorangestellt ein kurzes «Avertissement» (9-11) und eine ausführliche «Introduction» (13-48), die detailliert über die unterschiedlichen Arten der hier edierten Briefe informiert und dazu alle notwendigen Angaben macht. In dem innerhalb der Einleitung stehenden Abschnitt «Note philologique» (40-48) werden im Wesentlichen die Editionsprinzipien dargelegt. Es folgen der Edition die «Liste chronologique des lettres» (245-9), ein umfassendes «Glossaire» (251-75), das richtigerweise nur «les formes disparues ou celles dont le sens ou l’emploi grammatical diffèrent de l’usage du français contemporain» (251) verzeichnet, ein «Index des noms propres» (277-84), eine sehr umfassende und systematisch gegliederte «Bibliographie» (285-305) und schließlich die «Table des matières» (307-10). Zusammenfassend kann ich feststellen, dass Schoysman eine ausgezeichnete Textausgabe vorgelegt hat, für die man ihr dankbar sein kann. Besser kann man es nicht machen! Arnold Arens ★ Marie Anne Polo de Beaulieu (ed.), Formes dialoguées dans la littérature exemplaire du Moyen Âge. Actes du colloque, Paris (Champion) 2012, 494 p. (Colloques, congrès et conférences sur le Moyen Âge 14) La presente raccolta costituisce una nuova testimonianza di come il carattere esemplare della letteratura sia oggi uno dei campi di studio più proficuamente indagati della medievistica: l’attenzione ormai pluridecennale ad esso dedicata consente di accedere ai risultati di un vasto lavoro di scavo storico 1 , una sintesi dei quali è qui fornita da Jean-Claude Schmitt, 349 Besprechungen - Comptes rendus 1 Sostanziato tra l’altro in numerose raccolte di saggi analoghi a quella qui presa in esame: J. Berlioz/ M. A. Polo de Beaulieu (ed.) 1992: Les Exempla Médiévaux: introduction à la recherche,
